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Miss Jupiter
In meiner Fantasie ist er Captain Dynamite und ich Miss Jupiter. Zusammen springen wir über Hochhäuser, bekämpfen das Böse, lieben uns im Freien und ich trage eine hautenge Latexhose, die mir passt. Wir sind richtig tolle Superhelden.
Nur ab und zu, wenn Langeweile aufkommt, rasieren wir Zicken die Augenbrauen ab und reißen ihnen die Fingernägel heraus.
Wie gesagt, in meiner Fantasie. In Wirklichkeit ist Captain Dynamite ein doofer Teenager, und ich bin das hässlichste Mädchen der Schule.
Captain Dynamite heißt eigentlich Daniel, und besucht, so wie ich, die zehnte Klasse der Einstein Realschule. Seine Kumpels nennen ihn liebevoll Danny. Ich heiße Sarah, aber mich nennen alle Kratergesicht oder Dartscheibe oder Minenfeld oder Pustekuchen. Wenn es darum geht, mich meine Hässlichkeit spüren zu lassen, ist die Kreativität meiner Mitschüler wirklich grenzenlos.
Für einen ihrer Einfälle bin ich jedoch dankbar.
Ich werde nie den Tag vergessen, an dem Miss Jupiter geboren wurde.
Unser Mathelehrer in der achten Klasse war ein leidenschaftlicher Hobbyastronom, und eines Tages meinte er, dass man in der kommenden Nacht den Jupiter ganz toll sehen könne.
„Jupiter ist ein roter Riese“, erzählte Herr Eberle ganz aufgeregt, „mit Stürmen und Ringen und Kratern, die so groß sind, dass sie unsere Vorstellungskraft sprengen!“
Ein paar Schüler gähnten, ein anderer furzte und dann brüllte Sally „Miss Jupiter!“ in die Runde, was natürlich eine Anspielung auf mein Kratergesicht war. Die Klasse wandt sich vor Lachen. Herr Eberle schaute verdutzt drein. Ich senkte den Kopf.
Das Gelächter tat zunächst weh, aber dann dachte ich: Hey, eigentlich klingt Miss Jupiter … na ja, irgendwie cool, oder? Es hört sich, seien wir mal ehrlich, sogar ein wenig heldenhaft an.
Schon bald vergaßen alle, dass ich jemals mit einem so schönen Namen versehen wurde.
Aber in meiner Fantasie blieb ich Miss Jupiter.
Captain Dynamite, indes, war für mich schon immer Captain Dynamite. Schon seit der Grundschule. Daniel ist ziemlich doof, wahrscheinlich der doofste Mensch der Weltgeschichte, der jemals die zehnte Klasse einer Realschule besuchen durfte. Er ist schon zwei Mal sitzen geblieben, und die Tatsache, dass er nur deshalb so weit gekommen ist, weil die Lehrer ihn so gern haben, ist so etwas wie das offenste Geheimnis der Schule. Aber das macht niemandem was aus, denn alle mögen Daniel. Er ist ein gigantischer, tolpatschiger Junge, mit blonden strubbeligen Haaren, und obwohl er nicht übermäßig Sport treibt – und aufgrund mangelnder Koordination auch nicht wirklich gut darin ist – sieht er aus wie ein Gesteinsbrocken. Er hat große Hände und muskulöse Arme und muskulöse Beine und einen breiten muskulösen Rücken. Eigentlich ist alles an ihm muskulös. Er ist so etwas wie ein einziger, großer Muskel mit leuchtend blonden Haaren, und so bewegt er sich auch durch unsere Schule. Seine Schritte sind selbstbewusst und tolpatschig zugleich. Wie ein betrunkener Pandabär geht er über den Schulhof. Sein schiefes Lächeln leuchtet durch die Schule wie die Sonne, und deshalb wird er auch einen Realschulabschluß machen. Es gibt einfach keinen Lehrer, der es über das Herz bringt, ihn durchzufallen zu lassen. Spätestens in der mündlichen Prüfung bekommt er seinen Vierer.
Es ist im Grunde so, dass jeder Daniel liebt. Und doch bin ich mir sicher, dass dies niemand so sehr tut wie ich.
Jetzt bin ich nicht ganz ehrlich gewesen. Das tut mir leid. Ich nehme es mir schon vor, die Dinge so aufzuschreiben, wie sie sind, aber kaum fange ich an, und schon beschreibe ich die Dinge, wie ich sie gern hätte. Es stimmt nicht, dass alle Daniel gern haben. Bei uns auf der Schule tun alle nur so. Sie lächeln Daniel zu, gehen mit ihm trinken und hängen mit ihm in der Raucherecke ab. Aber hinter seinem breiten Rücken ist Daniel der größte Witz der Schule. Sein großes Herz wird gnadenlos ausgenutzt. Er trägt anderen die Taschen, steht Schmiere, und wenn’s sein muss, läßt er für einen Freund auch mal die Muskeln sprechen. Nicht für alles in der Welt würde Daniel seine Kumpels verraten. Der Kerl macht wirklich alles für dich, wenn er dich kennt, und vielleicht sogar dann, wenn er dich nicht kennt. Er kann einfach nicht anders, und deswegen lacht man ihn aus.
Daniel ist ein großer, schöner, blonder Junge, der zu dumm ist zu kapieren, dass seine besten Freunde überhaupt nicht seine Freunde sind.
Könnt ihr vielleicht jetzt verstehen, warum ich Daniel liebe? Seht ihr vielleicht jetzt, wie perfekt wir uns ergänzen? Der Schöne und das Biest, der Verarschte und die Verachtete, der Doofe und die Schlaue. Wir sind wie zwei Seiten derselben Münze.
Gab es jemals ein perfekteres Paar als Captain Dynamite und Miss Jupiter?
Ich glaube nein.
Ich treffe Daniel auf dem Marktplatz. Ich bin in der Mittagspause in die Stadt gegangen, um mir etwas vom Bäcker zu kaufen. Er sitzt alleine auf einer Bank vor dem Stadtbrunnen. Es ist ein schöner Tag, die Sonne spiegelt sich im Wasser, doch Daniel sieht traurig aus. Er trägt einen ärmelloses Basketball Trikot der Los Angeles Lakers. Nicht mein Stil, aber seht euch diese Arme an!
Ich setze mich zu ihm. “Daniel was ist los?“
Er lächelt, aber nicht so strahlend wie sonst.
„Hallo Sarah.“
„Hast du schon aus?“
Daniel blickt nach unten, reibt seine massigen Hände ineinander.
„Ich habe Scheiße gebaut. Ich darf nicht mehr in die Schule.“
„Was?“
„Ich darf die Schule nicht betreten, und jetzt weiß ich gar nicht, was ich tun soll. Was soll ich denn machen, Sarah? Ich muss –“
„Warte mal, warte mal … warum darfst du nicht zur Schule?“
„Man hat mich mit Drogen erwischt.“
„Mit Drogen? Du? Aber wieso das?“
Daniel verzieht das Gesicht.
„Ich hatte ganz viel dabei, ganz viel Marihuana, und man hat mich erwischt.“
„Scheiße, Daniel, du kiffst doch gar nicht, was machst du mit so viel …“ Ich kenne die Antwort schon. „Hast du etwas für Tilo erledigt? Hat dich Tilo dazu angestiftet?“
Jeder weiß, dass Tilo Federer, Obercoolio unserer Realschule, der wahrscheinlich größter Verticker von Gras in Süddeutschland ist.
Daniel senkt die Stimme, kann mir nicht in die Augen schauen.
„Tilo hatte nichts damit zu tun.“
Ich springe von der Bank auf.
„Daniel, du musst der Polizei die Wahrheit erzählen! Es weiß doch jeder, dass Tilo Gras verkauft und nicht du.“
„Ja, ich weiß, aber … Tilo hatte nichts damit zu tun. Tilo hatte nichts damit zu tun.“ Daniel Diekmann, Manchurian Kandidat. Er spricht, als hätte man ihm diesen Satz per Gehirnwäsche eingeschleust.
„Lüg mich nicht an.“
„Bitte, Sarah, lass mich einfach.“
„Aber wir können diese Scheißer doch nicht immer ungeschoren davon kommen lassen, Daniel. Das sind die Bösen, nicht wir! Wir müssen etwas unternehmen.“
„Nein, Sarah, du darfst nichts machen.“
„Ich werde diese Schule in die Luft sprengen! Das ist doch zum Kotzen!“
„Nein, mach das nicht.“
„Doch, das werde ich!“
„Nein …“
Daniels Augen werden jetzt feucht. Ich setze mich wieder hin.
„Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht anschreien.“
Ich lege meine Hand auf seine Schulter, und er beginnt zu weinen.
Ich gehe zurück in die Schule und will am liebsten Amok laufen. Timo K., Erfurt, Columbine … das macht plötzlich alles so verdammt viel Sinn, auch wenn rumballern, glaub ich, nichts für mich wäre. Zu grob, zu simpel. Würde mir nicht die Befriedigung schaffen, nach der ich suche. Aber dass die Jungs darauf stehen, kann ich schon verstehen. Sie wollen doch sonst auch überall eindringen, wieso dann nicht in die komplette Schule auf einmal? Sie laufen bestimmt Amok wie Pornostars ficken.
Aber ich will etwas anderes. Ich will sie verunsichern. Ich will, dass sie aus Albträumen erwachen, Miss Jupiters Schritte im Dunkeln tappen hören und sich an ihre Bettdecken klammern. Kurz, ich will eine Terroristin sein. Bisher habe ich mich zwar nie sonderlich für Terrorismus interessiert, doch jetzt merke ich, wie sehr mir das zuspricht. Ich lächele wie eine Figur in einem Paulo Coehlo Roman. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern …
Endlich habe ich gefunden, wonach ich suche!
Nach der Schule lade ich mir ein Programm vom Netz runter, das die Stimme verstellt, genau wie dieses Gerät, das die Bösewichte im Film haben. Und dann beginne ich an einer richtig bedrohlich klingenden Bombendrohung zu arbeiten. Eine Stunde später ist die Aufnahme fertig:
Hier spricht die Alpha Jupiter Einheit. Der Tag der Abrechnung ist gekommen. Für euer Verbrechen gegen Gott werdet ihr heute zur Rechenschaft gezogen. In einer Stunde fliegt die Einstein-Realschule in die Luft. As-salamu alaikum.
As-salamu alaikum heißt Friede sei mit euch auf arabisch. Mit dem Islam habe ich zwar nichts am Hut, aber ich finde, dass das schön terroristenmäßig klingt, und ich will ja ernst genommen werden. Die Tonspur unterlege ich noch mit leiser arabischer Musik und dann ziehe ich die Datei auf mein Handy.
In dieser Nacht liege ich im Bett, und kann kaum schlafen. Morgen könnte auch Weihnachten sein. Ich stehe früh auf, und fahre mit dem Fahrrad in ein benachbartes Dorf, um die Bullen auf die falsche Fährte zu lenken. Dann betrete ich eine Telefonzelle und wähle die 110.
„Polizei Notruf.“
Die Stimme des Gesetzes lässt mich vor Schreck zusammenzucken. Plötzlich will ich wegrennen. Ich bin schon am Auflegen, doch dann denke ich an Miss Jupiter und die langen, geschmeidigen Beine in dem Latexanzug. Ihren sexy Hintern, das hochmütige Lächeln. Diese Frau kennt keine Angst.
„Hallo? Ist da jemand?“
Ich drücke auf den Knopf und die Aufnahme läuft. Ich habe sie mir schon hundert Mal angehört, und bin auch recht zufrieden damit, doch jetzt ist Showtime, jetzt kommt es wirklich drauf an, und plötzlich finde ich die sonore arabische Stimme im Hintergrund etwas kitschig. Und scheiße, habe ich As-salamu alaikum überhaupt richtig ausgesprochen?
Aber hoffentlich!
Beim Auflegen zittern meine Hände. Die Sonne geht hinter dem Kirchturm auf. Die Luft ist kalt. Mein Atem beschlägt die Telefonzellenwände. Hat mich jemand gesehen? Ein Auto fährt vorbei, zwei Kinder auf Fahrrädern, ein Mann mit seinem Hund.
Ich atme langsam auf.
Mir blickt nie jemand hinterher, das wird heute nicht anders sein.
Mein Herz rast, als ich den Schulhof betrete. Meine langen, schwarz gefärbten Haare – um den farblichen Kontrast zwischen Miss Dynamite und Captain Dynamite hervorzuheben – fallen mir ins Gesicht, und ich vermeide, so wie immer, jeglichen Augenkontakt mit meinen Mitschülern. Da läuft nur Kratergesicht mit gesenktem Haupt, werden sie denken. Die Schüler stehen gestaffelt in ihren kleinen Cliquen, Bollwerke der Konformität und gegenseitiger Erniedrigung. Die Lehrer schleppen sich zur Arbeit mit Urlaub oder Sally Parkers Beinen im Kopf. Die jungen Lehrerinnen machen sich für Herr Lauder hübsch, unseren chauvinistischen Arschlochrektor.
Na, wartet nur ab, ihr Scheißer…
Heute hat Miss Jupiter ihren ersten Auftritt.
Mitten in der ersten Stunde ertönt der Feueralarm. Allein der ängstliche Ausdruck in Frau Bergers Augen, eine sterile alte Frau mit dicker Hornbrille, ist all meiner Mühen wert. Pass besser auf, sagt dieser Blick. Wir sind in einer Schule. Hier ist alles möglich! Der Funken springt über, und ein paar Sekunden lang ist es, von dem Alarm abgesehen, still in unserem Klassenzimmer. Es sind vielleicht die schönsten Momente meiner Schulzeit.
Einfach nur Stille …
Dann beginnen die Jungs nervös zu lachen, und wir strömen auf den Schulhof. Frau Berger zählt uns durch und wir werden nach Hause geschickt. Ich sehe die Spezialeinheiten aufrücken und mache mich auf meinem Fahrrad aus dem Staub.
Auf dem Heimweg treffe ich Mustafa. Er liegt auf dem Gehweg in der Sonne und langweilt sich. Unsere Gespräche sind nicht besonders tiefgründig, aber irgendwie erfrischend.
„Hey Gruftifrau!“, schreit er. „Geile Titten!“
Ich halte an. Auch wenn ich zugegebenermaßen recht stolz auf meine Titten bin – sie sind wohl das einzige an mir, bei dessen Erschaffung Mutter Natur nicht besoffen war – , lasse ich natürlich nicht auf offener Straße so mit mir reden.
„Mustafa, so redet man nicht mit Frauen.“
„Aber die sehen doch voll geil aus. Darf ich sie anfassen?“
„Mustafa, du bist erst neun, was ist eigentlich los mit dir?“
„Aber habe einen Bart, schau mal.“
Mustafa streicht sich über das Kinn. Und grinst. Er hat tatsächlich einen flaumigen Vollbart, hatte er aber schon immer. Er ist wahrscheinlich mit Vollbart auf die Welt gekommen.
„Mustafa, müsstest du nicht in der Schule sein?“
„Schule ist Scheiße.“
Mir fällt es schwer, da etwas entgegenzusetzen, aber versuchen will ich es trotzdem. Irgend jemand muss ja für den Kleinen ein positives Vorbild abgeben.
„Mustafa, du musst in die Schule gehen. Du kannst doch nicht den ganzen Tag auf der Straße hocken und Frauen hinterher pfeifen. So wird doch nichts aus dir. Jetzt kommst du noch damit durch, aber in ein paar Jahren sieht das echt albern aus.“
Mustafa setzt sein schelmisches Grinsen auf. „Ich pfeife nicht allen Frauen hinterher, Gruftifrau, nur dir, weil deine Titten am allergeilsten sind!“
Ich schmeiße das Fahrrad hin, und stürme auf ihn zu. Er kreischt und rennt weg. So enden unsere Gespräche grundsätzlich. Wenn ich ihn fange, kitzele ich ihn durch, und drücke ihm ganz viele feuchte Knutscher auf. Er verkneift die Augen, windet sich, wirft mir Vergewaltigung vor und begrapscht aus Rache meine Titten. Ich mag das irgendwie.
Bewege ich mich in pädophilen Gewässern? Vielleicht ein bisschen. Mustafa mag ein neunjähriger Macho-Türke sein, der drei ältere Brüder hat, die alle ein Leben als kleinkriminelle Frauenverächter führen – es ist ziemlich unschwer zu erkennen, in welche Richtung Mustafa sich entwickeln wird – , aber er ist der einzige Mensch auf der Welt, der mir regelmäßig Komplimente macht, und wenn sie noch so unpoetisch sind.
Daher … kann man mich mit hoffentlich verstehen. Ich küsse ihn besser jetzt. In ein paar Jahren wird er unerträglich sein.
Meine Mutter ist bei der Arbeit. Gott sei Dank. Ich habe nur zwei Ziele in meinem Leben. Eines davon ist nicht zu werden wie meine Mutter – alleinerzeihend, fett, hysterisch – das andere ändert sich ständig. Seit gestern will ich eine richtig gute Terroristin zu werden.
Ich schmeiße mich auf das Sofa, und schalte den Fernseher ein. Vielleicht komme ich ja in den Nachrichten. Das wäre cool.
Ich werde am Nachmittag von einem Klopfen an unserer Tür geweckt. Ich gehe hin und mache auf.
Vor mir steht ein Polizist. Grün gekleidet, groß, deutsch.
„Sind Sie Sarah Maier?“
„Ja.“
„Kennen Sie Daniel Diekmann?“
„Ja.“
„Es liegt einen Haftbefehl gegen Sie vor. Sie stehen unter Verdacht eine Bombendrohung bei der Einstein-Schule abgegeben zu haben.“
Der Polizist sieht mich an, als müsse ich jetzt etwas tun, etwas sagen.
Aber ich kann nicht.
Ich werde diese Schule in die Luft sprengen…
Hat mich Daniel verraten?
Der Polizist legt eine Hand meine Schulter, und führt mich zu seinem Wagen.
Auf dem Weg zur Polizeistation blicke ich aus dem Fenster. Ich sehe Mustafa auf der Straße. Mich erkennt er nicht, aber dem Polizeiwagen wirft er einen äußerst argwöhnischen Blick zu – allerdings als einziger. Auf dem Gehweg ist plötzlich jeder mit seinem Handy beschäftigt. Die Fahrer auf der Gegenspur stieren nach vorne mit beiden Händen am Steuer. Einer von Mustafas Brüdern fährt hinter uns und hält mit seinem BMW Dreier ungefähr Hundert Meter Abstand. Ich merke, dass das Leben eines Polizeiwagens meinem ähnelt – uns sieht niemand gern – , allerdings aus anderen Gründen. Polizeiwagen ernten vorsichtigen Respekt, ich gleichgültigen Spott.
Ich weiß nicht, was jetzt mit mir passieren wird. Entweder beginne ich zu schreien und höre nie wieder auf, oder … Miss Jupiter rettet mich.
Ich denke an Latex, an lange Beine, die nie mehr aufhören, und nach ein paar Minuten geht’s wieder. Ich kann wieder atmen. Der Wagen bleibt vor der Polizeiwache stehen.
„Aussteigen!“
Ach, was rege ich mich überhaupt auf? War das nicht klar? Ein Superheld braucht eben einen Bösewicht. Captain Dynamite und Miss Jupiter. Wir sind füreinander bestimmt, nur anders als gedacht.
Ich steige aus und gebe dem Polizisten einen Kick in die Nüsse.
Pow!
„Und? Wie gefällt dir das, Herr Polizist?“
Er fällt auf den Boden und kreischt voller Kastrationsangst. Als er versucht, wieder auf die Beine zu kommen, trete ich ihm mit meinem Stiefel in die Fresse. Zähne und Hautfetzen fliegen in Zeitlupe davon und treffen eine alte Dame, die zufällig vorbei läuft, voll ins Gesicht.
Fatz!
Ein Zahn bleibt in ihren Haaren kleben, Blut tropft von ihren Wimpern.
„Ahhhhhhh!“
Die Empörung einer kompletten Generation bricht aus ihrer Kehle. Sie schreit in Dezibel; ich freue mich auf Watt. Meine Füße berühren den Boden nicht mehr.
Ich hebe ab.
Polizisten stürmen aus der Station, und stellen sich in einer Reihe vor mir auf. Ich lächele mein hochmütigstes Lächeln, sympathisch und überlegen, geschmeidig und energiegeladen. Sie richten ihre Pistolen auf mich, mit all dem Respekt, der einer Frau meines Standes, Stils und Sex-Appeals gebührt.
„Pistolen? Von der Größe? Wollt ihr mich verarschen?!“
Ein kleiner Mann mit einem Schnurbart und einem Mikrophon tritt nach vorn.
„Miss Jupiter! Wir haben Sie umzingelt. Ergeben Sie sich!“
Ich beginne zu lachen, so laut, dass die Bäume in der Einfahrt wackeln. Blätter strömen wie Blütenstaub davon, Trommelfelle platzen, Polizisten schießen – und ich lache einfach weiter.
Die Kugeln prallen gegen meinen schwarzen Latexanzug ab, während ich meine rubinrote Maske zurecht lege und davon fliege.
Die Schule liegt auf einem Hügel. Rechteckig, grau, hässlich. Ich strecke meine Arme nach vorne und beschleunige darauf zu. Meine Haare fangen Feuer bei der Geschwindigkeit. Leuchtend rote Lavaschlieren ziehen hinter mir her.
Adios, Schule!
Kurz bevor ich meinen Körper wie ein Torpedo durch sämtlich Betonpfeiler der Einsteinschule befördere, trifft mich etwas von der Seite, und schleudert mich gegen einen Baum. Der Aufprall tut höllisch weh, meine Sicht verschwimmt.
Langsam komme ich wieder zu mir.
Captain Dynamite fliegt herüber und setzt sanft vor mir auf dem Boden auf. Er trägt einen himmelblauen Anzug. Ein weißer Umhang flattert hinter ihm im Wind.
Seine Stimme boomt.
„Ich bin Captain Dynamite! Hände weg von der Schule!“
Ich stehe auf. „Aus dem Weg, Daniel.“
„Daniel ist nicht da, hier spricht Captain Dynamite.“
„Na dann richte Daniel mal von mir aus, dass er ein ziemliches Arschloch ist!“
„Beruhigen Sie sich, Miss Jupiter.“
„O, jetzt siezen wir uns, oder wie? Ist das üblich unter Superhelden?“
„Ich bin ein Captain, Sie sind eine Miss, natürlich ist das üblich.“
„Mann, du hast ja gar keine Ahnung!“
Ich versuche an ihm vorbeizumarschieren, doch er stellt sich mir in den Weg. Er sieht nach unten und lächelt. Sein Körper ist eine Muskelmauer, gleichzeitig Objekt der Begierde und der Unterdrückung. Und er weiß es.
„Versuchen Sie es erst gar nicht, Miss Jupiter.“
„Mag sein, dass Sie mehr Kraft besitzen als ich, aber ich kann ganz andere Dinge.“
„Ach ja, was zum Beispiel?“
“Oooo Captain! Was haben Sie denn da auf ihrer Brust?!?“
Dynamite blickt nach unten, und ich verpasse ihm einen Aufwärtshaken.
Peng!
Sein Kopf fliegt nach hinten wie ein Fußball. Sein Hals dehnt sich aus, zehn, zwanzig Meter weit, ehe sein Körper mit rasanter Geschwindigkeit nachzieht und in das Schulgebäude fliegt.
Boom!
Captain Dynamite reißt ein Loch in den Biologiesaal im zweiten Stock und wirbelt Staub auf. Ich fliege hinterher, und finde ihn unter einem Haufen Beton und Glas verschüttet. Ich werfe den Schrott beiseite, packe ihn am Kragen und drücke ihm meine Brüste ins Gesicht. Er schnappt nach Luft.
„Jetzt mach ich dich fertig, Daniel, du sollst leiden für das, was du mir angetan hast!“
Dynamite blickt traurig drein, voller Mitgefühl.
„Daniel hat Sie verletzt, das weiß ich, aber er wollte nur die Schule beschützen, vergessen Sie das nicht.“
„Warum im Gottes Namen will er die Schule beschützen?“
„Vielleicht weil sie alles ist, was er hat.“
„Alles was er hat? Das ist aber erbärmlich. Man lacht über ihn, man nutzt ihn aus.“
„Er findet es okay, dass sie über ihn lachen, weil sie seine Freunde sind.“
„Er hat Scheiß Freunde.“
„Aber er findet keine anderen.“
„Ich wäre ihm ein viel besserer Freund gewesen.“
„Und sein einziger. Sie machen es sich schwer, wenn Sie sich abkapseln, Miss Jupiter. Wenn Sie anderen weh tun.“
„Man tut doch mir weh! Miss Jupiter! Schon vergessen, wo ich diesen Namen herhabe?“
„Die anderen Schüler meinen es vielleicht nicht immer gut mit Ihnen, aber wenn sie sich Mühe gemacht hätten, sich mit ihnen zu verstehen, hätte man Ihnen eine Chance gegeben. Sie würden Ihnen sogar jetzt noch eine Chance geben. Wenn man sich anstrengt, schafft man das.“
„O Gott! Jetzt soll ich mich auch noch geehrt fühlen, wenn mir ein Haufen Affen die Chance gibt, mit ihnen abzuhängen. Ich verzichte drauf! Ich will doch gar nicht mit ihnen befreundet sein.“
„Aber wie können Sie sich dann beschweren, wenn die Schüler nicht mit Ihnen befreundet sein wollen?“
„Ich beschwere mich doch gar nicht!“
„Aber die Schule wollen Sie zerstören …“
„Weil sie brutal und kalt ist.“
„Das kann sie manchmal sein. Für Sie war sie das vielleicht. Aber warum? Versuchen Sie mal ehrlich mit sich zu sein.“
„Ich soll versuchen ehrlich mit mir zu sein? Scheiße Daniel, seit wann gibst du solche Sätze von dir?“
„Ich bin nicht Daniel.“
„Dann eben Dynamite.“
„Ich bin auch nicht Dynamite.“
„Was?“
„Schauen Sie mal genau hin, Frau Maier.“
„Daniel, wo hast denn diese schwule weiße Aufmachung her?“
„Frau Maier, sehen Sie sich um, wo sind wir?“