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Missgeburten-Radio

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16.08.2003
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Missgeburten-Radio

Durch das Radio höre ich seltsame Stimmen. Tausende von Stimmen die seltsame Sachen erzählen. Sie reden von Kriegen und Liedern, und Stars und Erfolg, und Leben, und irgend solchem Scheiß. Ich sitze und höre Radio.
Die Welt erscheint so einfach.
Einfach.
Die Welt verflüssigt sich vor meinen Augen, aber vielleicht liegt es auch am Whisky.
Sie sieht so leer aus.
So leer.
Ein weiterer Bericht. Einer darüber, dass Kinder auf der Straße an kaputtem Herzen sterben. Danach einer darüber, dass Erwachsene, überarbeitet an Herzschwäche und Hirnzellen Verbrennungen sterben.
Ich mache leicht die Augen auf, und gucke auf diesen Zähler der den Namen des Senders und die Frequenz anzeigt. Der Name des Senders ist „Spectors“.
Ich höre weiter. Was bleibt mir denn schon übrig. Man muss sich auf dem neuesten Stand halten. Man muss zuhören. Man muss sich informieren, man muss mitmachen. Mitmachen, wer hat auch keine Lust mehr mitzumachen?

Nach dem kurzen Beitrag kommt ein Lied. Kenn ich nicht, das Lied.
Klingt nach Pink Floyd, aber ich bin mir irgendwann nicht einmal sicher ob es ein Lied ist.
Ich bin müde, ich will aussteigen, aus dem Mitmach-Leben.
Als das Lied zu ende ist kommen wieder Mitmach-Infos. Es wird erzählt, dass der erste menschliche Klon heute geboren wurde. Das Baby, wäre allerdings eine Missgeburt gewesen, es hätte weder Augen, noch Ohren, noch Mund, aber da es eine Luftzufuhr hat lebt es weiter. Das ist immer so, Die Erschaffungen des Menschen, sind nur Missgeburten.
Ich mach lauter.
Danach kommt Werbung. Werbung für Kloreiniger, Werbung für besseres Make-up, Werbung für Telefonanbieter, Werbung für recycelgeeignete Taschentücher, Werbung für Narbenabdeckende Selbstbräuner, Werbung für Umweltfreundlichere Unterwäsche, und für echte Pelze aus Nylon und Pudelhaar. Unser Fortschritt beeindruckt mich so.
Dann kommen wieder Mitmach-Infos.
Es geht darum, dass die meisten Paare in letzter Zeit vor Verzweiflung verrückt geworden sind. Es soll eine seltene Geschlechtskrankheit sein. Es läge an der inneren Distanz, sagen die Psychologen. Es läge an diesen neuartigen Parasiten, sagen die Ärzte. Dann gibt es ein interview mit einem Ex-Liebendem, aktuell aber einem Irren. Keiner hat je behauptete lieben wäre nicht IRRE. „...die Oberfläche ist nicht zu brechen,“... stottern... Wie auch immer. Ich will weiter hören. Aber dann kommt ein neues Lied.
Ich geh und hol mir ein Kaffee. Löslicher. 3 Löffel Kaffee, 3 Löffel Zucker. Milch passt nicht rein.
Ich komme wieder und zünde mir noch eine Marlboro an. Das Lied ist zu Ende, und ein anderer Moderator legt los. Quasselt und quasselt, und ich sehe nach ob die Mitmach-Info Uhrzeit vorbei ist. „Spectors“ wird nicht mehr angezeigt. Es ist ein anderer Sender. Dort sind die Infos viel realistischer, langweiliger,
leerer,
einfacher.

Ich suche nach dem Sender, finde ihn aber nicht.
Aber dann bin ich beruhigt. Wenn es den Sender gar nicht gibt, Gibt es auch diese schrecklichen Neuigkeiten nicht. Alles nur Fantasie.
So ein Glück und so weiter.
Gut das Realität nie wahr wird.
Jedenfalls nicht für mich.
Oder für dich.
Oder für den Rest aller Radiobesitzer.

© Copyright by Alissa Berger

 

Anstatt in die Welt rauszugehen, holt man sich die Welt ins eigene, traute Heim. Was könnte beruhigender sein als die Lieblingstasse, der quietschende Schaukelstuhl oder die vertraute Stimme aus dem sprechenden Kasten?

Wo könnte man Vergewaltigung, Missgeburten, Krieg oder Seuchen besser ertragen als in den eigen gestalteten vier Wänden?

Und was ist schöner, als sich vor den Schreckensnachrichten zu gruseln und sich in der Nacht ins warme, wohlige, geliebte Bett zu kuscheln?

Was ist richtiges Leben gegen eine Seifenblase gefüllt mit glitzernder Grausamkeit, die platzt, wann immer man möchte?

Der Versteck, eine Tropfnewshöhle, ist bequemer als jegliches echtes Sein.


Auch wenn die Wiederholungen Absicht sind, so sind sie an manchen Stellen dennoch störend und unglücklich gewählt. Ich würde die letzten fünf Sätze einfach streichen, und dafür das mit der Phantasie ausschmücken oder auch so lassen. Die letzten 5 sind aber überflüssig, finde ich.

 

DIe letzten 5 Sätze sind die wichtigsten. Sie stehen für die Suggestionen. Denn in der Welt passieren genug schrecklich Dinge. Nur weil sie in dem einen oder anderen Moment nicht im Radio gesendet werden, sind sie nicht nur Fantasie.
Doch je beschissener die Welt, desdo geladener die Emotionen ihr gegenüber. Darum diese Übertreibungen. Dass sind übrigens die Probleme, die in ein paar Sekunden die wir von der Zukunft entfernt sind passieren werden... das Gefühl habe ich jedenfalls.

 

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