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Mister Jones ist in Gefahr
Mr. Jones Leben ist in Gefahr. Jeden Tag. Früh verlässt er nur ungern die eigene Wohnung, zögert immer länger an der Haustür. Er sammelt sich, konzentriert sich auf seinen täglichen Weg zur Arbeit. Die ersten Schweißflecken bilden sich auf seinem Hemd und seinem Anzug. Mr. Jones ist Qualitätsmanager. Adäquate Intelligenz und mangelnde Fantasie haben ihn dafür prädestiniert. Er sehnt sich bereits jetzt nach seinem sicheren Schreibtisch und dem verantwortungsvollen Arbeiten mit seinen Listen und Zahlen.
Er verkrampft seine rechte Hand um den Griff seines Koffers. Lederimitat über Plastik. Schiebt den rechten Sakkoärmel kurz zurück, sieht nervös auf seine runde Armbanduhr.
´Muss los´
Er reißt die Tür auf, rennt in den Flur. Die starke Federung und die neue Schließmechanik versperren die Tür wieder hinter ihm.
Er läuft gehetzt. Die Treppe nach unten. In unregelmäßigen Abständen bleibt er stehen, wird langsamer, schneller. Die versteckten Scharfschützen können ihn so nicht erwischen. Er will unberechenbar bleiben. Unberechenbarkeit rettet ihm jeden Tag das Leben. Die Gedanken driften kurz ab. Er erinnert sich daran, dass sie ihn entführen wollten. Damals wusste er noch nichts von ihnen. Ein älterer Mann sprach ihn in auf der Straße an - bat um die Uhrzeit. Während er stehen blieb um zu antworten, in Gedanken noch bei den essentiellen Daten der Bank auf seinem Schreibtisch, roch er den süßlichen Geruch eines Anästhetikums, vermutlich Chloroform, hinter sich; drehte sich blitzschnell um und sah die verdächtigen Gestalten schuldbewusst hinter sich zusammenzucken. Damals konnte er ihnen davon laufen. Doch er kannte ihre Gesichter. Und kennt sie noch. Sein Tod ist unvermeidlich, doch Mr. Jones schafft es bisher jeden Tag ihnen zu entkommen.
Am Ende des muffig riechenden Treppenflurs eilt Mister Jones ohne Verzögerung weiter. Steckt im Laufen eine Hand in die Jackettasche, fummelt sich in einen Lederhandschuh und öffnet die metallische Klinke der schweren Tür zur Straße. Er glaubt leichten Ozongeruch zu riechen und nickt kurz grimmig. Starkstrom an der Klinke. Der Passantenstrom reißt ihn mit. Rush hour. Schwer jemand einzelnen hier zu erwischen. Die Stadt riecht wie immer. Abgase, Menschen, Essen, Fäkalien, Chemie.
Mister Jones springt unregelmäßig in Hauseingänge und verharrt mal länger, mal kürzer. Blitzschnell sieht er sich um und versucht seine Verfolger zu entdecken. Manchmal hat er Glück und sieht hastig einzelne Menschen wegsehen - oder wie zufällig in ein Geschäft gehen. Er prägt sich ihre Gesichter ein.
Einzelne Haarsträhnen seines Scheitels kleben verschwitzt an der Stirn und er streicht sie fahrig weg. Ein Trick, während dem er schnell mit den Augen unter der Hand hindurch in alle Richtungen blicken kann - er überrascht seine Verfolger indem er wieder auf die Straße springt, in die Menge. Beim Supermarkt vorn macht er einen schnellen Seitwärtsschritt, rennt um die Regale, hockt sich versteckend kurz neben den aufgestapelten Kartons Milch und sieht sich hektisch um. Niemand da. Er wartet. Da! Ein älter Mann betritt den Supermarkt, sieht sich suchend um. Vorsichtig schleicht sich Mister Jones ein Regal weiter an ihm vorbei zum Ausgang - und rennt dann wieder auf die Strasse. An der nächsten Kreuzung wartet er bis die grüne Fußgängerampel ihr Grün aufgibt - und stürmt vor hupenden Autos gerade noch bei Rot auf die andere Seite. Er lacht kurz und meckernd. Der Atem geht ihm langsam aus. Sein Hemd klebt am Rücken. Schweißnass.
Als er den Nebeneingang der Bank erreicht, drückt er Sturm auf die Klingel, die Sekretärin im sechsten Stock erkennt ihn in der Kamera und betätigt summend den Öffner. Mister Jones wirft sich in den kühlen Treppengang. Knallt die Tür hinter sich - und atmet auf. Geschafft. Er lächelt. Ordnet seine Kleidung, begibt sich in sein Büro in den fünften Stock.
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Mr. Jones blinzelt. Sein Kopf fühlt sich schwer an. Er hört dumpf und seine Augen tränen.
Als er vor einer Woche so erwachte, dachte er zunächst sie hätten ihm auf dem Heimweg irgendwie vergiftet. Der hastig herbeibeorderte Arzt hatte ihm gesagt, dies sei nur eine Grippe. Medikamente und Bettruhe würden ihn gesunden lassen.
Mr. Jones nimmt seitdem Tabletten. Er war nicht mehr in der Arbeit seit zwei Wochen. Er niest. Ein langes, krampfhaftes Husten wird daraus. Sein Kopf schmerzt. Er braucht seine Medizin.
Als er sich fiebrig und mit schmerzenden Gelenken ins Bad begibt, stellt er erschrocken fest, dass er keine Medizin mehr hat.
´Apotheke!´, denkt er.
Er schlüpft in eine alte Strickjacke und schlurft zur Tür. In seiner Hand die leere Verpackung seines Mittels und ein zerknülltes Stofftempo. Er hustet erneut. Die Augen tränen und die Nase ist verstopft. Er schnäuzt. Sein Körper schmerzt und er braucht sein Mittel!
So humpelt er die Treppen hinunter, öffnet die schwere Tür und schlurft auf die Straße. Hustend, schnäuzend und ächzend macht er sich auf den Weg zur Apotheke. Menschen hasten an ihm vorbei, rempeln ihn manchmal an und murmeln eine Entschuldigung. Er steht an der Ampelkreuzung. Wartet auf grün.
Schock lässt sein Herz in der Brust hämmern. Die Mörder! Er hatte sie ganz vergessen. War achtlos durch die Straßen geschlurft, hatte nicht auf Fallen und Verfolger geachtet - und nichts war passiert! Niemand hatte auf ihn im Treppenhaus geschossen, niemand ihm ein Messer einfach so auf der Straße in den Körper getrieben. Der Schweiß bricht ihm aus. Angst packt ihn. Einen Moment scheint die Zeit still zu stehen. Er sieht sich langsam um. Gleichgültige oder sogar mitleidige Blicke streifen ihn. Für einen kurzen Augenblick blinzelt Mr. Jones und gesteht sich ein, dass es keine Verfolger gibt. Womöglich nie gegeben hatte. Niemand einen unbedeutenden Angestellten mit einem langweiligen Job und einem langweiligen Leben ohne echte Höhepunkte oder übermäßig viel Geld töten wollen.
Einen Augenblick.
Dann hustet er.
Steigert sich in ein meckerndes Lachen. Die Augen huschen hin und her. Er hatte nur Glück gehabt, erkennt er nun. Sie hatten nicht mit ihm gerechnet - aber mittlerweile mussten sie auf seiner Spur sein. Er sieht sich hastig um. Da! Verdächtige Gesichter ringsumher.
Die Ampel schaltet auf rot - und er läuft vor hupenden Autos über die Straße.