- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Mit dem Wind spielt man nicht
Fieber. Unsägliche Hitze fühlte sich irgendwie an wie ein heftiges Fieber. Nicht etwa wegen der Temperatur oder dem Schweiß, der mir mein mit Staub und Dreck verschmiertes Gesicht herunterlief, sondern wegen dem unerträglichen Gefühl, dass zwischen meinen zwei Augen pulsierend pochte. Das Gefühl von Benommenheit und Ohnmacht, das man kennt, wenn man zwischen Schlaf und Wachzustand träumt oder zumindest glaubt zu träumen. Es machte mich wahnsinnig. Zu sitzen und zu warten. Permanentes in die Ferne schauen, den Horizont und das Gelände systematisch beobachtend, hin und her, wie ein alter Scanner aus den 90er Jahren. Warten. Aber auf was?
Drei Jahre Grundausbildung und dann die Stationierung hier, an einer bröckelnden Tankstelle, die sich Stützpunkt nennt, inmitten einer Wüste, eines Niemandslandes, abseits eines kleinen Lehmdorfs, wie Wegelagerer. Auf dem großen Stützpunkt, vier kilometer von hier entfernt, war es wenigstens noch ansatzweise unterhaltsam gewesen. Baseball, Musik und anderer Kram. Nun sah ich lediglich diese zwei Mienen meiner Kameraden und das seit 72 Stunden. Dieses „Fieber“ und das permanente Witzgequatsche von Doyle und Marco schlugen in der richtig verhältnismäßigen Kombination mächtig auf‘s Gemüt, ehrlich. Seit beinahe zwei Monaten war ich hier, weit weg von zu Hause. Ich hätte mir jedoch bei weitem mehr Action gewünscht als es bisher der Fall war. Das hatte ich bei meiner Meldung für diesen „Job“ nicht vorgestellt: zu sitzen und zu warten. Ich war‘s Leid von ranghöheren Quacksalbern den Satz ins Gesicht geschmiert zu bekommen: „Sie haben ihre Pflicht erfüllt, Private.“ Ich fragte mich manchmal, was diese Pflicht denn bitte allen Ernstes sein soll. Wachpatroullieren am abgelegensten Außenposten, zu einem Häufchen Sand werden?
Marco begann nun schon wieder irgendwelche Latino-Schnulzen zu pfeifen. Ich sah ihn fast eineinhalb Minuten pausenlos mit meinem wirklich angewiderten Blick an. Aber er wollte mich wahrscheinlich gar nicht bemerken. „Marco!“, mahnte ich. Keine Reaktion. „Hey! Marc! Dein Gesülze geht mir auf‘n Keks, kannst du nicht für fünf Minuten einfach mal still sein?“. Daraufhin fing er auch noch absichtlich an etwas auf spanisch zu murmeln und schloss sogar seine Augen. Ein hoffnungsloser Fall. Doyle summte selbst mit, während er sich krankhaft die Nägel abkaute und durch die gegend spie. Wenn er nicht mit grinsen und lachen beschäftigt war, dann tat er das. Nägelkauen. Wenn diese verdammte Hitze nicht gewesen wäre, dann wäre ich definitiv aufgestanden und hätte Marco die Bedeutung des Wortlautes „das Maul stopfen“ neu definiert. Doch dieser Energieaufwand war‘s mir momentan nicht wert. Das Pochen zwischen meinen Augen wurde stärker. Meine Sehstärke schien auf eine seltsame Art und Weise unter der Hitze zu leiden. Ich glaubte alles scharf zu erkennen und dennoch nicht richtig wahrzunehmen. Ein grotesker Zustand.
Ich nutzte den Moment meiner Genervtheit von Marco und Doyle um aufzustehen von der leeren, rostrot verbeulten Munitionskiste. Die war vermutlich noch aus unserem ersten Besuch vor 14 Jahren hier, wer weiß, interessierte mich auch nicht wirklich. Mein Allerwertester ging mir langsam fast in Flammen auf, darum war das Aufstehen mehr als angebracht. Es tat gut ein wenig die Muskeln zu dehnen und zu recken, ich fühlte mich nämlich allmählich wie Pinnocchio, dessen Gelenke mal geölt werden mussten, weil durch die Hitze alles geschmolzen und gesiedet ist. Währenddessen richtete ich meinen Blick in Richtung des klappernden Metallzauns. Er schien schier unendlich in beide Richtungen zu verlaufen und an den Enden vom Dunst der Hitze verschlungen zu sein. Was für eine Funktion er hatte? Weiß der Teufel. Sein darliegender Zustand deutete jedoch nicht darauf hin, dass er ernsthaft mal einen Dienst hinter sich hatte, der von Bedeutung war. Und wenn, war mir doch egal! Überhaupt, einfach das Nachdenken über diesen Zaun. Das war alles dieses fiebrige Herumwühlen in sinnfreien Gedanken, getrieben aus Langweile und Mattheit. Ich hasste diesen Nichtigkeitszustand. Ekelerregend.
Als endlich ein Windbrise kam, schien es so als wären irgendwelche Gebete erhört worden. Jedenfalls wischte die Brise an den Schweißperlen meiner von meinem Helm und den Sichtgeräten bedeckten Stirn vorbei. Eine angenehme Abkühlung, jedoch nicht ohne Nachgeschmack. Er wurde langsam stärker und wischte auch regelrecht den Boden. Überall wirbelte sich der trockene Staub und Sand der Wüste auf, genau so wie wenn mein Vater zu Hause versucht hatte irgendetwas zu backen und das Mehl in der Küche zerstreute. Jetzt war mein Schweiß schön mit Sand vermengt. Zwischen den Zähnen knirschte es beim Schließen meines Mundes. Ein Brötchen im heißen Mehlsturm. Doyle grinste und rief zu mir herüber: „Ich sag‘s dir immer wieder gern. Willkommen an dem Ort, an dem kein Schwein leben will, Kumpel!“. Er lachte halslaut hinterher, als hätte es ihm Spaß gemacht in Staub zu baden und seinen dummen Spruch voll Ironie abzugeben. Er fügte mit einem Anschein von Freude hinzu: „Mit dem Wind spielt man nicht!“, und lachte weiter. War seine Birne langsam von der Hitze durchgeschmort? War mir in dem Moment sowieso nicht so wichtig. Hingegen schien Marco das alles gar nicht sonderlich zu stören. Den störte sowieso nie etwas.
Immer wieder preschte der Wind die Sandfladen gegen uns. Die „Tankstelle“ schimmerte silbern im Staub, der Zaun klapperte noch mehr durch die Windstöße. Hinter dem Zaun und den löchrigen Metallgittern schien sich jedoch plötzlich etwas hervorzutun. Ein Fleck bewegte sich am Horizont und wurde allmählich größer. Was war das nur? War das öde Vorsichhervegetieren jetzt vielleicht vorbei? Es musste eine Person sein. Ihr Körper spiegelte sich in den Luftspiegelungen auf dem Boden, denen Pfützen ähnlich sahen. So sehr ich übrigens auch wünschte, dass es welche gewesen wären, sie waren‘s nicht. Dieses etwas kam immer näher. Es schien zu rennen mit seinen Beinen. Das mussten Beine gewesen sein, musste ein Mensch sein. „Doyle, siehst du das?“, fragte ich ihn etwas misstrauisch. „Wo denn?“, antwortete er gelangweilt. Ich rief zurück: „Da, am Horizont!“. Wie als hätte man ihn bei einem wichtigen Footballspiel gestört, stand er beinahe schon wütend auf. „Wo denn?“, fragte er lauter. Ich zeigte mit dem Finger in die Richtung. Er verstummte. Nun hatte er es auch bemerkt. Ich gebe zu, im Staub, der durch den Wind aufgewirbelt wurde, konnte man relativ schlecht erkennen, was da überhaupt war. Aber ich war mir endgültig sicher: Es war eine Person. Immer weiter kam sie näher und ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Warum sollte ein Mensch auf einen abgelegenen Außenposten zulaufen? Was heißt hier laufen? Rennen! Getrieben von irgendetwas. Marco stand auf und drückte seine schwitzigen Finger an den Abzug seiner M-16. Ich hatte ihn noch nie so ernst erlebt. Er blickte mit uns auf den Horizont. Da standen wir, zu dritt, perplex und beinahe orientierungslos. Was sollten wir tun? Nun war die Person schon bald am Zaun, höchstens 250 meter von uns entfernt. Der Staub beeinträchtigte unsere Sicht wie ein billiges Flackern von alten,zerkratzten Filmen im Kino. „Die rennt immernoch auf uns zu!“, betonte Doyle nervös. „Wisst ihr denn nicht, wie das läuft? Die schicken einzelne Personen an die Grenzen und Außenposten, um sich dann in der Nähe von unsern Soldaten in die Luft zu sprengen!“, fuhr Doyle immer nervöser fort. Ein kalter Stich machte sich in meinem Nacken bemerkbar. Hatte er etwa Recht? Von diesem Gedanken zitterten mir die Finger.
200 Meter. Warum war die Gestalt so seltsam, so klein? Doyle unterbrach die dröhnende Stille: „Man, wir können hier doch nicht einfach uns in die Luft sprengen lassen?! Marc?“. Marco antwortete nicht, starrte wie ein Falke auf die Person. Was ging wohl in ihm vor? Doyle wackelte permanent mit dem Kopf, als müsste er eine Tatsache verneinen. Immer wieder hörte ich ein leises „Scheiße!“ über seine Lippen schnellen. Die Luft roch nach modrigen Staub und allmählich begann unsere Angst ihren Geruch auszubreiten.
150 Meter. Jetzt konnte ich die Person identifizieren. Es sollte die schrecklichste Erkenntnis meines Lebens sein. „Um Gottes Willen!“, bemerkte ich mit flatternder Stimme, „das ist ein kleines Mädchen!“. Doyle sah mich beinahe schon ehrfürchtig an. Die Nervosität und Angst lief ihm die Schläfen und den Stoppeln seines Barts hinunter. Sein Blick zuckte ruckartig mal zu mir und mal zu Marco. Seine Hand umschlang fest sein Gewehr. Marco war wie angewurzelt. Er registrierte Doyle nicht mehr, geschweige denn mich. So unheimlich hatte er sich bis jetzt noch nicht benommen. Ich blickte wieder zum Mädchen. Es hatte etwas in der Hand. Mein Herz pulsierte immer schneller. Das Fieber hat sich in Todesangst verwandelt. War das etwa eine Bombe? Werden unsere Namen morgen vielleicht in den Schlagzeilen stehen? Sind wir dann etwa auch auf der Liste der unzähligen Opfer dieser Operation? Ich hatte so viel gehört, so viel gelesen. Das machte einem den Puls nur rasender. Kinder, die von ihren Eltern geschickt wurden, bestückt mit Plastiksprengstoff, den Akt auszuführen. Hatte das Mädchen etwa einen Zünder in der Hand, eine Schnalle um den Bauch? Wenn dieser verdammte Wind doch nicht gewesen wäre! Mein Schweiß brannte in den Augen wie Essig. Ich sah nur noch verschwommen.
90 Meter. Mein Puls kroch mir den Kehlkopf hoch, wie ein wulstiges Geschwür. Ich konnte kaum noch schlucken. Der Gegenstand in ihrer Hand war rot. „Scheiße!“, schrie Doyle wieder. Seine Augen waren glasig, sein Blick ein Podium der Furcht. Er hob plötzlich sein Gewehr: „Stop! Stehenbleiben!“. Was soll ein Kind darunter denn bitte verstehen? Ich spürte wie meine Muskeln alle ins vibrieren kamen vor Angst. „Stehenbleiben!“, schrie Doyle zum zweiten Mal. Ich richtete nun reflexartig auch meine Waffe auf und zielte, zielte ohne Nachzudenken. In meinem Kopf schwirrte nur eine einzige Frage: „Schießen wir oder nicht?“. Ich versuchte nicht einen Moment daran zu denken. Wir konnten doch nicht schießen. Aber an was sollten wir denn überhaupt denken? An was denkt man denn in solchen Situationen?!
Sie war fast beim Zaun. Urplötzlich schoss eine Maschinengewehrsalve von rechts heraus vorbei. Meine Seele fuhr aus meinem Körper und katapultierte sich wieder hinein. Mein Trommelfell knallte wie zersprungen. Der Körper des Kindes wurde drei Meter zurück auf den kargen Wüstenboden gescheppert. Mein Herz war erstarrt. Der Wind säuselte in meinem Helm. Ich blickte nach rechts. Doyle war der Schock ins Gesicht gebrannt. Aus dem Lauf von Marcos M-16 verflüchtigte sich der Rauch der Patronenhülsen. Er hatte geschossen. Er hatte einfach geschossen und stand immernoch so gefroren da. Alles schien versteinert, als ob seine Schüsse ein Loch in die Zeit gerissen hätten. Gedanken schossen wie Meteoriten in meinem Kopf herum und ergaben keinen logischen Sinn mehr. Ein Geflecht der Banalität. Was hatten wir getan?
Plötzlich begann Doyle zu rennen. Ohne zu zögern rannte ich ihm hinter her. Ich wusste nicht warum. Wollte ich das denn überhaupt sehen? Eine unbezwingbare Kraft trieb mich mit. Wir rannten. Marco blieb hinten zurück. Unsere Stiefel krächzten sich in die Erde dieses Landes. Wir rannten. Vorbei an der Tankstelle, vorbei am Zaun. Er glich einem dünnen Schleier. Als wir die klappernde Öffnung passierten, blieben Doyle und ich stehen. Wir waren da. Dort lag sie. Eine hellblaue Jeans und ein weißes T-Shirt hatte sie an. Ihr Blut hatte den Sand und die Kleidung befleckt. Ich vernahm kein Geräusch mehr, der Wind hatte sich gelegt. Es herrschte eine Totenstille. Ihr Arm war verdreht, aus ihrem Bauch ragten die zerfetzten Reste von Gedärm auf den trockenen Staub. In ihrem Schädel befand sich ein großes Loch. Doch es strömte kein Blut aus ihm heraus. Er lag bereits in einer Lache davon. Das was man hätte Gesicht nennen können, war nicht mehr anatomisch als das identifizierbar. Die Luft roch nach Eisen, nach rostigen Eisen. Auf meiner Zunge keimte ein metallener Geschmack, vermutlich von dem bereits verdunstenden Blut. Unter ihrem deformierten linken Arm befand sich eine selbstgenähte Puppe in rot, blutüberströmt. Das war also der Zünder? Eine Puppe? Doyle atmete schwer, seine Lippen zitterten. Speichel floß aus seinem Mundwinkel heraus. Eine Puppe. Ich übergab mich aus vollem Hals heraus auf den heißen Sand. Ich kotzte! Ich kotzte alles heraus! Ein Geschwür aus Angst, Schweiß und Gewissen. Alles, was nur ging, bis ich nicht mehr atmen konnte! Ich hatte mich krampfhaft auf den Boden gebeugt, mein Kopf zur Hälfte im Sand. Ich schnappte ächzend nach der glühenden Luft. Meine Uniform war mit Erbrochenem versprüht. Ich hörte nichts mehr, alles war ein tiefes Brummen geworden. Um mich verdunkelten sich meine Sinne. Ein Pfeifen kreischte in meinen Ohren. War das etwa der Tod? - Nein - In all dem Elend dieses Zustands fühlte ich etwas in mir heraufsteigen. Ein Gefühl, das mein Fieber, meine Angst und mein Gewissen verdrängte und mir plötzlich einen Moment absoluter Klarheit verschaffte: Ein Gefühl von Freiheit.