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Mit der Vier hatte er nicht gerechnet
„Das ist mein Junge“, sagte seine neue Freundin.
Das Kribbeln, das Herbert bereits vor dem ersten Rendezvous unangenehm in seinem Magen gespürt hatte, verstärkte sich zu einem Tornado, der alles in ihm durcheinander wirbelte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet! Dabei hatte doch alles so gut begonnen. Er hatte Renate in einer Disco über die ohrenbetäubende Musik hinweg angebrüllt, sie hatte freundlich zurückgeschrieen, nach einer Stunde waren sie nach draußen gegangen und hatten sich in normaler Tonstärke unterhalten, während ein VW Polo am Parkplatz rhythmisch schaukelte und animalische Geräusche durch ein nicht ganz geschlossenes Fenster dröhnten. Später hatten sie sich noch zweimal getroffen, und als er sie an diesem Tag nach Hause begleitete, den Arm um ihre Hüften geschlungen wie ein steinzeitlicher Jäger, der seinen Stammeskollegen signalisieren wollte, dies war seine Beute, hatte sie ihm plötzlich eröffnet, sie hätte einen Sohn.
Er hatte vor der Tür gestanden und gehofft, sie hätte nur einen Scherz gemacht oder eine dieser Fangfragen gestellt, mit denen man die Integrität eines Menschen testen wollte. Aber ihr Blick hatte ihm klar gemacht, dass sie es ernst meinte und erwartete, dass er vor Freude einen Luftsprung hinlegte und der Decke im Stiegenhaus einen weiteren Riss verpasste. Fast wie betäubt war er ihr willenlos in die Wohnung gefolgt.
Und nun stand er da und glotzte auf den unförmigen kleinen Wicht herab, der auf dem Sofa saß und den Blick ausdruckslos erwiderte.
„Alexander, das ist Herbert“, sagte Renate, kniete nieder und gab ihrem Jungen einen Kuss auf die feisten, roten Wangen.
Herbert räusperte sich. „Ahm. Hallo!“, würgte er heraus.
„Drei“, entgegnete das Kind mit monotoner Stimme.
„Oh! Ist er nicht süß?“, rief sie begeistert und zerwühlte die Haare ihres Sohnes, die auf Herbert wirkten, als hätte man sie bei seinem letzten Badetag mit einem Mixer trockengeföhnt.
„Äh, ja“, spuckte Herbert aus und widerstand tapfer der Versuchung, nicht lauthals loszulachen oder Renate zu fragen, ob sie noch andere exotische Haustiere halte. Kinder hatte er noch nie gemocht, und dieses ganz spezielle Exemplar goss den ekelhaften Schlamm seiner Abneigung geradezu in Zement.
Der Junge war nicht süß, sondern hässlich. Herbert fühlte sich bei diesem Gedanken zwar mies, aber es war die Wahrheit.
„Na, wie geht’s dir denn?“, fragte Herbert, um die peinliche Stille aufzubrechen.
„Drei“, murmelte das Kind.
Der Mann runzelte die Stirn und sah zu Renate.
„Er ist ein wenig verstört“, erklärte sie, „seit sein Vater starb. Aber im Rechnen ist er richtig gut.“
Herbert nickte benommen und wünschte sich nur noch weit fort von hier.
„Ich mach uns Kaffee“, sagte sie schließlich und verschwand in die Küche, ehe er erwidern konnte, dass er niemals welchen trank.
„Ihr könnt euch ja inzwischen ein wenig anfreunden“, flötete Renate zwischen die Geräusche von Besteck, das aus der Schublade entnommen wurde. Irgendwie schwang für Herberts Geschmack etwas Bedrohliches in ihrer Stimme mit. Als hätte sie aus purer Höflichkeit ein alternatives Szenario in Form des beliebten ‚sonst’ verschluckt. Bei seinem alten Herrn hatte ‚sonst’ die Form einer bratpfannengroßen Hand gehabt, die wie eine Laune der Natur perfekt der Kontur jeder seiner beiden Gesichtshälften angepasst war.
Hilflos starrte er Renates Filius an. „Willst du was spielen?“
Das Kind gab keinen Laut von sich, hob seinen Arm und pulte mit einem seiner kurzen, dicken Finger im Ohr. Herbert seufzte tief durch. Es hieß zwar, dass jedes Kind etwas Gewinnendes an sich hatte. Allerdings gab es keine Regel ohne Ausnahme. Und die Ausnahme dieser Regel saß ausgerechnet vor ihm und war der Abkömmling seiner Freundin.
„Scheiße“, murmelte Herbert.
Die Vorstellung, es mit Renate nach ein paar Gläsern Wein oder Sekt im Schlafzimmer zu treiben, während dieser unheimliche Junge in der Wohnung war, alles Mögliche aus seinen Körperöffnungen herauszog und „Drei“ stammelte, war zu viel für ihn. Sicher: Nicht viele alleinstehende Frauen, die sich mit Typen wie ihm abgaben, waren ähnlich attraktiv wie Renate. Aber lieber vergnügte er sich unter seinem Schönheitsideal, als noch länger diese Farce mitzuspielen.
„Kaffee ist fertig! Kommst du?“
Er riss seinen Kopf herum. Na schön: Einen letzten Kaffee würde er hinunterwürgen, ehe er Renate heuchlerisch erklären würde, dass er sich noch nicht reif für eine solche Beziehung fühlte.
„Drei“, sagte der Junge, als sich Herbert zum Gehen wandte.
Er blickte kurz über seine Schulter zurück und dachte: „Wenn man ihm die Hose auszieht, halbiert sich sein IQ.“
Herbert lächelte verkniffen und trat in die Küche ein.
Noch ehe der Schmerz eintrat registrierte er verwundert, dass ein langes Messer in seiner Brust steckte. Umso heftiger flammte die Pein in ihm hoch. Er taumelte zurück und zupfte vergebens am Schaft, als wäre er ein Elfjähriger, der an seinem Pimmel spielte. Herbert prallte gegen die Wand und blieb zitternd an sie gelehnt stehen. Mit einem breiten Grinsen kam Renate auf ihn zu. Sie hielt ein zweites Messer in Händen.
Aus dem Wohnzimmer drang Alexanders gleichgültige Stimme leise, aber klar verständlich an sein Ohr. „Vier.“