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Mit der Vier hatte er nicht gerechnet

Seniors
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02.06.2001
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Mit der Vier hatte er nicht gerechnet

„Das ist mein Junge“, sagte seine neue Freundin.
Das Kribbeln, das Herbert bereits vor dem ersten Rendezvous unangenehm in seinem Magen gespürt hatte, verstärkte sich zu einem Tornado, der alles in ihm durcheinander wirbelte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet! Dabei hatte doch alles so gut begonnen. Er hatte Renate in einer Disco über die ohrenbetäubende Musik hinweg angebrüllt, sie hatte freundlich zurückgeschrieen, nach einer Stunde waren sie nach draußen gegangen und hatten sich in normaler Tonstärke unterhalten, während ein VW Polo am Parkplatz rhythmisch schaukelte und animalische Geräusche durch ein nicht ganz geschlossenes Fenster dröhnten. Später hatten sie sich noch zweimal getroffen, und als er sie an diesem Tag nach Hause begleitete, den Arm um ihre Hüften geschlungen wie ein steinzeitlicher Jäger, der seinen Stammeskollegen signalisieren wollte, dies war seine Beute, hatte sie ihm plötzlich eröffnet, sie hätte einen Sohn.
Er hatte vor der Tür gestanden und gehofft, sie hätte nur einen Scherz gemacht oder eine dieser Fangfragen gestellt, mit denen man die Integrität eines Menschen testen wollte. Aber ihr Blick hatte ihm klar gemacht, dass sie es ernst meinte und erwartete, dass er vor Freude einen Luftsprung hinlegte und der Decke im Stiegenhaus einen weiteren Riss verpasste. Fast wie betäubt war er ihr willenlos in die Wohnung gefolgt.
Und nun stand er da und glotzte auf den unförmigen kleinen Wicht herab, der auf dem Sofa saß und den Blick ausdruckslos erwiderte.
„Alexander, das ist Herbert“, sagte Renate, kniete nieder und gab ihrem Jungen einen Kuss auf die feisten, roten Wangen.
Herbert räusperte sich. „Ahm. Hallo!“, würgte er heraus.
„Drei“, entgegnete das Kind mit monotoner Stimme.
„Oh! Ist er nicht süß?“, rief sie begeistert und zerwühlte die Haare ihres Sohnes, die auf Herbert wirkten, als hätte man sie bei seinem letzten Badetag mit einem Mixer trockengeföhnt.
„Äh, ja“, spuckte Herbert aus und widerstand tapfer der Versuchung, nicht lauthals loszulachen oder Renate zu fragen, ob sie noch andere exotische Haustiere halte. Kinder hatte er noch nie gemocht, und dieses ganz spezielle Exemplar goss den ekelhaften Schlamm seiner Abneigung geradezu in Zement.
Der Junge war nicht süß, sondern hässlich. Herbert fühlte sich bei diesem Gedanken zwar mies, aber es war die Wahrheit.
„Na, wie geht’s dir denn?“, fragte Herbert, um die peinliche Stille aufzubrechen.
„Drei“, murmelte das Kind.
Der Mann runzelte die Stirn und sah zu Renate.
„Er ist ein wenig verstört“, erklärte sie, „seit sein Vater starb. Aber im Rechnen ist er richtig gut.“
Herbert nickte benommen und wünschte sich nur noch weit fort von hier.
„Ich mach uns Kaffee“, sagte sie schließlich und verschwand in die Küche, ehe er erwidern konnte, dass er niemals welchen trank.
„Ihr könnt euch ja inzwischen ein wenig anfreunden“, flötete Renate zwischen die Geräusche von Besteck, das aus der Schublade entnommen wurde. Irgendwie schwang für Herberts Geschmack etwas Bedrohliches in ihrer Stimme mit. Als hätte sie aus purer Höflichkeit ein alternatives Szenario in Form des beliebten ‚sonst’ verschluckt. Bei seinem alten Herrn hatte ‚sonst’ die Form einer bratpfannengroßen Hand gehabt, die wie eine Laune der Natur perfekt der Kontur jeder seiner beiden Gesichtshälften angepasst war.
Hilflos starrte er Renates Filius an. „Willst du was spielen?“
Das Kind gab keinen Laut von sich, hob seinen Arm und pulte mit einem seiner kurzen, dicken Finger im Ohr. Herbert seufzte tief durch. Es hieß zwar, dass jedes Kind etwas Gewinnendes an sich hatte. Allerdings gab es keine Regel ohne Ausnahme. Und die Ausnahme dieser Regel saß ausgerechnet vor ihm und war der Abkömmling seiner Freundin.
„Scheiße“, murmelte Herbert.
Die Vorstellung, es mit Renate nach ein paar Gläsern Wein oder Sekt im Schlafzimmer zu treiben, während dieser unheimliche Junge in der Wohnung war, alles Mögliche aus seinen Körperöffnungen herauszog und „Drei“ stammelte, war zu viel für ihn. Sicher: Nicht viele alleinstehende Frauen, die sich mit Typen wie ihm abgaben, waren ähnlich attraktiv wie Renate. Aber lieber vergnügte er sich unter seinem Schönheitsideal, als noch länger diese Farce mitzuspielen.
„Kaffee ist fertig! Kommst du?“
Er riss seinen Kopf herum. Na schön: Einen letzten Kaffee würde er hinunterwürgen, ehe er Renate heuchlerisch erklären würde, dass er sich noch nicht reif für eine solche Beziehung fühlte.
„Drei“, sagte der Junge, als sich Herbert zum Gehen wandte.
Er blickte kurz über seine Schulter zurück und dachte: „Wenn man ihm die Hose auszieht, halbiert sich sein IQ.“
Herbert lächelte verkniffen und trat in die Küche ein.
Noch ehe der Schmerz eintrat registrierte er verwundert, dass ein langes Messer in seiner Brust steckte. Umso heftiger flammte die Pein in ihm hoch. Er taumelte zurück und zupfte vergebens am Schaft, als wäre er ein Elfjähriger, der an seinem Pimmel spielte. Herbert prallte gegen die Wand und blieb zitternd an sie gelehnt stehen. Mit einem breiten Grinsen kam Renate auf ihn zu. Sie hielt ein zweites Messer in Händen.
Aus dem Wohnzimmer drang Alexanders gleichgültige Stimme leise, aber klar verständlich an sein Ohr. „Vier.“

 

Hallo ihr,
danke für eure Kommentare! Noch kurz was dazu:

Klaus K schrieb:
Und vor allem: Warum bringt die Frau den Typen um?

Eigentlich liegen die Zusammenhänge ja auf der Hand. Frau hat hässliches Kind, liebt ihr Kind, andere lehnen es ab, sie liebt es noch mehr, es wird noch mehr abgelehnt, sie entwickelt Hass der so groß wird, dass sie einen umbringt. Das unintelligente aber schlaue Kind merkt, wie es sich lästige „Konkurrenten“ vom Hals schaffen kann, und stellt sich noch blöder, als es schön von Natur aus ist.
So kann man sich das denken – oder soll der Leser sich das denken?


Wow! Also dermaßen hinterfragt habe ich eine Story im Bereich "Humor" noch nie. ;) Soll heißen: Das ist einfach nur ein kleiner, blutiger Sketch, eine anscheinend missglückte Humor-Episode, wenn ich den vielen negativen Stimmen Gehör schenken darf. Eine ernsthafte Geschichte von mir sieht doch ein wenig anders aus und erklärt natürlich weitaus mehr. Vielleicht wagst du dich ja mal an eine meiner wenigen anderen Geschichten.

Außerdem könnte die Pointe dann auch vorbereitet werden, dann wäre sie nämlich nicht nur überraschend, sondern sie würde auch noch etwas auflösen, und das denke ich, zeichnet eine wirklich gute Pointe aus.

Hm. Da stimme ich dir zwar nicht zu, aber das ist ein interessanter Aspekt.

 

Moin Rainer,

mir hat sie ganz gut gefallen. Fand sie nicht unbedingt markerschütternd komisch, aber die Idee mit dem hässlichen Kind gefällt mir, das irgendwie halbautistisch da rumsitzt und ihn davon abhält sich wohlzufühlen. das ist gut. die pointe kommt dann relativ vorhersehbar, aber nicht schlecht.

Gut zu lesen.

besten Gruß
krilliam Bolderson

 

Hallo Rainer,

als ich deien geschichte kurz nach dem Posten zum ersten Mal las, hielt ich sie eindeutig in der Kategorie verfehlt. Dann hat mir jemand (der gar nicht kommmentiert hat :hmm: ) aber von den witzigen, kleinen Beobachtingen vorgeschwärmt, so dass ich sie nochmal gelesen habe.

Er hatte recht.

Gruß, Elisha

 

Hallo Reiner,
Schön fies und gefallen hat sie mir auch. Ich hätte nur gerne gewusst, warum die Dame ihre potentiellen Liebhaber abmurkst.

Lg
Goldene Dame

 

Danke für eure Kommentare und fürs Lesen.

Goldene Dame schrieb:
Ich hätte nur gerne gewusst, warum die Dame ihre potentiellen Liebhaber abmurkst.

Machen das nicht alle Frauen so? :confused:

 

Hallo Rainer,

die Idee der Geschichte ist natürlich, dass die "vier" unvermittelt kommt. Dadurch wird die Tat nicht nachvollziehbar. Es entsteht in mir ein Paradoxon. Ich möchte den Mord (oder Mordversuch) gern verstehen, weiß aber, dass er die Geschichte verschlechtern würde.
Stilistisch, selbst, wenn ich auf Stilregeln ja eher allergisch reagiere, fallen mit in diesem Text die vielen "dass" wirklich unangenehm auf.

und als er sie an diesem Tag nach Hause begleitete, den Arm um ihre Hüften geschlungen wie ein steinzeitlicher Jäger, der seinen Stammeskollegen signalisieren wollte, dass dies seine Beute war, hatte sie ihm plötzlich eröffnet, dass sie einen Sohn hatte.
fast jedes deiner neun in diesem Text verwendete "dass" ließe sich problemlos ersetzen, hier zum Beispiel so: und als er sie an diesem Tag nach Hause begleitete, den Arm um ihre Hüften geschlungen wie ein steinzeitlicher Jäger, der seinen Stammeskollegen signalisieren wollte, dies war seine Beute, hatte sie ihm plötzlich eröffnet, sie hatte einen Sohn.
Er hatte vor der Tür gestanden und gehofft, dass sie nur einen Scherz gemacht oder eine dieser Fangfragen gestellt hätte, mit der man die Integrität eines Menschen testen wollte.
auch hier könntest du schreiben: gehofft, sie hätte nur einen Scherz gemacht ..."
Da du von Fangfragen im Plural schreibst, muss es auch heißen: "mit denen man die Integrität
Bei seinem alten Herrn hatte ‚sonst’ die Form einer Bratpfannengroßen Hand gehabt
bratpfannengroßen ist ein Adjektiv. Tserk hatte auch schon drauf hingewiesen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Rainer!

Mir hat Deine Geschichte gut gefallen! Ich sehe aber auch keinen häßlichen Jungen, nur einen, der weiß, was gespielt wird. Er sitzt nur da und wartet, daß er eins weiterzählen kann ... :lol: Naja, ein bisschen makaber ist es halt ... :D Und eigentlich auch ganz furchtbar traurig! :heul:

mit einem Mixer trocken geföhnt.
zusammen: trockengeföhnt

die Form einer Bratpfannengroßen Hand
Adjektiv: bratpfannengroßen

und „Drei“ stammelte
„drei“

Nicht viele allein stehende Frauen
Ich glaube, nach der ganz neuen Reform gehört das wieder zusammen: alleinstehende - bin mir aber nicht sicher, hab noch keinen ganz neuen Duden.

Wenn man ihm die Hose auszieht, halbiert sich sein IQ.
Kannst Du mir sagen, warum ich beim Lesen des Satzes plötzlich daran denken mußte, daß ich heute eine ganze CD voll mit Anti-Bush-Liedern gesehen habe? :susp:

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Danke an alle Kritiker für die guten Änderungsvorschläge, die ich übernehmen konnte. Die inflationäre Verwendung von "dass"-Konstrukten wäre mir übrigens nicht aufgefallen, wenn es nicht angesprochen worden wäre. Es hat schon seinen Sinn, hier seine Ergüsse zu posten.

 

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