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Mit Melzers am Pazifik
Mit Melzers am Pazifik
Sie fuhren zu viert im Mietwagen den Highway 101 entlang, vorbei an endlosen Wäldern, in denen ab und zu wie Zahnlücken ein paar abgerodete Stellen auftauchten. Gelegentlich sah man einige Häuser, die klein und kümmerlich wie Spielzeug auf den Feldern herumlagen.
“Wie die hier hausen!" Torsten schüttelte den Kopf.
“Ich find’s romantisch”, schnappte Annette sofort. Kurz nach Vancouver hatten die beiden ihr gehässiges Heckmeck begonnen und es war kein Ende in Sicht. Judith lehnte sich im Sitz zurück und wechselte einen kurzen Blick mit Tom. Er verdrehte die Augen. Warum waren sie nur nicht allein in den Urlaub gefahren?
Zuerst war ihr die Idee so wunderbar erschienen. Judith und Tom hatten bei einem der üblichen Gelage in ihrem Freundeskreis von ihrem letzten Urlaub in Kanada geschwärmt und verkündet, dass sie auf jeden Fall im nächsten Sommer wieder dorthin wollten. Torsten und Annette hatten ihnen begierig an den Lippen gehangen und als Annette meinte: ”Das wär doch auch mal was für uns, Schatz”, da war es passiert. Geschmeichelt von all der Aufmerksamkeit und berauscht von ihrer eigenen Gönnerhaftigkeit hatte Judith sich nicht mehr bremsen können. Der Satz : “Dann kommt doch einfach mit!”, war wie ohne ihr Zutun aus ihrem Mund gesegelt.
Toms warnenden Blick hatte sie weinbeduselt ignoriert und ihnen allen einen Urlaub zu viert in den schönsten Farben ausgemalt. Die Lachse! Die Berge!
“Bist du von allen guten Geistern verlassen?”, hatte Tom sie angeschrien, nachdem alle gegangen waren. “Annette, die wandert doch nur von Modegeschäft zu Modegeschäft! Und Torsten isst nur, was Annette kocht, hast du das vergessen?”
Er hatte ja Recht, das regte sie insgeheim am meisten auf. “Sie waren aber wirklich interessiert. Warum soll es ihnen denn nicht genauso gut gefallen wie uns? Hast du Kanada für dich alleine gepachtet?”
“Melzers können gern nach Kanada reisen!”, hatte Tom zurückgebrüllt. “Sie können nach Baghdad und nach Oberwiesenthal fahren, es ist mir egal. Aber nicht mit uns!”
Wütend hatte er seine Teetasse auf den Küchentisch geknallt. Von der Wucht des Aufpralls war der Henkel abgebrochen und anklagend wie ein abgeschnittenes Ohr zwischen sie gefallen. In dieser Nacht hatte sie voller Zorn allein auf der Couch geschlafen.
Die darauf folgenden Wochen waren die bislang schwersten in ihrer Beziehung gewesen. Judiths klägliche Versuche, Melzers die Reise wieder auszureden, wurden von Torsten und Annette mit einem erstaunlichen und geradezu missionarischen Eifer abgeschmettert. Man hätte glauben können, sie wollten nach Kanada ins Exil, so gründlich bereiteten sie sich vor. Und es war Torsten, der vorgeschlagen hatte, doch auch einen Abstecher nach Amerika zu machen, wenn man schon einmal da in der Nähe war.
“Na, klasse”, hatte Tom sich aufgebracht bei Judith beschwert. “Jetzt rücken wir auch noch mit Melzers bei George Bush ein. Halleluja.”
In Judith dämmerte in diesem Moment die Erkenntnis, dass er sie fortan für alles Negative auf dieser Reise verantwortlich machen würde.
Wie Recht sie hatte.
Das Auto machte einen ruckelnden Satz nach vorn.
“Scheiß Automatik”, knurrte Torsten. “Der Ami hat wirklich keine Ahnung von Autos.”
Seit ihrer Grenzüberquerung hatte Torsten entschieden, dass Amerika in jeder Hinsicht seiner Heimatstadt Leipzig-Gohlis unterlegen war. Hatte er die Kanadier noch mit misstrauischem Schweigen begutachtet, so nahm er nun kein Blatt mehr vor den Mund.
“So beschissen wie du fährst, ist es egal, ob Schaltung oder Automatik”, kommentierte Annette gehässig.
“Wenn du am Steuer sitzt, kommen wir in Texas raus”, konterte Torsten. “Bei dem Typen mit der Kettensäge.” Die Vorstellung schien ihm Freude zu bereiten und er lachte kurz auf.
Sie waren auf dem Weg nach La Push, dem Indianerreservat, wo sich der schönste Strand des Pazifiks befinden sollte.
“Können wir mal anhalten, ich muss mal.” Judith versuchte, die beiden Kampfhähne abzulenken. Außerdem wollte sie hier raus, der miefigen Enge des Autos wenigstens für ein paar Minuten entfliehen.
“Da drüben!” Annette zeigte aufgeregt mit dem Finger auf ein riesiges Gebäude, das von spastisch zuckenden Leuchtreklamen umgeben war. “Ein Kasino! Da gibt es doch bestimmt ein Klo!”
Obwohl Annette natürlich Recht hatte, fuhr Torsten störrisch weiter. Die Baseballmütze, die er sich in Vancouver gekauft hatte, verkleinerte auf merkwürdige Weise seinen Kopf und verlieh ihm ein verschlagenes Aussehen.
Es fing an zu regnen. Stumm fuhren sie durch die eintönige Landschaft. Was im Sonnenschein der heimatlichen Planung noch hochinteressant gewirkt hatte, erschien Judith nun wie eine Fahrt durch die Kammern der Vorhölle.
“Ich muss wirklich ziemlich dringend”, versuchte sie es erneut.
“Ich auch”, meldete sich Tom.
Diesmal hielt Torsten an.
“Joey’s Cafe ” entpuppte sich als ein Kramladen von der Größe einer Zweizimmerwohnung, mit drei klapperigen Tischen und einer Art Tresen, über dem seltsames Angelgerät und ein riesiger Fisch hingen.
“Uh, ist der echt?”, flüsterte Annette beeindruckt.
“Is he true?”, fragte Tom laut den alten Mann und zeigte auf den Fisch. Wenn er doch nur mir das Reden überliesse, dachte Judith verzweifelt. Der alte Mann schien sich nicht an Toms verhunztem Englisch zu stören.
“Sure, it’s real”, sagte er freundlich und steckte wie zum Beweis seinen Finger in das riesige Maul. Annette kicherte albern.
Sie tranken einen bitteren Kaffee und guckten dem alten Mann beim Arbeiten zu.
Er sortierte grau aussehende Sandwiches in den riesigen Kühlschrank im Verkaufsraum ein.
“Was für’n Job”, murmelte Torsten.
“Wieso?” Judith fühlte plötzlich Wut in sich aufsteigen. “Was ist denn daran so schlimm?”
“Na weißt du …” Torsten guckte sie belustigt an.
“Es ist doch auch nicht anders, als bei Edeka Regale einzuräumen! Oder im Büro zu hocken!”, fügte Judith mit einem Seitenblick auf Annette hinzu.
“Spinnst du? Was ist denn mit dir los?” Torsten wies verächtlich auf den Laden.” Wer kauft denn den Mist hier, es kommt doch kaum einer vorbei!”
“Indianer schießen sich ihr Essen”, leistete Tom seinen Beitrag.
“Ich werde mir eins kaufen!” Judith sprang auf und marschierte in Richtung Kühlschrank.
Welcher Teufel hatte sie nur geritten, ihre kostbare Urlaubszeit mit dermaßen blöden Leuten zu verbringen. Diese Melzers färbten regelrecht auf sie und Tom ab. Wenn sie es recht bedachte, war Tom genauso idiotisch wie die beiden anderen. Von Anfang an hatte diese Reise unter einem schlechten Stern gestanden. Nichts konnte sie so genießen, wie sie es erhofft hatte. Torsten hatte seit zehn Tagen nonstop die hiesigen Benzinpreise mit denen in Deutschland verglichen und Annette war dauernd auf der Jagd nach Schnäppchen, wenn sie gerade einmal nicht an Torsten herumkritisierte. In Tom hatten sich seit Urlaubsbeginn die unangenehmen Eigenschaften wie ein Krebsgeschwür vermehrt. Seit wann bohrte er sich öffentlich in der Nase? Seit wann hatte er eine Vorliebe für Countrymusik? Und seit wann kam so ein Unsinn aus seinem Mund? Indianer schießen sich ihr Essen!
Sie zerrte die Kühlschranktür auf. Ein paar länglich gerollte Wraps lagen auf den Metallregalen wie in einer Leichenhalle.
Judith griff wahllos eins heraus und ging zur Kasse.
“He, wir fahren noch zu den heißen Quellen”, rief Tom ihr zu. “Haben wir gerade spontan beschlossen.”
Sie waren ja so hip und cool und impulsiv.
“Four ninetynine”, sagte der alte Mann und grinste.
“ Welcome to Sol Duc” , verhieß das große Holzschild am Waldrand und gab dem rustikalen Campingplatz einen Hauch von Carlsbader Pracht des neunzehnten Jahrhunderts. Dass es sich um Schwefelquellen handelte, war nach ein paar Sekunden ihres Aufenthaltes klar. Ein penetranter Geruch nach faulen Eiern umhüllte den ganzen Ort. Sie bekamen den Schlüssel für ein Holzhaus mit zwei Zimmern ausgehändigt, das einzige, was noch frei war und naturgemäß das teuerste.
“Hundertfünfzig!” Torsten konnte es nicht fassen und wiederholte die Summe immer wieder, als ob sie sich dadurch auf magische Weise halbieren würde. Was man dafür alles in Gohlis kaufen konnte! Schwindelig konnte es einem da werden!
Judith schloss erleichtert die Tür hinter sich und warf sich auf das Bett. Alles, wozu sie Lust hatte, war ein Buch zu lesen und zu schlafen. Tom machte die Tür wieder auf und rief munter ins Nachbarzimmer: “Wer kommt mit zur Quelle?”
Judith konnte die beiden sehen, wie sie stumm im Zimmer herumliefen und alles in Augenschein nahmen. Sie kamen ihr vor, wie zwei exotische Tiere, die sich an einen neuen Zoo gewöhnten.
“Komm schon!” Tom zog sie wieder hoch.“Wir wollen doch ins Wasser.”
Annette und Torsten saßen schon in der übelriechenden Brühe und stritten sich. Annette trug einen Bikini aus einer Art Makramee, der auf beunruhigende Weise wie selbst gebastelt aussah.
Das Wasser war heiß und blubberte schwefelig um sie herum. Stämmige Frauen mit Badekappen durchpflügten das Wasser langsam wie grasende Dinosaurier. Mit jeder Bewegung wirbelten sie neue Gestankschwaden auf, als litten sie alle an schrecklichen Blähungen.
“Schön hier”, sagte Annette.
“Sauteuer”, meinte Torsten.
“Ich muss raus, mir ist es zu heiß”, keuchte Judith.
Später in der Nacht lag sie mit offenen Augen neben Tom. Er hatte versucht, sie an sich zu pressen, hatte ihre Brust gestreichelt und angefangen zu stöhnen. Aber alles, was ihre Sinne wahrnahmen, war der Geruch nach faulen Eiern auf seiner Haut.
“Ich bin total müde”, hatte sie ihn abgewehrt. Beleidigt hatte er sich umgedreht und lag nun ebenfalls noch wach neben ihr. Zu allem Überfluß hörten sie nun Annettes gedämpfte Stimme aus dem Nachbarzimmer.
“Ja, wo ist denn der kleine Schatz?”, gurrte Annette. “Wo ist denn mein süßer Liebling? Wer will denn jetzt groß und stark werden?”
Etwas rumpelte laut und sie konnten Torstens Stimme vernehmen, die heiser schnaubte: “Nun nimm ihn schon in den Mund, verdammt noch mal!”
Ich halte das nicht aus, dachte Judith.
Am schlimmsten aber war die Erkenntnis, dass die grässlichen Melzers sich, im Gegensatz zu ihnen, nachts wieder versöhnten.
La Push war eine furchtbare Enttäuschung. Ein substanzloser Ort mit flachen Häuschen, der an ein verlassenes DDR Kinderferienlager erinnerte.
Der Strand hingegen war großartig. Sogar Torsten war verstummt und schoss unzählige Fotos, die er in qualvollen Stunden des geselligen Miteinanders wieder herauskramen würde.
Judith atmete tief ein. Der weiße Sand, das riesige Treibholz, die Felsen, der fischige Geruch.
Das war das wahre Leben. Der fischige Geruch war ein bisschen zu aufdringlich.
Sie schaute sich suchend um. In einiger Entfernung sah man eine große Masse am Strand, zu dellig für einen Felsen. “Guckt mal”, sagte sie.
Beim Näherkommen wurde der Geruch immer unerträglicher.
“Ach du Scheiße!” Annette hielt sich angeekelt die Hand vor den Mund.
Vor ihnen lagen, riesig und verwesend, die Reste eines Walfisches.
Stumm starrten sie auf das poröse, zerfetzte Fleisch, die hellen Knochen und das Gesumme und Gewimmel von Kleinstorgansimen.
“Ich glaub, ich muss kotzen”, Tom drehte sich zur Seite.
Judith tat der Wal so leid. Er war aus seinem Lebensraum geschleudert worden und daran verendet. Auch ihre Beziehung zu Tom würde die ungewohnte Umgebung nicht überleben.
“Geil!” Torsten sprang wie ein Reporter um den Kadaver herum und knipste.
“Oh Gott, meine Schuhe!”, schimpfte Annette.
Sobald sie zu Hause waren, dachte Judith, würde sie ausziehen und sich alleine eine Wohnung suchen.