- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Mittwoch
Bericht über einen Mittwoch, geschrieben von Colin, April 2005
Im Sommer gab es für Colin tausend guter Gründe, morgens kurz vor Sechs aufzustehen. Die noch herbe Müdigkeit lag ihm tief und schwer in den Gliedern, aber es machte ihm nichts aus, gegen sie anzukämpfen, wenn er nur wusste, dass er diesem Tag dadurch mehr abgewinnen konnte. Was gab es denn schöneres als ein prächtig heller und heißer Sommertag, den man mit einem Freunde in den milden Schatten einer Großstadt verblödeln konnte? Gewiss nichts, zumal man keine baldige Aussicht auf Ferien im Ausland haben konnte und einem die Pflicht der Berufsschule rief.
Dies war nun also ein Mittwoch, heute würde er nicht im Büro sitzen, eingekerkert hinter vier Wänden, sondern würde im Klassenzimmer die Erläuterungen seines Lehrers in sein Gehirn aufnehmen und etwas Fachmännisches lernen. Jedenfalls hatte er sich dies zum Vorsatz gemacht, wie schon oft.
Endlich erwacht und schon sehr gespannt sattelte Colin seinen Rucksack und verließ die Wohnung. Rasch schloss er die Tür hinter sich und stieg in den Lift, den er nur Augenblicke zuvor kurzerhand per Knopfdruck gerufen hatte. Als er durch den Eingang des Blocks nach draußen gelangte und die bereits zunehmende Hitze seinen Körper durchdringen spürte, löste sich auch sein letztes Bedürfnis nach Schlaf und er setzte gierig seine Kopfhörer auf, aus denen sogleich laut und tosend die Gitarrenklänge eines Punksongs dröhnten. Colin spürte es, dieser Tag versprach viel, dieser Tag barg noch einige kostbare Überraschungen.
Im Klassenzimmer saß Colin in der hintersten Reihe. Neben ihm saß Rich, dem er schon viele Spitznamen gegeben hatte, viele lustige und wahre Namen. Sie unterhielten sich oftmals mit einem schlimmen Überschwang an Betonung und Unernst und es gelang ihnen nur selten, während des Unterrichts nicht aufzulachen oder zu kichern und dem Lehrer eine gewisse Ehrerbietung darzubringen, indem sie seiner Stimme horchten und ihn nicht störten oder belästigten. Colin wusste dann immer sofort: Nun wäre der gute Vorsatz dahin und verspielt, er könnte seiner Unlust aufzupassen nicht mehr entsagen und entrinnen.
Bald war der Lehrer still geworden, seine Erklärungen in Physik und Baustoff hatte er gehalten und verteilte nun Aufgabenblätter dazu. Doch was kümmerte das die beiden? Was bedeutete dieses Papier mit den vielen Fragen denn schon? Bedeutete es soviel, wie ihr kindlicher und ersehnter Spaß bedeutete? Unberührt und unbeachtet blieb das Blatt vor ihnen liegen, sie erzählten einander flüsternd von ihren neusten Erlebnissen des vergangenen Wochenendes. Plötzlich kam der Lehrer herbei, strengen und grimmigen Blickes wanderte er an ihnen vorbei, die beiden Scheinheiligen machten sich hurtig daran, dem leeren Papier eine gewisse Wichtigkeit beizumessen. Hoffentlich hatte er es nicht bemerkt! Aber irgendwie wussten sie doch, dass er es ahnte, dass er es in seinen Lehrergliedern spürte, so wie ein Tier mit Instinkten.
»Glaubst du, die Quarktasche wird einen Vermerk über uns machen?«, fragte Rich leise und schielte dabei schnell zu Colin herüber.
»Vielleicht, weiß nicht«, gab dieser zurück, »Du, ich hab einen neuen Namen für die Quarktasche!« Sofort huschte Rich ein Grinsen über das Gesicht, man sah ihm an, er wollte schon jetzt lachen. »Sieh ihn dir doch mal an, findest du nicht auch, er ähnelt vielmehr einer Apfeltasche?« Kaum hatte er es ausgesprochen, schlugen sich die Beiden die Hände aufs Maul, aber ihr Lachanfall leistete derart großen Widerstand, dass ihnen die Augen rot anschwellten und Tränen liefen. Zum Glück, die Apfeltasche hatte es nicht mitbekommen!
Unerwartet leicht hatten die zwei Freunde den Morgen umgebracht, er war so schnell verflogen wie zwei flüchtige Minuten. Nun streiften sie munter und glücklich durch die Großstadt, tauchten in die lieben Schatten der Hochhäuser und kamen immer wieder an die brennende Sonne, deren goldene Strahlen überall, in jedem Fenster und auf jedem Metall glänzten und glitzerten. Sie besuchten die reiche Bibliothek, durchstöberten sie und zogen weiter in ein Musikgeschäft, durchforschten wählerisch einige Reihen CDs und gingen dann sogleich wieder weiter, um in einer kleinen, duftenden Bäckerei zwei belegte Brötchen zu kaufen und den Hunger zu stillen. Schon läuteten die Glockentürme, es war bereits ein Uhr um! Erschrocken eilten die beiden in die Schule und zum Unterricht zurück, Colin konnte diesen Leichtsinn kaum fassen und erfreute sich an der Springerei, als wäre es ein unschuldiger Zeitvertreib, als wäre es ein Spiel.
Den Nachmittag hindurch waren sie etwas beherrschter gewesen. Eine kleine Erschöpfung hatte sich ihrer bemächtigt, da sie gerade noch rechtzeitig ins Klassenzimmer geplatzt kamen und sich ohne Entschuldigung hinsetzten durften. So blieben sie müde und gebändigt auf ihren Stühlen sitzen und genossen es, nicht immerzu reden zu müssen, nicht immerzu die Stimme benutzen zu müssen, auch einmal ruhig und anstrengungslos lauschen zu können, was ein jener wie der bejahrte und senile Lehrer von sich gab. Und er hatte wahrhaftig so einiges zu erzählen und zu verkünden, er schwatzte da von allerlei Dingen, von algebraischen Formeln, von chemischen wie physikalischen Gesetzen, von Axiomen, von Anwendungsbereichen für dies und jenes und noch von vielem mehr. O weh, dass man all diesen Unfug zu verstehen hatte! Rich ließ überfordert den Kopf hängen, seine Augen wollten ihm zufallen, doch er versuchte dagegenzuhalten.
»Hast du eine Uhr?«, wollte Colin wissen und riss seinen Kameraden aus seinem verträumten Zustand. Verduselt richtete dieser sich auf und schien einen Augenblick lang nicht recht zu wissen, wo er war und was um seine schlaftrunkene Gestalt geschehen sei. Doch er kam zur Besinnung, stöhnte tief und lange einen Seufzer und richtete dann seinen noch unklaren Blick auf seine Uhr, wo er erst etwas verweilen musste, bis es gelang, die Zeit abzulesen.
»Noch eine Lektion«, antwortete Rich dann und lehnte sich betroffen und gequält über den Tisch, als wollte er sich auf ihn niederklatschen lassen, um wieder ins Traumland zurückzuschweben. Colin verstand ihn, er fühlte sich selbst nicht besser. Ach, diese umständliche, langweilige, trostlose Schule! Aber das Turnen würde er schwänzen, schwor er sich und war zuversichtlich, dass Rich ihm dies gleichtäte.
Auf denn! Sie waren dem Lehrer und seinem lästigen Sport entkommen, sie hatten sich in der Turnhalle einfach nicht blicken lassen und die anderen brav unter sich verlassen. Jetzt waren sie frei! Sollten ihre Mitschüler halt ihr Fußball, ihr Basketball, ihr Unihockey kriegen, ihnen war es einerlei, höchstens zuwider.
»Vortrefflich!«, meinte Colin, »Ich bin wirklich froh, dieses widerliche Herumgehopse in kurzen Hosen nicht ertragen zu müssen.« Sein Freund pflichtete ihm bedenkenlos bei: »Du sagst es!«
Sie bummelten noch ein wenig durch die hübsche Großstadt, diese lag nun bereits im dunklen Orange des Sonnenuntergangs und warf jeden Schatten weit ihn den Osten. Man merkte, es war der Abend am Werke, die Nacht hatte sich ans Schaffen gemacht und bräche baldig schon über alles herein. Dies war ihr Stichwort, sofort wurden Blicke getauscht und beide nickten mit einem breiten Grinsen. Es war wieder einmal ein Abend des Rausches angesagt und als sie ihr Stammrestaurante erreichten, brodelte der Himmel über ihnen bereits in einem tiefen Rot, der Colin an Wodka und wunderbare und phantastische Cocktails erinnerte.
»Das Himmelszelt ist voller Resignation, Rich.«, sagte er, als sie sich setzten. Rich nickte lächelnd; er wusste es bereits.
Sie bestellten und ließen sich zwei farbige Gemische aus verschiedensten Feuerwässerchen bringen. Wie lustig und bunt dieses Zeug aussah! Die beiden konnten es nicht erwarten, sie mussten jetzt gleich anstoßen und davon probieren. Zufrieden stellten sie die hohen Gläser wieder hin, der erste Schluck war getan und verbreitete nun eine wohltuende Wärme in ihren Körpern.
»Bekömmlich!«, rief Rich geradezu schockiert.
»Exzellent!«, stimmte Colin ihm zu, »Lass uns austrinken und gleich nochmals bestellen!« Wuchtig hatte man die Cocktails in den Schlund geschüttet, man bestellte wieder und wiederholte die Szene. Im Hintergrund hörten sie einen Song, staubig, träumerisch und rhythmisch, er überwältigte sie wie eine überhohe Welle und ließ sie lachen, reden und trinken. Wieder wurde bestellt, wieder leergetrunken, zwei weitere Gläser tanzten auf ihrem Tablett zu ihrem Tische heran und ließen sich leeren. Wie viele waren diese nun gewesen? Ihr Blut schien zu kochen, ihr Puls schien rasend wie im Wahn. Soviel Leben auf einmal! Soviel Zauber und Magie, soviel Kosmos! Wohl waren tausende von Gläsern ausgetrunken, jetzt war es an der Zeit zu bezahlen und zu gehen. Colin dachte an heute morgen, er dachte an die vielen Überraschungen des Tages und daran, dass er nicht sehr viele von ihnen entdeckt und erlebt hatte. Doch es war ihm egal, Tage gab es ja noch zu genüge! Und außerdem stand er jetzt im Feuer, im Feuer des Rausches, das ihm alles Gewissen versengte.
Als Colin am Bahnhof angelangt war, befand er sich alleine auf dem Peron. Die tiefe Dunkelheit der Nacht deckte alles um ihn herum ein und er fühlte sich sehr einsam. Wo war Rich nur hingegangen? Er musste ihn irgendwo aus den Augen verloren haben. Dennoch machte Colin nicht Kehrt, Rich würde alleine gewiss zurecht kommen. Schließlich war er doch sein Freund, sein Kamerad, sein Sportsfreund!
Glücklich und müde ließ Colin sich im Zug auf den Sitz fallen. Es war schön nicht mehr unter dem freien und schwarzen Himmel weilen zu müssen. Er versuchte sich nochmals an den Abend zu erinnern, doch die Bilder rauschten nur traumschnell an ihm vorbei und zeigten wenig Klares. Gelegentlich meinte er ein freundliches und lächelndes Gesicht zu sehen, blitzende Augen in einem dämmrigen Licht. Auch an die Klänge und Geräusche konnte er sich nur schwer zurückerinnern, alles klang und toste durcheinander, keine Stimme war zu verstehen. Aber er lachte trotzdem, das war ja doch sehr amüsant, das war doch bestimmt nicht minderer als das Gewohnte und Normale!
Im Verlaufe der Zugfahrt fiel ihm ein Mädchen auf, ein sehr liebliches, ein sehr hübsches. Mutig lächelte er dem Mädchen zu und war sicher, sie zurücklächeln gesehen zu haben. Doch dann überkam ihn eine brutale Müdigkeit und zwang ihn, seine Augenlider zu schließen. Schnell ließ er noch den Gedanken sein Gemüt durchgeistern, was für ein launischer Tag dies doch gewesen sei. Aber dann übermannte ihn der Schlaf und er geriet in eine tiefenlose Vergessenheit.
Nachlass, Gedanken zum Bericht, Notizen:
Oft will es uns so scheinen, als vergingen viele Tage, deren Inhalte ohne große und wichtige Ereignisse sind. Sie mögen vielleicht gute Tage, erträgliche Tage und angenehme Tage sein, doch eben nicht sehr schöne, nicht sehr spannende, nicht sehr wertvolle. Tatsächlich kommen uns die meisten wie leere und öde Wüstenbesuche vor, die letzten, ausgehauchten und unnötigen Augenblicke, bevor man das Leben verlässt.
Nun, es war dem Menschen stets ein starkes Bedürfnis Glück zu empfinden, und gewiss, was wäre das Dasein ohne dieses einzige Hochgefühl, was wäre es ohne die süße und seltene Harmonie in unserer ständig strapazierten Seele? Und dies besonders in unserer heutigen Zeit, die von so viel Hektik, Arbeit und Sorgen geplagt ist! Wir denken hierbei gewiss nicht daran, dass wir auch des Glücks überdrüssig werden könnten, denn wie sollten wir auch, da es allem Anschein nach das einzige ist, worin sich der Sinn des Lebens spiegelt und manifestiert? Nirgends nimmt dieser Sinn mehr Gestalt an, als hierin, im Glück. Aber wir wissen es, wir kennen dieses Überzuckertsein, dieses ja eigentlich völlig kitschige und geschmacklose Immerzuglücklichsein und wenn es uns erst einmal erfasst hat, dann wird uns ganz fürchterlich zumute und es verlangt uns dringend danach, alles mit einem Male zu erbrechen, um wieder Frieden zu finden.
Ich habe beiderlei nicht selten erlebt, ich habe die toten wie die ekstatischen Tage zu genüge gekostet und vielerlei aus ihnen mitnehmen können. Doch die wichtigste Lektion war mir immer gewesen, dass kein hingebrachter Tag, sei er ein lebensfreudiger oder nur ein leidlicher, sinnlos ist, dass kein Tag völlig leer, völlig umsonst und vergebens dahingeht.