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Mittwochs in der Stadt
Der Taxifahrer bog zum fünften Mal falsch ab. Das war naheliegend, denn Rosa hatte ihm beim ersten Mal nicht gesagt, dass er auf eine falsche Strasse eingespurt war. Sie liess ihn den Blinker setzen und der Herr jungen bis mittleren Alters – zumindest sein Hinterkopf sah nach mittlerem Alter aus; bereits etwas kahl aber mit aufmüpfigen, leicht abstehenden Ohren und Sommersprossen im dunklen Nacken – kurvte das gelbe Schiff um eine graue Hausecke, an der Strasse reihten sich blühende Bäume vor den rostigen Backsteinhäusern.
Rosa seufzte leise, langsam doch leicht beglückt über diese unerwartete Wendung ihres Schicksals – so sah sie die Verwechslung – und liess sich in ihren warmen Sitz sinken. Sie wühlte in ihrer kleinen Tasche, die die Textur und Form eines Strandkorbes hatte und beförderte eine Sonnenbrille hervor, die sie sich auf die zierliche Nase schob. Die katzenartig geschwungenen Gläser waren unverhältnismässig gross für ihr Gesicht, aber trotzdem sah es, sehr zu ihrem Wohlgefallen, eher modisch als lächerlich aus. Dann kurbelte sie das störrische Fenster runter, und sofort schwappte die städtische Frühsommerhitze ins Auto. Das Taxi bremste.
Bereits bei der dritten irrtümlichen Abbiegung hatte Rosa nach einem Blinzeln zum Navigationsgerät des Fahrers festgestellt, dass er aus Versehen nochmals die Wunschadresse des vorherigen Fahrgastes gewählt hatte statt ihrer.
Baumgartenstrasse 34.
Was für eine bedeutungslose, alltägliche, ja fast schon schöne Adresse für solch einen entwürdigenden Ort. Rosa stellte sich vor, wie die anderen wohl bereits dort eingetroffen sein mussten, oder vielleicht kamen sie gerade erst an und traten aus ihren Autos auf die sonnengefleckte Strasse. Hohe Birken hatten sie ihr versprochen, das Grundstück sei umgeben von hohen Birken. Oliver stand bestimmt schon seit einer Viertelstunde vor der Türe, den Wagen drei Häuser weiter korrekt in ein rechteckiges Parkfeld geparkt, sein Blick genervt auf dem Smartphone. Sie stellte sich vor, wie Amelies Füsse sich einige Minuten später auf die Hausnummer 34 zubewegten, leichte Schritte, verschwendete Eleganz. Und wie ihr Mann Harald hinter ihr herging, in dieser fast schon schlurfenden Gangart reicher Leute, die meinen, keine Kraft mehr in ihre Bewegungen setzen zu müssen. Rosa runzelte verächtlich die Stirn.
«Madame, wo geht es denn genau hin, wenn ich fragen darf?» Der Fahrer blickte freundlich in den Rückspiegel, seine Augen waren dunkelbraun, wie Rosa jetzt erkennen konnte. Auch die vordere Seite seines Kopfes war voller Sommersprossen, es sah abenteuerlich aus.
Rosa zögerte nicht. «Bogotà», sagte sie.
«Bogotà? Das hätte ich jetzt irgendwie nicht erwartet. Also, nichts für ungut, aber ich hätte eher auf etwas Sanfteres getippt, Paris vielleicht, oder Florenz.»
Rosa schwieg.
«Entschuldigen Sie, Madame, das war nicht so gemeint. Ich mache mir manchmal einen Spass daraus, zu erraten, wo meine Passagiere hinfliegen werden, nachdem ich sie ablade. Aber ich hätte mir diese Frechheit nicht herausnehmen dürfen bei Ihnen, es tut mir leid.»
Rosa antwortete nicht, aber sie lächelte unter ihrer Sonnenbrille aus dem Fenster. Eine Weile war es still im Auto, nur das Verkehrsbrummen um sie rum. Dann nahm der Fahrer das Gespräch wieder auf: «Es ist nur ... Sie wirken eher klassisch. In einem positiven Sinne, so Birkin-mässig. Sie waren einmal sehr schön, nicht wahr?»
Jetzt musste Rosa grinsen. Wo vielleicht Empörung über eine gewisse Zeitform in ihr hätte aufkeimen können, war nur eine etwas milchige Mischung aus Wehmut und Belustigung.
«Ja», sagte sie dann zufrieden, «das war ich in der Tat.»
Der Taxifahrer grinste auch. «Wann geht Ihr Flug?», fragte er anschliessend, «der Stau ist heute wirklich schrecklich. Ist immer so vor den Feiertagen.»
Rosa blickte auf die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk, ohne ihre Brille konnte sie sie aber leider nicht lesen. Sie sah also aus dem Fenster, die Sonne stand schon fast mittig an dem sauberen Himmel, es musste gegen Mittag sein.
«Um zwanzig nach drei ist Boarding», sagte sie, vorsichtshalber etwas mehr Zeit einrechnend.
Der Fahrer lachte. «Na, da haben Sie aber nun wirklich mehr als genug Zeit. Wollen wir noch eine Extrarunde drehen?»
«Das hier ist meine Extrarunde», antwortete Rosa. Der Fahrer lachte wieder und Rosa auch. Sie lachten zwar aneinander vorbei, aber Rosa machte das Lachen richtig glücklich. Das hier war wortwörtlich ihre Extrarunde, und niemand ausser ihr wusste es. Was für ein Gefühl! Sie spürte eine eigenartige Energie durch ihre Adern fliessen, fühlte das Pulsieren unter ihrer faltigen Haut und etwas in ihr begann, sich zu öffnen. Ein Gedanke vielleicht, oder eine Idee.
«Wenn Sie möchten, es hat Kaffee in der Thermoskanne neben Ihnen. Netten Kunden biete ich das an. Becher finden sie in der Kiste unter dem Sitz.»
Rosa wollte gewohnheitsmässig ablehnen, aber dann dachte sie, wie langweilig bin ich eigentlich. Wer nach Bogotà fliegen kann, der trinkt auch Kaffee aus einer fleckigen Thermoskanne eines wildfremden, sommersprossigen Taxifahrers. Sie tastete nach den Bechern, ihre Oberschenkel und die Hüfte schmerzten bei dieser Bewegung furchtbar, aber sie beugte sich so weit vor, bis sie die Kartonbecher in der Hand hielt. «Möchten Sie denn auch einen?», fragte sie etwas stolz zwischen die Vordersitze nach vorne.
«Gerne, Madame.»
Rosa goss tröpfelnd den heissen, dunklen Kaffee in die Becher, ein angenehm bitterer Geruch machte sich im Taxi breit. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog nach einer Weile triumphierend etwas Verknittertes hervor. «Ich habe heute zwei Beutelchen Vanillezucker dabei!», rief sie erfreut, «was ist denn das für ein Zufall?»
Der Fahrer drehte sich zu ihr um. «Das muss unser beider Glückstag sein, Madame!»
Rosa gefiel das Ausrufezeichen, das er hinter diesen Satz setze, sie musste lächeln. So fühlte es sich an. Er drehte die Musik etwas lauter und sah fragend in den Rückspiegel. Fröhlich nickte sie ihm zu und lauschte den wohligen Klängen eines Jazzorchesters, darauf folgte Trapmusik und der Fahrer wollte schon umschalten, aber Rosa schüttelte wild den Kopf, nein, alles war gut.
Dann klingelte ihr Mobiltelefon. Oliver. Rosa wurde kurz übel. Sie tippte dem Fahrer hektisch auf die Schulter und bedeutete ihm, die Musik leiser zu drehen. Augenblicklich fühlte sich die Luft kühler an im Auto, es war, als würde der Sommer nur noch ausserhalb stattfinden. Die Hitze verflog und der Verkehr wurde blechern.
Rosa schluckte, dann nahm sie den Anruf an.
«Mama?», schallte Oliver durch das ganze Taxi. Rosa schaute verwirrt um sich, wo kam denn plötzlich seine Stimme überall her? Der Fahrer drehte sich um und flüsterte: «Ihr Telefon muss sich mit der Anlage verbunden haben, Madame. Sprechen Sie einfach normal weiter, man kann sie trotzdem hören.»
«Ja?», sagte Rosa also. Ihre Stimme hörte sich plötzlich brüchig an und ihre Finger, die sich um den Pappbecher klammerten, sahen alt aus; sie sah die Adern knotig hervortreten.
«Mama, wo steckst du denn? Wir warten hier auf dich!»
«Ich komme bald. Ich sitze im Taxi, mein Lieber.»
«Herrgott, Mama, ich wusste doch, ich hätte dich besser selbst abholen sollen. Es ... Was? Warte kurz, Mama», sie hörte Nuscheln und Knistern, im Hintergrund Stimmen. Rosa sah zum Taxifahrer, sein Blick lag professionell auf der Strasse.
Dann war da wieder Olivers Stimme, klarer jetzt. «Mama, Amelie sagt, Harald muss bald ins Büro und ich wäre auch froh, wenn das hier nicht allzu lang dauern würde. Die Heimleiterin hat ebenfalls nicht ewig Zeit.»
Rosa schwieg und nestelte an ihrem Faltenrock. Olivers Stimme wurde ein wenig weicher. «Du weisst doch, wie lange wir auf diesen Platz gewartet haben. Wo steckst du denn? Hast du dem Fahrer die richtige Adresse genannt? Soll ich dich irgendwo abholen kommen?»
In ihrem Alter waren Wuttränen sehr unangemessen, das wusste Rosa, und trotzdem stiegen sie ihr jetzt in die Augen. Schnell blinzelte sie sie weg und atmete zittrig durch. Dann straffte sie ihre Schultern und strich sich den Rock über ihren Knien glatt. Sie hatte helle Farben gewählt für heute, ein cremefarbener, weicher Stoff und ein aprikosenfarbenes Jäcklein mit schimmernden Knöpfen. Nun bereute sie, nicht leuchtendere Farben ausgesucht zu haben, irgendetwas ausdrucksvolleres, ein dunkles Blau oder ein festes Grün, aber besass sie so etwas denn eigentlich noch? Und wieso habe ich überhaupt abgenommen, dachte sie verärgert.
«Nein, du musst mich nirgends abholen kommen, Oliver. Und geht ihr ruhig ins Büro oder sonst wohin. Ich schaffe das alleine.»
«Mama, das war doch nicht so gemeint. Sei jetzt nicht beleidigt. Wir warten hier auf dich. Wann...»
Da legte Rosa auf. Einfach so. Sie schnitt die Frage ab. Die Leitung klickte und es begann wieder Musik über die Lautsprecher zu spielen. Irgendwann nahm Rosa den seichten Fahrtwind wahr, der immer noch durch das offene Fenster einweihte und ihr wurde bewusst, dass der Fahrer das ganze Gespräch zwangsläufig mitbekommen haben musste. Ihr wurde ganz heiss vor Scham. Sie überlegte sich, etwas zu sagen, blieb aber still. Der Stau hatte sich etwas gelockert, der Asphalt schimmerte in der heissen Sommerluft und von aussen drangen Kinderlachen und Strassenlärm ins Auto. Sie beide schwiegen und der Kaffee wurde kalt in Rosas Becher. Sie erwartete, dass der Fahrer beim nächsten Kreisverkehr umkehrte und dann würde sie ihm die richtige Adresse nennen müssen, die an der Baumgartenstrasse mit den dreiundzwanzig ‹lichtdurchfluteten› Quadratmetern und dem bereits installierten Niederbett, dem Ausblick in den Gemeinschaftsgarten und den arthrosefreundlichen Handkurbeln für die Fensterläden.
Aber er tat es nicht. Der Fahrer kehrte nicht um.
Er blinkte, und bog falsch ab.
Zum siebten Mal.
«Waren Sie zuvor schon einmal in Bogotà?», fragte er nach einer Weile. Ganz unbekümmert. Rosa hätte ihn in den Nacken küssen können.
«Ja», sagte sie entzückt, «Ja, das war ich. Aber das ist schon sehr, sehr lange her.»
Der Fahrer richtete seinen Rückspiegel, damit er sie besser ansehen konnte. Einen Augenblick sah sie ihr eigenes Gesicht im Spiegel, ein Strahlen lag warm auf ihren Wangen. Dann rückten seine Augen in die Mitte. «Ach, ich bin mir sicher, Sie werden die Stadt wieder von Neuem bezaubern, Madame. Von jemandem wie Ihnen kann keine Stadt genug bekommen.»
Eine Ampel wurde grün und nach wenigen Minuten fuhr der Wagen auf dem Taxistreifen vor dem Flughafeneingang an Terminal zwei vor.
Rosa atmete kurz ein und öffnete die schwere Türe schwungvoll. Doch dann zog sie sie nochmals zu.
«Wie ist denn Ihre Adresse?», fragte sie den Taxifahrer. Der griff in die Ablage vor dem Beifahrersitz und zog eine Visitenkarte hervor, die er ihr reichte.
«Hier, Madame», sagte er und schaute sie mit seinen netten braunen Augen an, «Ich werde mich freuen, von Ihnen zu hören.» Rosa lugte auf die Adresse. Lindenweg. Zwei Ecken von der Baumgartenstrasse entfernt.
Hinter ihnen hupte ein Auto. Rosa streckte ihre Hand durch die Sitze nach vorne und der Fahrer ergriff sie. Er hatte kräftige Hände und schüttelte ihre zarten zwei Mal. Dann liess er sie los und machte ihr ein Zeichen, «Nun gehen Sie schon, ich sollte weiterfahren.»
«Ja.» Rosa stieg aus, setzte ihre Füsse vorsichtig auf den schattigen Beton und richtete sich das Haar vor dem Spiegelbild des Autofensters. Drückte die aprikosenfarben bedeckten Schultern durch. Dann schlug sie die Tür zu und ging mit ihrer Korbtasche auf die gläsernen Eingangstüren von Terminal zwei zu.
Sie würde ihm kolumbianische Kaffeebohnen schicken.