Momberts letzter Zauberstab
Ein märchenhaftes Manöver. Geräuschlos legte das blau-weiß gestreifte Luftschiff an der alten, knorrigen Kastanie an, die das schon gewöhnt war und daher kein bisschen unwillig knarzte. Thales Mombert, 38 Jahre jung, knüpfte einen haltbaren Knoten, griff nach seinem Reisesack und schwang sich auf den starken Ast, der direkt ins Schlafzimmer im ersten Stock führte. Dort saß Momberts Herzensflamme Ulla auf einer großen, aus allen Nähten platzenden Reisetasche.
»Schlechte Aussichten«, orakelte der Wetterfrosch auf der Kommode, aber keiner beachtete ihn.
»Hallo Liebling«, sagte Mombert fröhlich, »ich habe dir was mitge...«
»Ich verlasse dich«, sagte Ulla.
Das Gesicht des Zauberers verzog sich in verschiedene Richtungen, konnte sich aber nicht einig werden, welche die richtige war. »W...?«, brachte er hervor.
»Ja. Versteh doch, nach neun Jahren haben wir uns auseinander gelebt.«
»Ah...«
»Du bist ständig unterwegs mit deinen Drachen und so... ich habe hier nur die flackernde Kristallkugel und den singenden Spiegel und das Streichelmichfell vor dem Kamin...«
»Und mich«, quakte der Wetterfrosch und klang dabei etwas beleidigt. Ulla warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.
Mittlerweile hatte Mombert seine Sprache wiedergefunden. Er brachte hervor: »Gi... gib mir doch noch eine Chance! Ich... ich will auch mehr für dich da sein! Ich... ich habe dir doch Drachenblutwurst mitgebracht, die magst du doch so...« Er hielt ihr ein Geschenk mit hellblauer Schleife hin.
»Danke. Ich... werde sie mitnehmen und an unsere gemeinsamen Zeiten denken, wenn ich sie esse.« Sie stand auf, nahm die Wurst und machte Anstalten, die Treppe hinunter zu gehen.
»Warte! Lass uns nochmal darüber...«
»Schreib mir mal«, warf Ulla ihm zu, dann war sie schon unten und aus dem Haus. Durch das Fenster sah Mombert ihr nach. Wo wollte sie nur hin? Er machte den Mund auf, um zu rufen. Er ließ es sein, stand noch einen Moment da, fiel auf das Bett und schlug seine Faust ins Kissen.
»Ein Unwetter rückt an«, orakelte der Wetterfrosch, »ich empfehle einen Regenschirm.« Der Zauberer warf ein Kopfkissen Richtung Frosch, der sich eilig in Sicherheit brachte. »Quak! Bei Gewitter in den nächsten tiefen Brunnen springen! Soll übrigens auch bei Liebeskummer helfen!«, kommentierte er mit unüberhörbarer Häme.
»Als wenn du Erfolg bei Frauen hättest«, murmelte Thales Mombert schwach.
Wenige Minuten später befand sich der mächtige Zauberer wieder an Bord seines blau-weißen Luftschiffs und war auf der Suche nach jemandem, der unvorsichtig genug war, ihm zu nahe zu kommen. Wenn er gewusst hätte, was ihn erwartete, wäre er sofort umgekehrt und hätte seinen Weinkeller leer getrunken.
Mombert schob den Ärmel seines alten, grauen Umhangs nach oben, aber der rutschte gleich wieder runter. »Möge dich...«, zischte er und unterbrach sich. Im Licht des Nachmittags sah er unten einen Hirten, der dabei war, seine Kühe in den heimischen Stall zu treiben. Genüsslich wählte Mombert einen der fein säuberlich aufgereihten Zauberstäbe und zielte grinsend. Er murmelte etwas, seine Augen blitzten.
»Huu!«, sagte die vorderste Kuh zu ihrem Hirten, »ich tret hiermit innen unbefristeten Streik und lauf keenen Schritt weiter. Und wat machse nu?«
»Wir streiken auch!«, riefen die anderen Kühe. »Mir tut der Euter weh«, sagte eine, »er scheuert immer an meinem Hinterbein.«
Der fassungslose Hirte versuchte es mit Kommandieren, Zerren und Schluchzen. Die Kühe, die nun gemütlich wiederkäuten und ihn amüsiert musterten, bewegten sich keinen Meter. Erst jetzt bemerkte der Hirte das blau-weiße Luftschiff, das über den abendlichen Himmel langsam Richtung Westen driftete und hörte das hämische Lachen seiner zauberkundigen Besatzung.
»Das war nicht nett«, sagte der Wetterfrosch, der die Opfer mitfühlend beäugte.
»Ich war die ganze Zeit nett, und was hatte ich davon?« Mombert stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe sechs Jahre lang mit Drachen Überlebenstraining durchgekaut. Mehr als genug Gold verdient. Ich hab mir sogar ihre kleinen Problemchen angehört: Poröse Schwingen, Jucken unter den Schuppen und verdrängte Ängste vor dem dreihundertsten Geburtstag... es ist einfach mal an der Zeit, unfreundlich zu sein! Ich muss mal.« Sprach es und urinierte über einem Weinberg, der den Fehler machte, in diesem Moment unter ihm vorbei zu ziehen.
»Das wird kein guter Jahrgang«, meinte der Frosch. »Meinst du nicht, dass du etwas überreagierst? Andererseits ist das für Menschen ja typisch.«
»Als nächstes«, zischte Mombert, »sagst du mir vermutlich, dass es auch noch andere Frauen auf der Welt gibt...«
»Was du nicht wirklich abstreiten könntest, wenn du die Angelegenheit mal endlich etwas rationaler betrachten würdest«, kam es aus dem breiten grünen Maul.
»...und sie sind alle gleich. Sie hat garantiert einen anderen.« Er fixierte den Frosch. »Weißt du eigentlich etwas darüber? Immerhin wohnst du im Schlafzimmer.«
»Ich bin total vertrauenswürdig und kann Dinge sehr gut für mich behalten«, erklärte der Frosch loyal.
»Du bist gleich Waldmeister-Gelee«, fauchte der Zauberer und hielt dem Frosch seinen Zauberstab vor das Maul.
»Unter diesem Umständen beuge ich mich der Gewalt. Immerhin habe ich auch einen Selbsterhaltungstrieb.«
Mombert wurde ungeduldig. Er hatte den Verdacht, dass er gleich eine sehr unerfreuliche Neuigkeit erfahren würde und konnte es gar nicht erwarten. »Jetzt rede schon.«
»Aber nur unter Protest. Einen anderen Mann habe ich nicht gesehen. Das kannst du mir glauben.« Der Zauberstab berührte jetzt fast sein Maul. »Die werte Frau Ulla war allerdings zuletzt anders als früher. Natürlich wage ich nicht, Rückschlüsse zu rrrchuuu...« Weiter kam er nicht, weil Mombert ihm den Zauberstab in den Rachen gestoßen hatte. »Rede dich nicht raus. Ich will es wissen. Alles! Sofort!«
»Rch...« Mombert zog den Stab aus dem Froschhals. »Urg. Röchel. Also gut, wenn du unbedingt willst. Ich würde sagen, Frau Ulla war schwer verliebt. In wen, weiß ich nicht. Nicht in dich, schätze ich.«
»Verdammt! Ich wusste es!«, schrie der Zauberer und ließ einen Blitz in den nächsten größeren Baum fahren, ungeachtet der Tatsache, dass ein Teil der örtlichen Vogelwelt darin saß und gerade versuchte in Ruhe einzuschlafen.
»Wieso hast du dann gefragt?« Nach diesem Satz brachte der Frosch sich in Sicherheit und wurde vorerst nicht mehr gesehen.
In der zunehmenden Dunkelheit fiel Mombert kurz darauf ein Lichtschein unten im Wald auf. »Hm, eine Feier. Ich schätze, die wird unvergesslich. Vielleicht irgendeine Sekte. Fruchtbarkeitsrituale. Ha!« Er steuerte sein Luftschiff nach unten und machte es an einem Baumwipfel fest. Wie eine Feder schwebte er zu Boden und schlich sich näher. In seinem Gürtel steckten drei Zauberstäbe, in seinen Taschen diverse magische Utensilien und ein Frosch, letzteres war ihm allerdings nicht bekannt.
Es war eine seltsame Party. Auf einer von einem magischen Glimmen erhellten Waldlichtung standen sieben Pfähle im Kreis. An jeden der Pfähle war eine alte, hilflose Oma gebunden worden. In der Mitte stand ein großer, vermummter Mann und führte einen Tanz vor. Es kamen keine Begeisterungsausbrüche von den Zuschauerinnen, und sie tanzten auch nicht mit, sondern versuchten erfolglos sich zu befreien und riefen schwach um Hilfe. Mombert hielt das immer noch für ein Fruchtbarkeitsritual, wenngleich für ein recht ungewöhnliches. Er zückte seinen ersten Zauberstab und begann ihn grinsend und murmelnd zu schwingen. Gleich würde Leben in die Bude kommen.
Die Bemühungen der Gefesselten, sich zu befreien, wurden plötzlich heftiger, die Schreie spitzer. »Iiii! Lauter Spinnen! Iiii!« Der Tänzer in der Mitte hielt plötzlich inne. Seine Gefangenen waren über und über mit Spinnen bedeckt, die etwas unentschlossen auf ihnen herum krabbelten. Er sah an sich hinunter. Auch über seinen Umhang liefen Spinnen. Er beobachtete fassungslos, wie eine gerade zielstrebig in seinen Ärmel kletterte. »Ah! Ah! Ah!« schrie er und sprang wild herum, um die Viecher abzuschütteln.
Gleich darauf landete er auf dem Boden, weil der sich scheinbar in den Himmel verwandelt hatte und sein Gleichgewichtssinn meinte, dass die Füße in die andere Richtung zeigen sollten.
Mühevoll rappelte er sich hoch, schwankte leicht und erkannte dann den Zauberer am Rand der Lichtung, der ihm mit Spinnen- und anderen Illusionszaubern die Party vermiesen wollte. »Thales Mombert!«
Endlich erkannte Mombert sein Gegenüber und die allgemeine Lage.
»Dammo Kliebenschädel! Ich habe dich doch vor... warte... fünf Jahren endgültig vernichtet!«
»Stimmt, aber ich habe mich vorgestern reinkarniert. War nicht mal besonders schwer.«
»Und was führst du jetzt wieder für düstere Machenschaften im Schilde?«
»Och, nur eine rituelle Opferung von wehrlosen Omas, um eine mir hörige Jungfrau zu erschaffen.«
»Du vergreifst dich an wehrlosen Omas? Schäm dich!«
»Wer, ich? Schämen? Hast du vergessen, dass ich vor nichts zurückschrecke? Ich vergehe mich doch auch an Leichen ohne ein schlechtes Gewissen zu kriegen! Meistens animiere ich sie vorher ein bisschen, dann macht's mehr Spaß.«
»Verfluchter! Sag mir, wie ich dich für immer vernichten kann!«
»Hey, ich bin zwar ein böser Zauberer, aber nicht blöd. Gar nichts werde ich dir sagen. Nein, ich werde dich vernichten. Ganz genüsslich, wie ich es dir schon damals versprochen habe, als du diesen Aufständischen in Zuba geholfen hast.«
»Du warst damals der Herzog und hattest eine Schreckensherrschaft errichtet, bis ich dich in einem glühenden Fanal der Befreiung vergehen ließ! Du hast sogar Selbstmörder öffentlich hinrichten lassen...«
»Vierteilen ließ ich sie, ja. Weil sie meinen absoluten Machtanspruch über Leben und Tod missachtet hatten.«
»Fremde von weit her hast du festnehmen und ohne jede Anhörung oder Verhandlung einfach hinrichten lassen!«
»Da bist du der erste, der sich darüber beschwert! Meinen Untertanen war's jedenfalls egal. Hauptsache, es erwischte nicht sie selbst. Und jetzt lass uns aufhören zu reden, die Omas langweilen sich schon!«
Ein siebenfacher, verzweifelter Aufschrei enttäuschter Hoffnung folgte.
Thales Mombert hatte nichts dagegen, dass die Unterhaltung beendet war. Er hatte genug Zeit gehabt, um sich die nächsten Zaubersprüche zurechtzulegen. Er holte mit dem Zauberstab aus – und hatte plötzlich eine große Schnecke in der Hand, die er vor Schreck fallen ließ. »Ha! Zu langsam! Und jetzt nimm dies!« rief Kliebenschädel und holte seinerseits aus. Mombert brachte sich mit einem gewagten Satz in Sicherheit – dachte er. Aber Kliebenschädel hatte eine sehr große Schlammpfütze herbeigezaubert. Zauberer Mombert war mit dem Gesicht voran darin gelandet. Er hielt aber zwischen Daumen und Zeigefinger schon den nächsten Zauberstab. Unmittelbar bevor sich der in einen großen Tausendfüßler verwandelte, der versuchte, ihm in den kleinen Finger zu beißen, traf seine Wolke des Verderbens Dammo Kliebenschädel. Und zwar im Lendenbereich. Sein Umhang verweste an dieser Stelle umgehend und zerfiel zu Staub. Der explodierte mit einem lauten Wumm. Kliebenschädel wurde nach hinten geschleudert.
Mombert rappelte sich hoch und zückte den dritten und letzten Zauberstab, um seinem Gegner den Rest zu geben. Die sieben Omas feuerten ihn an. »Hau ihn wech!«, »mach ihn alle!« waren noch die freundlichsten Rufe.
Eine dunkle Wolke hatte sich über der Lichtung zusammengebraut. Das ist die dunkle Magie des Opferrituals, schoss es Mombert durch den Kopf. Der Zauber war beinahe vollendet!
Das wusste auch Kliebenschädel, denn die Wolke machte offenbar Anstalten, einen gewaltigen Donner ertönen zu lassen. Die Omas kniffen die Augen zu und bereiteten sich auf das Schlimmste vor. Plötzlich schleuderte Kliebenschädel seinen Umhang fort, stand splitternackt da und warf sich in die Brust.
Verzweifelt schwang Mombert seinen Zauberstab und brachte den anderen erneut aus dem Gleichgewicht. Dann brach der Donner los. Gleichzeitig schlug der magische Blitz direkt vor Kliebenschädels Füßen ein – wo er gerade noch gestanden hatte. Reine Zauberenergie, die nun ihres Zieles beraubt war, waberte herum und bildete Falten in der Wirklichkeit. Die Omas verwandelten sich in Schafe. Die Pfähle, an die sie gebunden waren, zerschmolzen wie Butter. Momberts Wetterfrosch sprang aus seinem Versteck in einer Umhangtasche und verwandelte sich in eine hübsche, nackte Jungfrau. Kliebenschädel sprang mit einem Triumphschrei auf sie zu, stolperte über eine Wirklichkeitsfalte und verschwand spurlos. Er war nun bis auf weiteres im Körper eines kastrierten Streuners gefangen, der zufälligerweise in der Nähe Kaninchen gejagt hatte, aber das konnte keiner der Anwesenden wissen.
Die Schafe grasten am Waldrand, die dunkle Wolke hatte sich verzogen und Mombert hatte sich den Schlamm aus dem Gesicht gewischt.
Die Jungfrau versuchte genauso verlegen wie erfolglos ihre Blöße zu bedecken und lächelte schüchtern. »Ähm. Schönes Wetter heute.«