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Mond und Riesen
Es gab da mal einen kleinen blauen Mond.
Dieser lebte auf einer weiten Ebene, die in einer noch viel weiteren Tiefebene lag und deren Ende konnte er nicht einmal erahnen.
Seine Ebene war über und über bedeckt mit riesigen, weichen und warmen Dingen, die der Mond nicht logisch einordnen konnte, die ihn aber vor Kälte schützten und ihm ein Gefühl von Geborgenheit vermittelten wenn er sich in ihnen einkuschelte. Diese Dinge waren schon da gewesen, als der Mond in diese Welt geholt wurde.
Denn natürlich lebte er nicht seit jeher in dieser Gegend und manchmal, vor allem wenn es dunkel war und die zwei Riesen in sein Land kamen, alles in Unordnung brachten und mit ihrem komischen, leicht säuerlichem Geruch seine scharfe Nase beleidigten, dann kamen süße Erinnerungen aus dem Nebel seiner Vergangenheit hervor.
Er wusste, dass er einmal nicht der Einzige seiner Art gewesen war. Er wusste, dass er irgendwo her kam, wo ganz viele kleine Monde in allen Farben, die er sich überhaupt vorstellen konnte, ein wunderbares Leben geführt hatten.
Sie waren zusammen gewesen, zufrieden mit ihrem Dasein, hatten gelacht und Scherze getrieben. Das überall um sie herum Riesen lebten, hatte sie nicht gestört. Die Monde waren sich sicher gewesen, das beide Spezies ihrer eigenen Wege gehen würden, ein friedliches Nebeneinander in eben dieser einen Welt.
Dann hatte die bittere Realität zugeschlagen, der Mond war entführt worden und man hatte ihn auf diese Ebene zurückgelassen.
Warum nur, fragte sich der kleine Mond manchmal, hat es mich hierher verschlagen? Gibt es denn nichts Sinnvolles, was ich dagegen tun kann? Aber auf diese Frage gab es auch nur die eine Antwort, die er sich jedes Mal gegeben hatte: Es gab nichts dagegen zu tun. Wenn der Mond sich in besonders übler Stimmung der ganzen Wahrheit stellte, sah sie noch etwas düsterer aus: denn eigentlich konnte er auf dieser Ebene so gut wie gar nichts tun, außer sich in diese komischen, weichen Dinger zu kuscheln und zuzusehen, wie das Licht von Westen nach Osten wanderte und es dann langsam dunkel wurde. Aber das hatte ihm eigentlich immer genügt. Er wollte das Beste aus seiner Lage machen.
Er war ein optimistischer Mond.
Und dann waren da noch diese beiden Riesen. Das waren schon komische Gesellen; viel seltsamer waren sie, als die Riesen, die er damals gesehen hatte. Jene nämlich waren, ohne viel Lärm zu machen, zügig an ihm und den anderen Monden vorbeigegangen und hatten sie dabei kaum eines Blickes gewürdigt. Diese waren ganz anders.
Sie wanderten mit ihren Riesenschritten durch die Gegend, und der Mond konnte sich keinen Reim auf ihr Gebaren machen.
Wenn es hell war, dann kamen sie nur sporadisch vorbei, um komische Sachen zu tun. Beispielsweise schleppten sie Dinge scheinbar sinnlos durch diese Welt. Diese Dinge erschienen dem Mond oft fremd oder gar monströs. Dann wiederum saßen sie oft lange Zeit nur da und sahen sich die Dinge an, die sie vorher hierher gebracht hatten. Oder sie redeten miteinander in ihrer lauten und dem Mond unverständlichen Sprache.
Am seltsamsten waren sie allerdings dann, wenn es dunkel war.
Meistens schlief der Mond schon. Am Anfang war er immer erschrocken hochgefahren, wenn mit einem Mal die Welt heller erstrahlte, als sie es von Natur aus tat; dieses andere Licht kam dem Mond immer seltsam vor; es war stets gleich an Intensität und wirkte sehr kalt und hart, so, dass er sich unwillkürlich tiefer in die flauschigen Dinger kuschelte. Normal war Licht sanftmütig, war feingliedrig und sehr unregelmäßig. Und es fiel, im Gegensatz zu dem künstlichen Licht, durch ein Viereck, dass weit oben in der Welt schwebte. Der Mond liebt das ehrliche Licht; bei dem künstlichen Scheinhingegen kniff er jedes Mal unwillig die Augen zusammen.
Als nächstes hörte er dann die beiden Riesen. Sie schienen es gewöhnt zu sein, laut daherzukommen. Sie durchschritten die Welt mit ihren Sieben-Meilen-Schritten und kamen immer zielstrebig auf die Ebene zu, die der Mond bewohnte. Anfangs hatte der Mond sich noch ängstlich in eine Ecke gedrückt, jedes Mal, wenn sie kamen. Doch schon bald hatte er begriffen, dass sie ihm nichts anhaben konnten, ihnen wahrscheinlich nicht einmal der Sinn danach stand. Sie kamen nur zu ihm hin und fläzten sich auf seiner Ebene. Ihre Körper ragten, so weit wie der Mond es noch zu sehen vermochte, von einem Ende zum anderen.
Dann begannen sie, Unordnung zu verbreiten: sie nahmen die Kuscheldinger und wälzten sie in alle möglichen Richtungen. Sie rollten (ja, das taten sie tatsächlich – und zwar um die eigene Achse!) mit zwei Umdrehungen über die gesamte Ebene und machten viel Lärm dabei. Manchmal waren sie auch eng beieinander, ihre Körper zuckten hektisch und beide machten seltsame Geräusche, die vom Klang her ganz anders waren, als der Mond es von ihnen gewohnt war. Erst war er fast besorgt, ob es ihnen nicht gut ginge, dann fand er witzig, es wirkte irgendwie niedlich. Wenn sie nur nicht so große Geschöpfe wären!
Manchmal flog der Mond bei all diesen Aktionen durch die Luft oder wurde herum gestoßen, denn sie achteten selten darauf, wo er sich gerade befand. Und wie er erstaunt festgestellt hatte, es tat ihm nie weh, und wenn er aus noch so großer Höhe auf dem Boden aufprallte. Aber schön fand der Mond es trotzdem nicht. Was ist das auch für ein Betragen, wenn man ihn einfach ignorierte – immerhin waren sie hier Gäste und das Gewohnheitsrecht lag doch auf seiner Seite.
Nun, er hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt (was hätte er sonst auch tun sollen?) Und manchmal, wenn die beiden Riesen – wie immer - irgendwann still wurden, das seltsame Licht mit einem Schlag erlosch und der Mond bemerkte, wie einer der riesigen Köpfe sanft auf seinem Bauch zur Ruhe kam, dann kam es ihm manchmal beinahe so vor, als wäre er ein Schäfer. Einzig die Proportionen stimmten nicht.
So hatte der kleine blaue Mond sich also mit seiner Situation arrangiert und war damit beinahe zufrieden. Doch dann geschah das Unglück – oder vielmehr: eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.
Dem kleinen Mond wurde die Nase abgerissen. Einfach so.
Er war eingeschlafen, die beiden Riesen hatten auch schon Ruhe gegeben und der Mond fühlte sich recht wohl.
Wie es dann wieder hell wurde und er erwachte, bemerkte er, dass irgend etwas nicht so war wie vorher. Er fühlte sich nicht so vollständig wie zuvor, irgendwie anders. Es war ein seltsames Gefühl.
Instinktiv wusste er, was fehlte. Der Mond verdrehte die Augen, um sein Gesicht besser zu untersuchen und tatsächlich: die hübsche blaue Knolle, die da zwischen seinen beiden Augen gewesen war, fehlte. Der Mond saß auf einem der flauschigen Dinger, die natürliche Helligkeit, die so früh vorherrschte, beschien warm die Ebene und er stierte ungläubig auf sein Gesicht. Wie war das passiert?
Er spürte zwar keinen Schmerz, das schien bei ihm ja nicht möglich zu sein, aber – und die Erkenntnis verletzte seinen Stolz – die beiden Riesen (denn einer von ihnen musste es gewesen sein) waren anscheinend der Meinung, dass er dieser Schandtat nicht gewahr wurde. Sie waren einfach gegangen. Der Mond wurde wütend; er wurde so richtig wütend und das war noch nie vorher geschehen.
Er sah von einer Seite zur anderen. Keiner der Riesen war zu sehen und er wusste, dass sie um diese Zeit eher selten vorbeikamen. Aber er würde es ihnen zeigen! Würde ihnen den Respekt beibringen, den er für seine Person für angemessen hielt. Aber zuerst einmal würde er seine Nase suchen. Und so fing er an, unter den weichen Dingern zu wühlen, schob sich unter die leichteren, wurde nicht fündig und versuchte es unter den anderen.
Es gab nichts zu sehen und außerdem war es recht anstrengend und der Mond überlegte, was zu tun sei. Noch machte die Wut es ihm nicht leicht, klar zu denken; es war ein heißes Gefühl und Bilder schossen ihm durch den Kopf, Bilder, was er mit den beiden Frevlern anstellen würde, um ihnen Benimm beizubringen. Er hüpfte vor Empörung leicht auf und ab.
Nachdem einige Zeit vergangen war und der Mond sich etwas abgekühlt hatte, fasste er den Entschluss, sich über die Ebene hinaus zu wagen, um dort nach seiner Nase zu suchen. Er würde sie den Riesen vorzeigen, würde eine Entschuldigung, eine Entschädigung und natürlich eine sofortige Korrektur dieses Misstandes verlangen.
Mit dem guten Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, zog der Mond los und durchquerte die Ebene. Seinen Blick hatte er stets nach unten gerichtet, denn die Nase wollte er, weiß Gott, nicht übersehen.
Doch der Weg war weit und anstrengend. Sich in die weichen Dinger zu kuscheln, war sehr angenehm, aber auf ihnen zu laufen, war beileibe nicht einfach. Ständig sackte er ein, kämpfte sich mühsam wieder auf, stand dann vor Dünen, die vor ihm zurückwichen und manchmal machte er für jeden Schritt nach vorne zwei zurück.
Als er schließlich nach sehr langer Zeit, erschöpft und müde von seiner Wanderung, endlich an die Grenze seiner Ebene kam, ließ er sich erschöpft auf die Ausläufer der weichen Dinger sacken und warf einen Blick in die Runde. Es war ein gewaltiger Anblick.
Jetzt, so viel näher an der Tiefebene, die er sonst nur in der Ferne hatte geheimnisvoll glitzern sehen, bekam er eine völlig neue Vorstellung von der Welt, in der er lebte.
Wie die riesigen, hellgefärbten, glatten und kantigen Berge, die ihn so hoch überragten, wie seine Ebene in ihrer Länge maß; wie die gigantischen, bunten Dinge die am Horizont in die Höhe wuchsen, so war auch seine Ebene nur ein Teil dieser ganzen Welt. Er sah staunend in
die Ferne. Was für seltsame Geräte dort herum standen; einige erkannte er wieder – es waren Dinge, welche die Riesen mit sich schleppten und die sie anscheinend aus dieser Welt herausnahmen und wieder hereinstellen konnten, wie es ihnen beliebte. Es gab Sachen in jeder dem Mond vorstellbaren Form, Farbe und Art. Es war bezaubernd.
Nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, fühlte er sich stark genug, weiter in diese Welt vorzudringen. Obwohl ihn soviel Neues umgab, hatte er doch nicht den Grund seiner Reise vergessen; er wollte seine Nase und er wollte den Respekt.
Der Mond stand am Rand seiner Ebene und sah herab. Es schien tief nach unten zu gehen. Er war es nicht gewohnt, sich solchen Abgründen gegenüber zu sehen. Dort hinten, auf der Ebene, hatte es nie welche gegeben. Dem Mond wurde es etwas mulmig, aber aufgeben wollte er nicht. Nase und Ehre mussten irgendwo zu finden sein.
Er überlegte, wie er wohl am besten den Abgrund überwinden konnte. In seiner Umgebung konnte er nichts finden, das ihm beim Hinabkommen behilflich sein konnte. Und zum Springen schien es doch wirklich zu tief, also was ... aber, einen Moment! ... wenn der Mond genau darüber nachdachte, dann war ihm noch nie etwas passiert, wenn er von den Riesen durch die Luft geschleudert worden war. Was wäre, wenn er einfach ... was sollte passieren? Der Mond lugte vorsichtig über den Rand des Abgrundes und stellte sich vor, wie es wohl wäre, hier hinunter zu springen.
Und dann tauchte mit einem Schlag ein Riese auf.
Er schien einfach ein weißes Loch in der Welt zu öffnen und stand mit einem Male in seiner ganzen Größe genau vor dem Mond und brüllte in seiner unverständlichen Sprache etwas in die Welt hinein.
Der Mond bekam einen Riesenschreck. Eine absurde Sekunde lang fühlte er sich entdeckt und machte einen komischen Sprung, um sich zwischen den weichen Dingern zu verstecken, welche die Ebene hinter ihm bedeckten. Leider stolperte er über einen unerwarteten Ausläufer, fiel und rutschte, ohne sich irgendwie halten zu können, auf den Abgrund zu.
Die nächsten Sekunden verstrichen mit quälender Langsamkeit. Der Mond bemerkte, wie er langsam über die Kante rutschte, sah aus dem Augenwinkel, wie der Riese einen bedrohlichen Schritt machte, mit dem er die riesige Entfernung mühelos überwand. Dann fiel er.
Der Fall dauerte lang. Der Abgrund war wirklich sehr tief und dem Mond schossen tausend Gedanken durch den Kopf.
Er würde seine Nase nie finden.
Er würde, ohne Respekt erfahren zu haben, untergehen.
Er wünschte, er hätte nie seine Ebene verlassen.
Dann schlug der Mond auf den Boden der Tiefebene auf und prallte wie ein blauer Gummiball zwei oder drei Male wieder ab, bis er endlich liegen blieb.
Und nichts war passiert.
Der Mond hatte die Augen zusammengekniffen und traute sich noch nicht, sie zu öffnen. Er spürte, dass ihm nichts passiert war. Seine Theorie hatte sich demnach bestätigt und er fühlte Erleichterung in sich aufsteigen. Schon wollte er die Augen öffnen.
Da ergriff ihn eine riesige Hand, ganz mühelos, und wieder spülte Entsetzen durch ihn hindurch. Den Riesen hatte er für den Augenblick glatt vergessen.
Der Mond wurde empor gehoben, er schnappte erschrocken nach Luft , den er hatte das Gefühl, die riesige Pranke würde seinen Atem aus ihm herauspressen. Die Hand holte kurz aus und schon flog der Mond in hohem Bogen durch die Luft. Er drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, sah auf unbeschreibliche Art diese seltsame Welt an sich vorbeiziehen und landete im nächsten Moment weich und genau dort, wo seine Reise ihren Anfang genommen hatte. Um ihn herum lagen die weichen Dinger, er war wieder mitten auf der Ebene, die er zuvor so mühselig durchwandert hatte. Für den Augenblick war er zu keiner Reaktion fähig.
Alles umsonst, schoss es ihm durch den Kopf und für einige Sekunden schloss er die Augen und wollte das alles nur vergessen.
Da lag er hier, nach wie vor ohne Nase, und seine Ehre hatte noch einen empfindlichen Schlag bekommen. Stunden hatte er sich durch diese Ebene gekämpft, hatte den schlimmen Fall in die Tiefebene überwunden, hatte die Energie gefunden, all das auf sich zu nehmen und dann das! So mir nichts, dir nichts, als wäre er nach wie vor vollständig, mit Nase und allem, hatte der Riese ihn einfach aufgehoben und wieder hierher verfrachtet. Der Mond wurde wieder wütend. Noch wütender als zuvor.
Er schnellte hoch, wollte diesem Unmond seine Meinung sagen, sie ihm notfalls unter seine unverschämt große Nase reiben – doch als er sich umdrehte, da sah er etwas, was ihn erstarren ließ.
Der Riese stand noch immer am Rande der Ebene und in seiner Hand hielt er ein kleines, flauschiges Ding.
Ein kleines, flauschiges, blaues Ding! Dem Mond fehlten die Worte.
Der Riese drehte des Mondes Nase in der Hand hin und her, sah sie sich von allen Seiten an und brüllte dann etwas über seine Schulter hinweg, wahrscheinlich seinem Kumpanen zu.Dann – und das schlug dem Fass wirklich den Boden aus – warf er die Nase einfach zurück auf die Ebene. Wie der Mond flog sie - wunderschön anzusehen, wie dieser fand – durch die Luft, auf ihn zu, prallte an seinem Kopf ab und landete genau vor ihm, in einer Falte eines der weichen Dinger.
Der Riese hatte sich indes umgedreht und war durch das seltsame Loch am Ende der Welt verschwunden. Es knallte und alles sah so aus wie vorher.
Sprachlos vor Empörung fiel der Mond zu Boden.
Es war dunkel geworden. Die Riesen waren noch nicht wieder aufgetaucht. Der Mond hatte sich nicht bewegt.
Er war zutiefst getroffen und fühlte sich elend.
Lange Zeit hatte er hier gelebt und war alle Kompromisse eingegangen, die nötig gewesen waren.
Er ließ die Riesen hier herumtollen, er ließ sich von ihnen herumwirbeln und er ließ sie die dunklen Stunden über mit ihrem Kopf auf seinem weichen Körper ruhen. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie ihn nicht verstanden, hatte eingesehen, dass er ignoriert wurde, und all das war irgendwie in Ordnung gewesen.
Dann hatten sie ihm die Nase genommen. Er war rechtschaffend wütend gewesen, hatte sich auf die Suche gemacht, wollte den Status Quo wieder herstellen.
Dann hatte der Riese ihn mit seiner Nase beworfen.
Er hatte sie einfach von sich geschleudert, als wäre sie ein Ding ohne Wert, etwas, das man ohne erkennbaren Grund aufhebt und wieder fallen lässt - als hätte sie nicht den Nutzen, den die den Riesen eigenen Kolosse von Nasen hatten.
Jegliche Hoffnung auf Respekt war gestorben. Die lodernde Fackel der Wut, die der kleine Mond vor sich hergetragen hatte, den weiten Weg durch die Ebene hindurch, diese Flamme schien erloschen mit dem Knall, als der Riese aus dieser Welt verschwunden war.
Der Mond drehte sich gequält in der Dunkelheit auf die andere Seite. Seine Nase hatte er aufgelesen und neben sich gelegt. Er war zu erschöpft, um zu probieren, ob er sich nicht selbst helfen könnte, ob die Nase nicht einfach wieder passen würde. Was würde es helfen? Dieses tiefsitzende, dumpfe Gefühl der Hilflosigkeit würde bleiben.
Der Mond wollte versuchen zu schlafen. An dem weichen Ding neben ihm wischte er sich seine Tränen ab und schloss die Augen.
Aber natürlich schlief er nicht ein.
Er wusste, dass die Riesen irgendwann wieder in seine Welt kommen würden. Er hatte keine Angst vor ihnen, denn sie konnten ihm ja nicht weh tun. Aber der Mond hatte Angst davor, dass sie ihn wieder demütigen würden, ihm wieder seine Nase stehlen würden, um wer weiß was alles mit ihr anzustellen.
Der Mond rückte sich ein Stück zurecht, so dass die Nase von seinem kleinen blauen Körper verborgen wurde. Dann wartete er.
Als die Riesen Stunden später noch nicht aufgetaucht waren, schlief er schließlich doch noch ein. Eine letzte Träne rann herab und versickerte zwischen den weichen und flauschigen Dingern, die diese Ebene bedeckten.
Längere Zeit verstrich, es wurde dunkel und wieder hell, mehrere Male, und der Mond verharrte dort auf der Ebene. Natürlich waren die Riesen zwischenzeitlich wieder vorbei gekommen, hatten ihr altes Spiel getrieben und nicht viel Aufheben um ihn gemacht.
Der Mond hatte sich zuerst verkrochen, hatte sich mit seiner Nase zwischen den Falten versteckt. Dann verfiel er wieder in seine Lethargie, denn es war ja so, wie er es geahnt hatte - keiner beachtete ihn.
Es war eine schlimme Zeit, der der Mond aber schließlich überdrüssig wurde.
Es muss etwas geschehen, dachte er, als die Riesen wieder mal mit der weichenden Dunkelheit die Welt verließen, denn wie soll ich sonst je wieder mit mir im Einklang leben können? Und deshalb setzte er sich auf und suchte nach der inneren Flamme, die ihn über die Ebene getrieben hatte. Er bemerkte, dass da wohl noch ein Funken zu finden war und der sollte zum Anfang genügen. Schritt für Schritt würde er vorgehen.
Der Mond dachte sich, dass er wahrscheinlich von hier fortgehen würde. Hier gab es nichts mehr, was erstrebenswert war. Es war schon seltsam, beinahe komisch, dass erst jetzt, nachdem ihm all dieser Schmach wiederfahren war, die Idee in ihm keimte, dass er nicht an diesen Ort gebunden war. Er hatte es als so natürlich empfunden, dass es ihm wahrlich nicht aufgefallen war. Vielleicht würde er, wenn er ginge, sogar die anderen Monde aus seiner Vergangenheit wiederfinden – auch wenn er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wo er anfangen sollte zu suchen. Lange hatte er diese Ebene und natürlich die wenigen Reste seiner
Erinnerung für Alles gehalten. Aber die Welt bot mehr, als der Mond sich gedacht hatte. Die Wanderung über die Ebene und die großartige Aussicht auf die Welt, die ihn umgab, waren Beweis genug für ihn. Er würde gehen!
Mit diesem Gedanken im Kopf fühlte der Mond sich bald besser. Er wußte, dass er noch einiges zu erledigen hatte, bevor er ging. Er würde seine Nase wieder an ihren angestammten Platz bringen und er würde etwas tun, was diese beiden Riesen, denen er dieses traurige Feld freiwillig überließ, nicht vergessen würden. Er würde sich seine Ehre holen, er wußte nur noch nicht, wie.
Zuerst machte der Mond sich wieder auf den Weg durch die weiche Ebene. Er hatte vor, irgend etwas zu finden, mit dem er seine Nase reparieren konnte.
Als er wieder an dem Abgrund anlangte, zögerte er nicht lang und sprang.
Der Sturz war nicht schlimm. Genau wie damals prallte er ein oder zweimal auf und blieb dann liegen. Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. So einen Sprung sollten diese beiden Unmonde mal unbeschadet überstehen, dachte er. Es ist wirklich nicht so, als hätte ich keine Chance. Ich muss nur noch ihre Schwächen entdecken. Der Mond richtete sich auf und hüpfte erst einmal in Deckung, falls einer der beiden wieder unerwartet auftauchen würde.
Er verschwand in einer Höhle, die sich direkt am Fuße des Abgrunds aufzutun schien. Sich in Sicherheit wissend, sah er sich um. Und wieder war er überwältigt von dem, was er da sah. Er stand nicht einfach in einer Höhle, nein, so weit sein Auge reichte, sah er, wie sich der düstere Schatten in die Ferne zog, abgeschlossen von einer schnurgeraden Linie, die sich genau nach der Ebene, von der er gesprungen war, zu richten schien.
Der Mond sah in die Höhle hinein. So weit er sehen konnte umschloss die seichte Dunkelheit Dinge von jeder Form und Größe. Und es gab kein Ende, keine Wand, alles zog sich weiter und weiter. Der Mond schaute staunend in die Runde und langsam hob er den Blick, um die Decke auszumachen.
Er konnte sie nicht erkennen. Alles verschwamm in Dunkelheit und der Mond hatte eine ungute Ahnung. Wenn das, was er hier sah, stimmte, dann hatte er die ganze Zeit über einem riesigen Hohlraum gelebt, der wahrscheinlich jederzeit hätte einstürzen können. Und die Riesen hatten ständig darauf herumgetollt! Hatten sie nicht gewußt, wie gefährlich ihre Situation gewesen war? Dem Mond lief ein Schauder über seinen blauen Rücken. Er schauderte wohl wegen des seltsamen Gefühls, auf nichts als einer dünnen Scheibe gelebt zu haben, als auch ob der Ehrfurcht, denn diese Welt schien viel geheimnisvoller und undurchschaubarer, als er es sich nach seiner ersten Wanderung gedacht hatte.
Zu gleichen Teilen neugierig und ängstlich, was hier noch zu erleben sei, machte der Mond sich auf, diese Welt der stetigen Halbschatten zu erkunden.
Viel später hatte der Mond sich einen ersten Überblick verschafft. Die Gegenstände, die hier unten herumlagen, waren zumeist viereckige Kästen mit flachen Oberflächen. Einige von ihnen waren an ein oder zwei Seiten offen, so dass er mit einiger Mühe hineingelangen konnte. In vielen von diesen Dingern waren wiederum andere Sachen und der Mond hatte auch etwas gefunden, was seine Aufmerksamkeit erregte.
Lange, spitze und aus einem harten Material bestehende Stangen hatte er in einem der dunklen Dinger entdeckt. An deren stumpfen Ende waren noch viel längere, weiche Fäden durch Löcher gezogen worden. Einige Zeit hatte der Mond diese seltsamen Gegenstände betrachtet, und langsam war in ihm eine Idee gewachsen. Er brauchte etwas, mit dem er seine Nase befestigen konnte und der Sturz hatte ihm nicht geschadet ... es war verrückt, das war ihm klar. Aber in dieser verdrehten Situation wirkte es irgendwie ... nun, es wirkte angemessen. Der Mond machte sich an die Arbeit.
Mühevoll brachte er die langen Stangen in die richtige Position. Dann nahm er seine Nase, presste sie gegen sein Gesicht, an genau die richtige Stelle – und verharrte. Er wollte, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Obwohl es so gut sie sicher war, dass er nichts spüren würde, konnte er nicht. Seine Nase fiel zu Boden und der Mond schnaufte unglücklich. Wie sollte er dieses Abenteuer bestehen, wenn er jetzt schon klein beigab? Traurig lehnte er sich gegen den Kasten – und zuckte erschrocken zusammen, als wieder die Riesen mit einem lauten Knall in seine Welt stürmten, noch schneller als zuvor und nur einen Moment später mit so einer Wucht auf der oberen Ebene landeten, dass die Welt in ihren Grundfesten zu erbeben schien.
Zu Tode erschrocken flüchtete der Mond in den Kasten und machte sich ganz klein, denn er rechnete fest damit, dass die gesamte Decke mit einem Schlag auf ihn herabstürzen würde.
Aber nichts geschah. Nur die Riesen fingen an, komische Geräusche zu machen, wieder ganz anders, als der Mond es von ihnen gewöhnt war. Die gesamte Ebene über dem Mond begann, rhytmisch zu vibrieren und zu beben. Der Mond, noch immer im Kasten versteckt, verlor seine Furcht, Wut nahm ihr den Platz. Was ging in diesen Köpfen vor? Bemerkten sie denn nicht einmal, dass er verschwunden war? Hatten sie immer nur sich im Sinn? Und dachten sie überhaupt an das Übel, das sie ihm zugefügt hatte? Der Mond wurde wütender und begann wieder, auf und ab zu hüpfen, um seinen Gefühlen Luft zu machen. Im Kasten rumorte es, natürlich viel zu leise, als das die beiden Riesen es hätten hören können.
Die Wut im Bauch erweckte des Mondes Mut wieder (oder war es doch eher Trotz?) und er schnellte mit einem plötzlichen Sprung aus seinem Versteck, stürzte sich auf die lange Stange, die noch immer bereit lag und begann mit seiner Arbeit. Und tatsächlich, er spürte keinen Schmerz, nur ein penetrantes Ziehen, das mit jedem Stich sein Gesicht durchfuhr. Trotzdem, als der Mond zu guter Letzt fetig war, viel er vor Erschöpfung und Ekel in Ohnmacht.
Die Nase ragte wieder in ihrer ganzen Schönheit mitten aus seinem Gesicht.
Stolz erfüllte den Mond. In dem Moment, als er erwachte, wußte er, dass er etwas ganz Besonderes geschafft hatte. Er hatte seine Angst besiegt, hatte allen Widrigkeiten zum Trotz sein Schicksal in die Hände genommen und war belohnt worden. Was für ein Hochgefühl!
Über ihm war es still. Der Mond richtete sich auf und vergewisserte sich noch einmal, dass sie wieder da war, wo sie hingehörte. Seine Nase! Ja, wieder an Ort und Stelle!
Von neuer Energie erfüllt, verließ er die Schatten der unteren Ebene. Die Gewissheit, dass sein Glück irgendwo dort draussen auf ihn wartete, beflügelte ihn.
So durchwanderte der Mond zuversichtlich die Weiten der Tiefebene. Er hatte seine Nase wieder und da er so zufrieden war, ließ er den Gedanken an Vergeltung schweifen, ließ ihn untertauchen in der Fülle an neuen Eindrücken.
Er kam an den glatten, riesigen Gebirgen vorbei. Er hatte sie vom Rand der Hochebene in der Ferne leuchten sehen und sie waren fürwahr gigantisch. Auch sah er die riesigen bunten Dinge aus der Nähe.
Sie wuchsen nicht auf dem Boden, sondern hingen scheinbar in der Luft, weit über ihm. Leicht wehten sie, wenn eine Brise durch die Welt strich. Verschiedenste Dinge standen und lagen überall auf dem Boden heum. Bei den allerwenigsten kamen dem Mond flüchtige Ideen, wofür diese Dinge denn gut sein könnten. Es war alles sehr verwirrend.
Noch verwirrender war eine neue Facette dieser bunten Welt, denn da der Mond seine Nase wieder hatte, konnte er auch wieder Gerüche wahrnehmen. Diese gab es zuhauf. Aus allen Ecken und Enden erhaschte er angenehme und auch eher widerliche Gerüche; feine und intensive oder sogar sich penetrant aufdringende Düfte durchströmten die Luft. Da der Mond in dieser gewaltigen Welt ja doch nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, entschloß er sich, einfach dem Angenehmsten zu folgen.
Er folgte einem leicht süßlichen, lebendigen Geruch, der ihn stets weiter durch die Ebene führte. Der Mond wußte nicht, womit er ihn verbinden sollte, aber der Duft wirkte erfrischend und bildete eine Anziehungskraft, der er sich in seiner Unentschlossenheit nicht entziehen konnte. Ruhig ging er seiner Wege und machte sich ob seines Zieles keine bewußten Gedanken.
Mit der Zeit wurde es dunkler, er konnte immer weniger erkennen und zog sich schließlich zwischen einen Haufen weicher Dinger zurück, die, wie er erkannte, den Geruch der Riesen an sich hatten. Dieses säuerliche Etwas, das in der Nase stach. Aber das nahm der Mond in Kauf. Er wollte nicht von den Beiden entdeckt werden, den dieses Mal war er wirklich zu weit gekommen, um sich wieder auf die Hochebene verfrachten zu lassen.
Somit schob er sich zwischen die Falten und schlief nach einiger Zeit ein. Ganz leise schnarchte er und die blaue Nase bewegte sich bei jedem Mal ein kleines Stück nach links und wieder zurück.
Er wußte es zwar nicht, aber das hatte er von dem Abenteuer unter der Hochebene als Erinnerung behalten.
Als es wieder hell wurde, wachte der Mond auf. Verschlafen fragte er sich einen Moment lang, wo er war. Dann nahm er den Geruch der weichen Dinge, zwischen denen er geschlafen hatte, wahr und erinnerte sich. Vorsichtig lugte er aus dem streng riechenden Haufen heraus und spähte zu der Hochebene herüber. Da waren sie wieder. Die Riesen lagen beide herum und bewegten sich nicht. Wohl hörte er sie aber atmen – selbst dabei waren sie recht laut. Der Mond schüttelte den Kopf. Leise verließ er seinen Schlafplatz und schnupperte. Er suchte den süßen Duft, der ihn gestern geleitet hatte und dieser war weiterhin deutlich zu riechen. Der Mond drehte der Hochebene den Rücken zu und ging weiter.
Während er weiter durch diese Welt streifte, sah er noch mehr seltsame Dinge und roch verschiedene, mehr oder weniger angenehme Gerüche. Er versuchte, sich nicht zu sehr davon einnehmen zu lassen und hielt sich stets an den Leitduft. Und irgendwann – er hatte schon damit gerechnet – erreichte er die Stelle, an der es nicht mehr weiterging.
Eine riesige, glatte Wand versperrte den Weg. Sie erstreckte sich in alle Richtungen und schien kein Ende zu nehmen. Der kleine Mond lief daran entlang, suchte nach möglichen Lücken, nach kleinen Spalten oder verborgenen Mechanismen, denn er wußte ja, dass die Riesen schon mehrfach ihren Weg in diese Welt gefunden hatten. Auch waren sie aus dieser Richtung gekommen; es musste also eine Möglichkeit geben. Aber die Wand wich nicht zurück und war durch und durch stabil. Der Mond setzte sich hinter einen Gegenstand, der in der Nähe lag und überlegte. Was war zu tun?
Am Horizont bewegte sich etwas. Dem Mond fiel es nicht auf, so sehr war er in seine Grübeleien vertieft. Er bemerkte die beiden Riesen erst, als sie anfingen, Lärm zu machen.
Wieder mal erstaunte ihn ihre Größe. Er sah deutlich wie sich einer der beiden aufrichtete und über den anderen herfiel. Sie kugelten über die Hochebene, brüllten, klammerten sich aneinander und benahmen sich wie toll. Der Mond hatte das auch schon früher erlebt und war zu dem Entschluß gekommen, dass es sich um irgendein primitives Ritual handelte, mit dem sie die Helligkeit begrüssten.
Der Mond spürte Aufregung in sich aufsteigen. Bald würden die beiden Riesen die Hochebene verlassen und ihren Geschäften nachgehen. Und dabei verließen sie immer diese Welt – der Mond musste nur warten. Er versteckte sich.
Es dauerte nicht lange. Die beiden Riesen erhoben sich und durchschritten die Ebene. Sie gingen auf die bunten Dinger zu, nahmen sie und warfen sie sich über. Der Mond verharrte gespannt.
Er beobachtete, wie einer von ihnen auf die Wand zuging und irgendwo weit oben einen golden glänzenden Hebel berührte, ihn hinunter drückte und so einfach die Wand öffnete. Ein Spalt entstand und wurde schnell größer. Als er groß genug war, ließ der Riese den Hebel los und verschwand in der dunklen Welt, die sich dahinter auftat.
Der Mond spähte zu dem anderen Riesen hinüber. Der saß wieder auf der Hochebene und machte keine Anstalten, sich zu erheben. Der Mond zitterte leicht. Sollte er das Risiko eingehen und sein Versteck verlassen? Ihm war klar, dass er keine Chance hatte, die Wand aus eigener Kraft zu öffnen. Wenn er weiterkommen wollte (und seine Nase, die diesen süßen Geruch verinnerlicht hatte, sagte ihm, dass er wollte), dann galt es, an dieser Stellt nicht zu kneifen. Immerhin hatte er schon den Sprung von der Hochebene gewagt, hatte sich seine Nase zurückgeholt und sie selbst wieder befestigt – er war alles, nur kein Feigling. Der Mond verließ sein Versteck, hüpfte aufgeregt zu dem Eingang hinüber und tauchte in dem Halbdunkel der neuen Welt unter.
Im Gegensatz zu der hellen, großen Welt, die mit all ihren Wundern dahergekomen war, gab es hier nicht viel zu sehen. Es gab hier kein richtiges Licht, weder das natürliche und weiche , welches regelmäßig über die Hochebene gewandert war, noch schien hier das harte, künstliche Licht, das manchmal die andere Welt erleuchtet hatte. Der Mond konnte sich nur auf seine Nase verlassen, die ihn hoffentlich zielsicher durch diese fahle Dunkelheit führen würde.
Schon bald entdeckte er ein schwaches Leuchten am Horizont, das sich weit in die Höhe zu ziehen schien. Da seine Nase ihm sagte, dass aus ungefähr dieser Richtung auch dieser angenehme Geruch kam, hielt er sich in dieser Richtung und durchwanderte so eine zweite Welt, die wie er bald festellte, auch nicht annähernd so groß, wie die erste war. Das Leuchten wurde schnell deutlicher und der Geruch überlagerte alle anderen Gerüche immer deutlicher.
Nur an einer Stelle, ungefähr in der Mitte dieser Welt, verflog der Geruch kurz, wurde von einer übelriechenden Welle überspült. Der Mond rümpfte die Nase und versuchte, die Quelle dieses Gestankes auszumachen. Bald fand er sie. Es war ein durcheinander liegender Haufen von großen, seltsam geformten Dingen, die den Mond in ihrer Form an die Füße der Riesen erinnerten. Auch glaubte er, den Geruch als Riesengeruch identifizieren zu können. Er schüttelte sich. Froh, dass er nicht so einen Mief überall dort zurückließ, wo er sich befand, setzte der Mond seine Wanderung fort.
Es geschah weiter nichts; nichts störte seinen Weg und es tauchte auch keiner von den Riesen auf. Der Mond fühlte sich in der Dunkelheit zwar recht sicher, aber er war sich auch des Umstandes bewußt, dass er hier mit Sicherheit nicht schnell genug irgendein Versteck würde ansteuern können – so es denn überhaupt eines gab.
Nun, irgendwann erkannte der Mond, dass der schimmernde Spalt, der vor ihm immer deutlicher wurde, nichts anderes als ein weiterer dieser mysteriösen Durchgänge war, die die Riesen benutzten, um von einer Welt in die nächste zu gelangen. Bald konnte er die Einzelheiten genau erkennen. Auch hier schimmerte weit oben ein goldener Hebel und der Mond war dankbar dafür, dass der Schließmechanismus in diesem Fall versagt hatte.
Als er den Spalt erreicht hatte, lugte er vorsichtig hindurch. Er blinzelte einige Male, denn in der nächsten Welt war es wieder hell – es schien künstliches Licht zu sein, denn es fehlte Wärme darin.
Eine weitere Ebene lag vor ihm. Entfernt an den Rändern ragten – ganz ähnlich denen in der Welt der Hochebene – glatte Gebirgszüge auf. An mehreren Stellen stand riesiges grünes Gewächs in großen, bunten Töpfen in der Ebene herum. Und ein riesiger Schatten bewegte sich über den Boden.
Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hätte sich der Mond bei diesem Anblick wahrscheinlich gehörig erschrocken, aber es war viel geschehen und er kämpfte jede Angst entschlossen zurück.
Er wagte sich ein Stück weiter vor und erkannte einen der Riesen, der sich auf einer in der Ferne entschwindenden Gebirgskette zu schaffen machte. An verschiedenen Stellen rauchte oder dampfte es. Und verschiedene Gerüche kamen aus dieser Ecke. Die meisten rochen recht nichtssagend, ziemlich verwässert oder teilweise sogar ekelhaft chemisch, künstlich. Keiner von ihnen vermochte den alles überlagernden, süßen Duft zu verdrängen, der diese Welt eindeutig beherrschte. Der Mond versuchte, herauszufinden, aus welcher Richtung er ihn am stärksten wahrnehmen konnte, aber er konnte es nicht sagen.
Er wich wieder zurück, um seine nächsten Schritte in Ruhe zu überdenken. Er hatte, recht nahe an dem Durchgang, eine Höhle entdeckt, die er wahrscheinlich schnell erreichen würde. Dort könnte er darauf warten, dass die Riesen sich auf die Hochebene zurückzögen. Und dann könnte er nach dem Ursprung des Duftes suchen.
Was danach kam, das wußte er nicht. Mehr oder weniger unbewusst war er dem Duft aus der ersten Welt heraus gefolgt, ohne Aussicht auf irgendetwas. Natürlich hatte er schon viel erreicht. Neben seiner erkämpften Nase hatte er vor allem seinen Mut entdeckt. Er hatte herausgefunden, dass die Welt viel größer und erstaunlicher ist, als er es sich jemals ausgemalt hatte, damals, als er noch behütet zwischen den flauschigen Dingern der Hochebene sein Dasein fristete. Und er hatte den Stolz kennen gelernt. Meine Nase, meine Reise, dachte er, beides hat mich fürwahr mich selbst erkennen lassen - und das hat doch schon was mit Ehre zu tun.
Trotzdem schreckte der Mond auf, als am anderen Ende der Dunkelheit der Eingang, durch den er diese Welt betreten hatte, aufgestoßen wurde und der zweite Riese herauskam.
Schnell drückte der Mond sich an die Wand. Seine Farbe kam ihm dabei zugute, da das tiefe Blau mit den dunklen Farbtönen verschmolz und er so kaum zu erkennen war. Aber der Riese ging mit einem langen Schritt in die anderer Richtung, wobei er den ersten Eingang schloss. Im nächsten Moment öffnete er einen anderen und verschwand. Der Mond entspannte sich.
Trotzdem hieß es jetzt, schnell zu handeln. Er wusste nicht, wie lange der Riese verschwunden sein würde. Das Risiko galt es einzugehen. Der Mond drehte sich um und schlüpfte durch den Spalt.
Zuerst bemerkte er, dass es in dieser Welt ziemlich heiß war. Dann wurde ihm bewusst, dass die Höhle doch weiter weg war, als er zuerst gedacht hatte. Er drehte sich um; der Riese stand immer noch vor dem seltsamen Gebirgszug, aus dem es weiterhin unablässig dampfte und rauchte. Er hantierte mit einer Unzahl von Gegenständen herum; es klapperte, es brodelte und der Riese versuchte, mit seinen zwei enormen Händen überall gleichzeitig zu sein. Er schien sehr beschäftigt zu sein und der Mond verlor keine Zeit, wandte sich um und erreichte schließlich hüpfend und springend die Höhle. Es hatte tatsächlich geklappt.
Er ließ sich zur Seite rollen und schöpfte etwas Atem. Dann sah er sich um.
In etwa ähnelte die Höhle dem Untergrund, den er unter der Hochebene entdeckt hatte, nur war sie viel, viel kleiner. Auch lagen hier keinerlei Dinge herum und so wandte der Mond sich irgendwann wieder dem Geschehen außerhalb seines Unterschlupfes zu.
Der Riese hatte seine Arbeit anscheinend beendet, denn er stand jetzt vor einer weiteren Hochebene, einer immens hohen Hochebene, und verteilte dampfende Platten. Dann setze er sich auf ein seltsames Gestell und brüllte lauthals los. Der Mond zuckte nicht mehr zusammen.
Momente später kam der zweite Riese herein, setzte sich ebenfalls und beide unterhielten sich lautstark. Währenddessen nahmen sie die dampfenden Platten in die Hand und begannen, sich undefinierbare Haufen in die Münder zu schieben. Der Mond war fasziniert. Das hatte er noch nie gesehen. Welcher Sinn wohl dahinter stand?
Das kuriose Tun der Zwei zog sich dahin und weiterhin herrschte eine angenehme Wärme. Der Mond wehrte sich zwar, denn trotz allem wollte er nicht wehrlos in dieser Höhle schlafen, da doch die beiden Riesen nach wie vor eine uneinschätzbare Gefahrenquelle darstellten. Aber die Reise war hart gewesen, er war weit gewandert und all die Aufregungen
forderten Tribut. Langsam fielen ihm die Augen zu und bald zuckte seine Nase leicht, während er leise Schnarchgeräusche von sich gab.
Als er erwachte, war der Mond allein.
Er hatte nicht mitbekommen, dass die Riesen den Raum verlassen hatten. Durch ein großes Viereck, wie es auch in der Welt mit seiner Hochebene eines gab, strömte warmes, natürliches Licht und das weckte den Optimismus des Mondes. Es war ihm schon früher aufgefallen, dass die Riesen sich in ihrem Verhalten stark an dem entweder hellen oder dunklen Viereck orientierten. Wenn er richtig lag, dann hatte er jetzt Zeit, um den Geruch zu ergründen.
Der Mond stand auf und sicherte noch einmal zu allen Seiten ab. Es war sehr ruhig, nur an einer Stelle gab etwas in dem Gebirgszug ein leises, aber stetiges Brummen von sich.
Er wagte sich aus der Höhle hervor und schnupperte. Der süße Geruch lag nach wie vor klar und deutlich in der Luft. Der Mond machte sich auf den Weg.
Er durchwanderte die Ebene und beschränkte sich bei ihrer Erkundung nun fast nur noch auf seinen Geruchssinn. Jedes der grünen Gewächse, an denen er des öfteren vorbeikam, hatte einen ganz spezifischen, und im Gegensatz zu allem, was mit den Riesen zu tun hatte, vor allem sehr angenehmen Geruch. Der Mond begann zu ahnen, dass auch der Duft, dem er folgte, einem dieser Gewächse entsprang. Er war gespannt.
Als der Mond schließlich zum Fuße der Hochebene gelangte, wobei der eindringliche Duft stärker geworden war, je näher er kam, wurde ihm klar, dass dessen Ursprung dort oben zu finden war. Nur wusste er nicht, wie er hinaufgelangen sollte. Diese Ebene war mehr als doppelt so hoch, wie die, von der er seine Reise begonnen hatte. Sie wurde von vier riesigen Säulen getragen. Um sie herum standen die beiden seltsamen Gestelle, auf denen die Riesen gesessen hatten. Diese waren ebenfalls mindestens halb so hoch und boten dem Mond keine Möglichkeit, nach oben zu gelangen.
Er sah sich um.
Am anderen Ende der Hochebene hing ein weißes, langes Seil über den Rand. Der weiße Klotz, in dem es endete, berührte den Boden. Der Mond seufzte erleichtert auf. Das war die Lösung; er machte sich auf den Weg.
Das Seil war komisch glatt, die Oberfläche ganz eben. Aus dem weißen Klotz ragten zwei dicke Stäbe heraus. Es war ein seltsames Ding, aber es musste genügen.
Der Mond sprang hoch, so weit er es vermochte und biß sich in dem Ding fest. Gleichzeitig schlang er seine untere Körperhälfte um das Seil. Dann schob er sich langsam ein Stück höher, biß erneut zu und kam ein Stückchen höher. Es war gar nicht so schwer. Das weiße Zeug, aus dem das Seil zuerst zu bestehen schien, erwies sich bald als eine Art Mantel.
Ab und zu bissen sich seine Zähne durch das Material hindurch und die kleinen, harten Stränge, die sich darunter verbargen, erzeugten einen leichten Brechreiz, den der Mond aber störrisch niederkämpfte.
Er legte sich mächtig ins Zeug und erreichte recht schnell eine beachtliche Höhe. Dabei vermied er es, nach unten zu sehen. Ihm war klar, dass er sich nicht verletzen konnte, wenn er hinab stürzte, aber er war auch noch nie in dieser Höhe unterwegs gewesen. Stattdessen hing sein Blick an der Kante der Hochebene, der er weiterhin immer näher kam.
Erschöpft kam er schließlich oben an. Mit einem letzten Ruck schob er seinen Körper über die Kante und blieb erst einmal liegen, um Luft zu schöpfen. Bald aber rollte er sich auf und warf einen Blick nach unten. Die Höhe beeindruckte ihn nachhaltig und er war stolz auf sich, diese alleine bewältigt zu haben.
Dann begann er, die Hochebene zu inspizieren.
Das Seil, an dem er sich hinaufgearbeitet hatte, endete in einem großen, ebenfalls weißen Ding, das in seiner Nähe stand. Daneben standen einige durchsichtige Gefässe, in denen sich eine klare Flüssigkeit befand.
Weitere Sachen standen ein Stück weiter entfernt. Ein sehr flaches Gefäss, in dem zerknickte gelbe und weiße Stummel lagen, welche erbärmlich stanken. In einer Schachtel daneben steckten drei der Dinger in anscheinend noch heilen Zustand. Ebenso ein Beutel mit einer Menge von braunem Kraut, welches wie die Stangen in der Schachtel roch – nur fehlte der leicht künstliche Geruch.
Der Mond ging an diesen Dingen vorbei und konzentrierte sich auf ein grüne Gewächs, welches in einem leuchtend roten Topf stand. Es hatten einen recht dünnen Stengel und vielfingrige Blätter, die an den Enden spitz zuliefen.
Die Stiele der Pflanze bogen sich unter dem Gewicht von vielen grünbraunen Ballen. Dies war der Ursprung des Duftes, dem der Mond die ganze Zeit gefolgt war.
Beinahe erfürchtig stand er still und sah das Gewächs an. Es war schön, fand er. Es sah gut aus, auch wenn der Duft das Aussehen um einiges übertraf. Der Mond war zufrieden mit sich und dieser Welt.
Bald fing er an zu überlegen, was er mit seiner Entdeckung anstellen sollte. Einfach wieder fortgehen, das konnte und wollte er nicht. Hinter dem ausnehmend guten Geruch musste noch mehr stecken, als der Anblick dieser schönen Pflanze. Der Mond sah sich um – und entdeckte eine kleine Schale, die neben dem Topf stand. Darin befanden sich einige der Ballen, die an den Stielen der Pflanze hingen. Neugierig ging der Mond darauf zu. Er beschnupperte den Inhalt der Schale und stellte fest, dass diese Ballen einen sehr viel würzigeren Duft besaßen. Auch waren sie sehr trocken; im Vergleich dazu sahen die Dinger an der Pflanze geradezu saftig aus. Was sollte er mit ihnen anstellen?
Ihm kam ein Gedanke. Etwas, was er noch nie ausprobiert hatte und das
versetzte ihn in Aufregung. Als die beiden Riesen gestern hier gesessen hatten, hatten sie sich die dampfenden Sachen von ihren Platten in den Mund geschoben. Diese Schale sah den Platten entfernt ähnlich. Vielleicht war diese Ballen für den gleichen Zweck bestimmt und man musste etwas davon in den Mund nehmen ... wie die Riesen es taten.
Der Mond dachte noch einmal an seine Reise. Sie hatte ihm gezeigt, dass er Mut besaß. Er hatte ihn an den richtigen Stellen bewiesen. Jetzt galt es ein weiteres Mal, sich zu prüfen. Der Mond wollte seine Reise nicht gemacht haben, um hier unverichteter Dinge wieder abzuziehen.
Er betrachtete die Ballen und suchte sich einen aus. Es war nicht der Größte, aber auch nicht der Kleinste. Es ist der Richtige, dachte der Mond. Auf, ich probiere es einfach.
Mit einem Biss schnappte er ihn sich und kaute nachdenklich darauf herum. Das hatte er ebenfalls bei den Riesen gesehen und es erschien nötig zu sein.
Der Ballen fühlte sich recht trocken in seinem Mund an und der Mond wollte ihn schon wieder ausspucken, als ihm bewusst wurde, dass er mit einem Male auf eine andere Weise roch.
Es unterschied sich völlig von dem normalen Vorgang, den er mit seiner Nase ausführte. Der Geruch befand sich nun in seinem Mund und war viel intensiver, war irgendwie anders, interessanter. Also kaute er weiter.
Dabei sah er sich um und erkannte, dass er sich auf einer Höhe mit dem Viereck befand, hinter dem Helligkeit und Dunkelheit waren.
Auf der Ebene der anderen Welt war das Viereck viel zu weit oben, aber hier konnte er direkt hinein sehen. Er hörte auf zu kauen und schluckte den letzten Bissen unbewusst hinunter.
Der Anblick war beinahe ungreifbar.
Gigantische Gewächse standen dort herum, sie schienen sich ausserhalb seines Blickwinkels immer weiter zu strecken, den er konnte keinen Abschluss erkennen. Den ganzen oberen Teil des Vierecks nahm eine immense blaue Fläche ein. Ein Blau, wie der Mond es noch nie gesehen hatte; warm, heiter, lebendig. Weiße Flocken hatten sich darüber verteilt.
Den Rest des Bildes konnte er für sich nur schwer in Worte fassen. Unzählige verschiedene Formen standen oder schwebten überall herum, manche groß, manche eher kleiner, aber die meisten doch einfach gigantisch in ihrer Größe.
Der Mond starrte in diese wunderbare Welt, die sich hinter dem Viereck auftat und konnte sich einfach nicht satt sehen. Und tief in ihm wuchs das Verlangen danach, diese Welt zu durchforschen, ihre unbekannten Weiten zu durchwandern, diesen traurigen Abklatsch der Wunder, die er sah, zu verlassen; und noch eine Ebene tiefer in seiner Gefühlswelt erwachte erneut der Gedanke daran, den Ort zu finden, von dem er in der Dunkelheit oft geträumt hatte: der Ort, an dem er mit all den anderen Monden zusammen gelebt hatte.
Bei diesen Gedanken verspürte der Mond ein tiefes Glücksgefühl und musste – zu seiner eigenen Verwunderung – lauthals und glockenhell lachen. Was ist denn das gewesen?, fragte er sich verwundert. War ich das? Und wieder musste er glucksen. Ein seltsames Gefühl, sich selbst so zu hören. Aber schön. Der Mond lachte noch einmal und sah wieder in die Welt in dem Viereck. Sie erschien ihm noch schöner, bunter und interessanter als eben. Jede Kleinigkeit fesselte seine Aufmerksamkeit und er genoß jeden Moment und freute sich, wenn er etwas Neues entdeckte.
Während der Mond, so in sich verloren, die Welt betrachtete, schob sich ein leuchtendes Etwas in das Viereck hinein. Geblendet schloß er die Augen, denn das Licht, was davon ausging, war so hell und strahlend, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Der Mond stand da und spürte, wie das Licht Energie mitbrachte, jede Rundung seines kleinen Körpers sanft erfasste und bedächtig erwärmte. Es war ein einzigartiges Gefühl und der Mond schwebte genussvoll in diesem zeitlosen Moment.
Irgendwann öffnete er langsam die Augen und vermied dabei einen direkten Blick zu dem Ding. Diese Welt dort und die Zeit, die er mit ihrer Betrachtung verbrachte – beides war wunderbar und der Mond ließ sich wieder in seine Gefühle sinken.
Als er das laute Knallen irendwo hinter sich hörte, wußte er nicht, wieviel Zeit vergangen war. Er konnte dem Geräusch nichts zuordnen, er tat sich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Erst ein zweites Knallen, diesmal viel näher, brachte ihm die Erkenntnis, dass ein Riese kam. Riesen machten diese Geräusche. Ein Riese war auf dem Weg hierher.
Der Mond sah sich gehetzt um. Suchte ein Versteck, aber hier auf der Hochebene gab es nichts, das ihn verborgen hätte. In seinem Kopf raste es, aber die Gedanken kamen nur langsam, wie durch dicken Leim.
Ich muss runter von der Ebene, weg von hier. Er hüpfte hektisch zum zurück zu dem Seil, obwohl die Kante auf der anderen Seite näher war.
Als der Riese den Durchgang öffnete, hatte der Mond den Rand nicht erreicht. Er sprang verzweifelt hinter das weiße Ding, an dem das Seil befestigt war. Dabei hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas zu klein war, dass er größer war. Zu groß. Er kauerte sich zusammen und verharrte zitternd.
Der Mond hörte, wie der Riese sich näherte. Er sah eine riesige Hand über der Ebene auftauchen. Sie kreiste kurz ziellos in der Luft und stieß dann genau auf ihn hinab. Der Mond schloß die Augen und drückte sich eng an das weiße Ding. Er konnte keinen Gedanken fassen. In seinem Kopf flog ein verzweifeltes „NEIN!“ wie ein aufgescheuchter Vogel hin und her.
Dann auf einmal spürte er, wie sich das weiße Ding hinter ihm bewegte und verschwand. Er hörte eine Flüssigkeit in dem Ding hin und her schwappen, das Geräusch war viel zu laut. Dann verlor er das Gleichgewicht und rollte zur Seite. Der Mond riß die Augen auf, instinktiv suchte er nach der Hand, die ihn greifen wollte, aber es war keine da. Er blickte auf und sah den Riesen, der sich mit dem weißen Ding in der Hand von ihm abwandte. Das Seil flog an dem Mond vorbei, deutlich konnte er seine Bißspuren erkennen.
Er hat mich nicht gesehen! Das ist meine Chance! dachte er und hüpfte auf den Abgrund zu. In seiner Aufregung stolperte er und prallte dabei gegen eines der Gefässer, die neben dem weißen Ding gestanden hatten.
Das Gefäß drehte sich mehrmal um sich selbst und fiel in den Abgrund. Der Mond erstarrte. Einen Augenblick später sprang er vor und beinahe zeitgleich zerschellte das Gefäß auf dem Boden.
Die Welt stand still. Aber nur kurz.
Der Mond sah die Scherben, die leicht schimmerten. Er sah die Pfütze, die sich langsam über den Boden ausbreitete. Sah, wie sie die Füße des Riesen erreichte und diese durchnässte. Nein!, dachte er und gab ein klägliches Quiken von sich.
Er sah zu dem Riesen auf. Er verfolgte, wie dessen Hand, die gerade den Klotz am Ende des Seils irgendwie in die Wand eingestöpselt hatte, an dem Seil entlangfuhr. Er blickte zum Gesicht des Riesen empor. Dieser starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und öffnete den Mund, gab ein seltsames Geräusch von sich und dann brach die Katastrophe los.
Zwischen den Fingern der Hand blitzte es auf. Funken stoben auf. Der Riese änderte den seltsamen Ton in ein langgezogenes Heulen und alle seine Gliedmaßen fingen an zu zucken. Der Mond stöhnte entsetzt auf und fiel zur Seite. Der Riese zitterte und zuckte, leichter Rauch stieg von seinen Augen, seinem Kopf und seiner Hand auf. Seine Finger hatten sich um das Seil, das gar keines war, verkrampft. Das Heulen stieg an, erreichte ungeahnte Höhen und jetzt schrie auch der Mond, der Ton tat ihm weh.
Beide Töne erreichten eine Einheit, eine nur Momente andauernde Symphonie des Schreckens; die ekstatischen Bewegungen des Riesen begleiteten diese Klarheit, die sich einstellte und ein durchdringender Geruch bohrte sich in die Nase des Mondes. Der Riese stank – er schmorte und er stank. Der Mond schloß entsetzt die Augen, konnte aber nicht aufhören zu schreien. Der Anblick des tanzenden Riesen brannte sich in sein Gedächtnis, band dort die schrillen Schreie, den ätzenden Geruch und blieb.
Der Mond schrie und schrie und obwohl ihm irgendwann bewusst war, dass er nur noch alleine schrie, konnte er nicht aufhören, bis scließlich nur noch ein leises Krächzen seine Kehle verließ. Tränen rannen ihm das Gesicht hinunter und er verstummte.
Erst nach langer Zeit wagte er es, die Augen zu öffnen.
Viel später erst wagte er es, sich aufzurichten.
Er sah nach unten.
Der Riese lag auf dem Boden, die Finger nach wie vor um das Seil geschlossen, dessen Ende er im Fallen aus der Wand gerissen haben musste. Die Glieder waren seltsam verkrampft. Der Mond, der sich einer eigenen Sterblichkeit nicht bewusst war – sich dessen nicht bewusst sein konnte – spürte, dass da unter ihm nichts Lebendiges mehr war. Eine tote Hülle, die er des Lebens beraubt hatte. Die Augen des Riesen waren immer noch weit aufgerissen und der Mond glaubte, darin eine verzerrte Mischung aus Schmerz und totaler Überraschung zu erkennen.
Er hat mich gesehen. Er hat mich zum ersten Mal wirklich und wahrhaftig wahrgenommen. Jetzt gibt es ihn nicht mehr.
Der Mond zuckte mehrere Male zusammen. Ihn überspülten Gefühle, die er nicht einordnen konnte, die aber so mächtig waren, dass sie ihn in seinen Grundfesten erschütterten und sein überforderter Verstand gab auf.
Er versackte in einer tiefen, tiefen Schwärze, die ihn vor diesen Bildern , seinen Gedanken und allen Konsequenzen schützen sollte.
Das er fiel, bemerkte er schon gar nicht mehr.
Er befand sich für eine lange Zeit in dieser Dunkelheit. Währenddessen vergaß er jede Erinnerung an die Welt, die er in dem Viereck gesehen hatte, verlor die Empfindungen, die das hell strahlende Ding und dessen Wärme in ihm ausgelöst hatte. Etwas in ihm verdrängte sogar den Wunsch, den Ort zu finden, an dem die ganzen anderen Monde lebten und an den er hatte zurückkehren wollen. Er vergaß das Gefühl, mutig zu sein und den Drang danach, persönliche Ehre zu besitzen.
Es blieb das Bild des tanzenden, rauchenden Riesen, der nicht mehr lebendig war.
Als der Mond endlich wieder aus diesem Koma erwachte, empfand er zuerst einen tiefsitzenden Kopfschmerz. Er öffnete langsam und vorsichtig die Augen, doch das Licht drang pulsierend in seinen Kopf ein und gab dem Schmerz Nahrung. Der Mond kniff die Augen zu und stöhnte leise.
Sobald es wieder ging, sah er sich um.
Er lag zu Füssen einer der Säulen, die die Hochebene stützten, von der er gestürzt war. Und hinter ihm musste dann ... der Mond warf sich herum, aber der nicht mehr lebendige Riese war nicht da. Er blickte auf den glatten Gebirgszug, an dem der Riese hantiert hatte. Er ließ seine Augen weiter schweifen.
Sie blieben an den zwei Füssen des anderen Riesen hängen.
Der Riese saß, ganz nah bei dem Mond, auf einem der Gestelle vor der Hochebene. Der Mond erschrak. Er hatte sich bewegt und der Riese musste es gesehen haben. Lass ihn nicht auch anfangen zu rauchen, flehte der Mond, laß ihn nicht zittern und schreien ...
Aber der Riese tat nichts dergleichen. Er hatte die Hände auf seinen Beinen gefaltet und starrte durch den Mond hindurch, ohne ein Zeichen des Erkennens zu geben. Lautlose Tränen liefen an seinem Gesicht herab.
Der Mond bewegte sich trotzdem nicht. So verharrten sie beide, bewegten sich kein einziges Mal und in der Welt wurde es langsam dunkler. Konturen verschwammen, aber nichts war in Bewegung. Der Mond wagte nicht, laut zu atmen. Der Riese schien überhaupt nicht zu atmen. So leise hatte der Mond keinen von beiden je erlebt.
Schließlich war es völlig duster. Die Zeit verstrich, nichts passierte. Der Mond dachte in diesen Stunden viel nach.
Was konnte er nun tun? Seine Reise, die so einzigartig angefangen hatte, war in einem schrecklichen Desaster geendet. Er hatte Schmerzen verursacht, bei dem einen Riesen und bei diesem auch, das spürte er. Dieser Riese litt. Wie war dieser Welt noch zu helfen? Dem Mond viel keine Antwort ein, so lange er auch darum kämpfte.
Irgendwann begann die Dunkelheit sich langsam wieder aufzulösen, wich einem dunkleren Grau, das stetig heller wurde. Er konnte den Riesen wieder sehen; dieser hatte seine Haltung nicht verändert.
Mit zunehmender Helligkeit wurde der Mond müder und versuchte vergeblich, die Augen aufzuhalten. Bald schlief er dennoch ein. Und träumte von Rauch.
Er erwachte von einem scharrenden Geräusch. Er öffnete die Augen und sah auf. Es war wieder vollkommen hell. Der Riese hatte sich erhoben und stand in seiner ganzen Grösse verloren in dieser Welt.
Der Mond schaute ihn voller Mitgefühl an. Dann beugte der Riese sich hinunter und erfasste den Mond mit seiner Hand. Der Mond erschrak nicht. In ihm war etwas erwacht, das viel mehr wert war als der blanke Mut, den er während seiner Reise kennen gelernt hatte: es war Vertrauen, vielmehr der Mut, vertrauen zu können, Mitgefühl zu geben.
Der Riese nahm ihn auf und drückte ihn an seine Brust. Jetzt schluchzte er leise und einige seiner Tränen tropften auf den Mond, der sich ganz ruhig verhielt.
Der Riese drehte sich um und ging auf den Durchgang zu. Er öffnete ihn und ging durch die dunkle Welt, bis zu dem Eingang der ersten Welt. Nachdem er diesen durchschritten hatte, schloß er ihn und schritt auf die Hochebene zu. Er legte sich langsam und unsicher darauf, schlang eines der großen, weichen Dinger um sich und legte seinen Kopf sanft auf den Körper des kleinen blauen Mondes.
Noch lange Zeit weinte er, aber irgendwann schloss er die Augen und schlief ein.
Der Mond, dessen Körper nass war von den Tränen, war auf eine sehr melancholische Weise glücklich.
Jetzt wusste er, worin seine Aufgabe in dieser Welt bestand: er war jetzt wirklich ein Schäfer, und behütete den sanften Riesen, der in dieser traurigen, unverständlichen Welt es nicht verdient hatte, allein zu sein.
ENDE