Mondschuld
Die Nacht neigte sich ihrem Ende entgegen. Kein Geräusch durchbrach die Stille. Ich musste mich beeilen. Mein Unterschlupf war noch weit entfernt. Plötzlich fühlte ich, wie mich eine Hand an der Schulter berührte. Gleichzeitig wurde ich von der Person angesprochen.
„Bitte, warte einen Moment.“ Diese Stimme... Irgendwo in meinem Gedächtnis war der Schlüssel zu dieser Stimme verborgen. „Ich weiß, wer du bist. Bitte, warte. Ich brauche deine Hilfe!“
Langsam drehte ich mich um. Hinter mir stand ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren mit langen, dunklen Haaren und von Traurigkeit beschatteten Augen. Ich spürte seine Unschuld... Sein unschuldiges Herz, seine unschuldigen Gedanken...
„Ich kann dir nicht helfen. Ich habe genug eigene Probleme. Probleme, die du dir nicht mal vorstellen kannst. Und außerdem bin ich in Eile.“
„Ich werde dich nicht gehen lassen. Solange nicht, bis du mir hilfst!“
„Versuche doch mich aufzuhalten!“ Ich entblößte meine Zähne und knurrte.
Er sah meine spitzen Zähne mit großen Augen an, wich jedoch keinen Zentimeter von mir zurück. „Du kannst mich nicht erschrecken. Ich weiß, was du bist. Ich folge dir schon seit einiger Zeit.“
„Ich habe dich nie bemerkt!“
Er lächelte. Mehr nicht. Vorsichtig hob ich meine Hand und berührte sein Haar, fühlte, wie weich es war. Mein Herz schmerzte. Ich wünschte mir so sehr wie er zu sein. Aber nein, das war völlig unmöglich. Und außerdem musste er gehen. Weit weg, so dass ich nie wieder die Möglichkeit hätte, ihn zu sehen.
„Geh weg!“ knurrte ich.
Nun schrak er doch vor mir zurück. Dies war alles, was ich brauchte. Bereits eine Sekunde später ließ ich ihn hinter mir zurück. Wenn ich es möchte, kann ich mich fast so schnell wie der Wind bewegen. Mit dieser Geschwindigkeit erreichte ich kurz danach meinen Unterschlupf. Schnell prüfte ich, ob jemand hier gewesen war, aber das Pentagramm war noch intakt. Ich war in Sicherheit und der Tag konnte anbrechen.
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Ein leises Rascheln riss mich aus meinem Schlaf. Vorsichtig griff ich nach meinem Dolch. Die Türe begann sich zu öffnen, so vorsichtig, dass sie nicht quietschte. Eine dunkle Gestalt schob sich durch den entstandenen Spalt in den Raum. Ich blickte zum Fenster hinüber und sah den Mond hinter den Wolken aufblitzen. Es war bereits wieder Nacht. Keine Chance für den Eindringling. Ein zufriedenes Lächeln umspielte meine Lippen. Die Bodendielen knarrten leise unter den Schritten des Eindringlings. Ich erhob mich leise und verbarg mich hinter einer der Säulen, die den Raum aufteilten.
Der Eindringling kam nah an mir vorbei. Nah genug, dass ich mich hinter ihn stellen konnte, als er vor meiner Bettstatt stehen blieb. Er beugte sich hinab und legte eine Hand auf das Kissen, wie um seine Wärme zu spüren. In diesem Moment drückte ich ihm meinen Dolch gegen den Hals und wisperte ihm ins Ohr. „Ja, ich bin noch hier. Wer bist du und was willst du?“
Ich spürte, wie er sich versteifte. Seine Stirnvene begann nervös zu zucken.
„Bitte, tu mir nichts...“ Wieder diese Stimme...
„Was willst du hier? Wie konntest du mir folgen?“
„Ich brauche deine Hilfe. Höre mich wenigstens an!“
„Setz dich.“ Bei diesen Worten stieß ich ihn zu dem Sofa hin, welches an der Wand stand. Ängstlich sah er zu mir auf. Wieder entblößte ich meine Zähne, woraufhin er nur noch ängstlicher zu mir aufsah.
„Rede!“
Vorsichtig begann er seine Geschichte zu erzählen, welche mich nur zu sehr an meine eigene erinnerte. Währenddessen kontrollierte ich mein Pentagramm. Es versah noch immer zuverlässig seinen Dienst. Sobald er seine Geschichte beendet hatte, die nur sehr kurz war, fragte ich ihn, wie er mich gefunden hatte.
„Ich liebe die Nacht,“ begann er. „ Sie hält ihre Arme schützend um mich und ich kann träumen, ohne das ich belächelt werde. Eines Nachts träumte ich von dir. Ich spürte, dass dieser Traum mehr war als nur ein Hirngespinst. Er entsprach der Wahrheit. Und so hielt ich Nacht für Nacht nach dir Ausschau. Schon in der dritten Nacht sah ich deinen Schatten und versuchte dir zu folgen. Und von da an jede Nacht, bis ich deine Gewohnheiten kannte und deinen Unterschlupf. Ich beobachtete dich lange.“
„Du hast von mir geträumt? Und wusstest sogleich, dass ich existiere?“
„Ich weiß, dass nicht nur Menschen und Tiere diese Welt bevölkern. Ich habe schon andere gesehen. Du bist nicht die Erste.“
„Hast du schon andere um Hilfe gebeten?“
„Nein, denn ich wusste, dass sie mir nicht helfen konnten. Du bist die Erste, bei der ich weiß, dass ich Hilfe bekommen kann.“
„Du bist sehr vertrauensselig. Und auch mutig“
„Ich kann nicht anders. Sonst bin ich verloren.“
„Wie heißt du?“ fragte ich ihn unvermittelt. Ich hatte bereits eine Ahnung.
„Ich heiße Unelma. Ein eigenartiger Name, ich weiß.“
„Das heißt ‚Traum’. Ein durchaus passender Name und ganz und gar nicht eigenartig.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß viel mehr als du dir vorstellen kannst.“ Einen Augenblick verstummte ich. „Vielleicht kann ich dir doch helfen. Ich muss darüber nachdenken. Bleib hier, aber fasse nichts an. Ich bin in zwei Stunden zurück.“
Unelma nickte. Ich wusste, er würde sich nur vom Fleck rühren, wenn das Haus Feuer fangen sollte. Aber das würde garantiert nicht geschehen.
Ich durchstreifte die Nacht und dachte über Unelmas Geschichte nach. Sie reizte mich sehr, wie ich zugeben musste. Und auch er faszinierte mich. Im Mondlicht begann ich neue Kraft zu tanken. Meine Gedanken rasten währenddessen wie wild.
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Nach zwei Stunden stand ich wieder vor ihm. Als ich ihn ansprach, erschrak er. Natürlich hatte er mein Kommen nicht bemerkt. Ich gab ihm meine Hand, welche er erstaunt drückte.
„Ich heiße Raven,“ sagte ich zu ihm. „Meine eigene Geschichte ist zu kompliziert, um sie erzählen zu können und auch zu lang. Aber ich werde versuchen dir zu helfen.“
Ein zögerliches Lächeln stahl sich auf Unelmas Gesicht. Er konnte meine Worte zuerst nicht glauben.
„Wie...,“ stammelte er, zugleich verwirrt und erleichtert.
„Ich kannte mal jemanden, der genauso war wie du. Es ist schon lange her. Länger als ein Menschenleben. Ich konnte und wollte ihm damals nicht helfen. Aber dir kann ich vielleicht helfen. Ich will es zumindest versuchen. Jetzt bestehen die Hindernisse nicht mehr, die mich damals zurückhielten.“
„Und was muss ich als erstes machen? Womit fangen wir an?“ fragte Unelma wissbegierig.
„Ich werde dich auf deine Aufgabe vorbereiten. Wir haben dazu jedoch nur wenig Zeit, bis zum nächsten Vollmond. Ich werde dich dann zu meinesgleichen machen. Es ist die einzige Möglichkeit wie ich dir helfen kann. Willst du das? Du kannst frei entscheiden...“
Unelma sah mich mit großen Augen an. Dann nickte er und sagte mit leiser Stimme: „Ja, bitte.“ Er räusperte sich kurz und wiederholte seine Worte nun mit kräftiger Stimme: „Ja, bitte. Ich werde es auf mich nehmen. Bereite mich vor.“
„Gut.“ Ich lächelte ihn an. Dabei blitzten meine Zähne im Mondlicht auf. „Du wirst viel lernen müssen. Je mehr du vorher schon weißt, je einfacher wird dir die Umstellung auf dein neues Leben gelingen.“
„Es gibt doch sicherlich Bedingungen, die sich an die Wandlung knüpfen, oder?!“
‚Er denkt mit. Kein schlechtes Zeichen,’ dachte ich bei mir. „Sicher gibt es Bedingungen. Du wirst die erste Zeit auf mich angewiesen sein, vor allem auf meinen Schutz. Nachdem vor Jahren die damals bestehenden Regeln für nicht mehr gültig erklärt wurden, ist es für Neue sehr schwer geworden zu überleben. Aus diesem Grund unterweise ich dich auch schon vor deiner Wandlung.“
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Der Vollmond stand am Himmel und verströmte sein magisches Licht. Ich hatte Unelma in dieser Nacht zum ersten Mal aus meinem Unterschlupf heraus gelassen. Fast 28 Tage hatte er dort mit Lernen verbracht. Nun führte ich ihn auf die Lichtung, die ich vorbereitet hatte. Mit hellen Kieselsteinen hatte ich ein Pentagramm ausgelegt, welches nun im Mondlicht schimmerte.
„Lege dich in die Mitte,“ wies ich Unelma an. „Du selbst brauchst nichts zu machen, außer den Wunsch zu haben, dass die Wandlung gelingt.“
Wie zuvor besprochen, schlüpfte Unelma aus seinen Kleidern und legte sich in die Mitte des Pentagramms. Auch ich entledigte mich meiner Kleider und begann dreimal um das Pentagramm herumzugehen. Währenddessen summte ich leise das Lied des Mondes. Schließlich betrat auch ich die Mitte des Pentagramms. Ich beugte mich zu Unelma hinunter und bleckte meine Zähne.
Furcht spiegelte sich in seinen Augen wieder, aber auch freudige Erregung. Bereitwillig legte er seinen Kopf in den Nacken zurück und entblößte seinen Hals. Ich gab dieser Einladung nach und ritzte ihn vorsichtig mit meinen Zähnen an. Ein Blutstropfen bahnte sich seinen Weg aus der kleinen Wunde. Nun ritzte ich mir selbst eine Fingerkuppe auf und fuhr mit dieser zärtlich über die Wunde an Unelmas Hals. Unser Blut mischte sich. Kurz darauf begann die Wandlung.
Unelmas Körper versteifte sich, nur seine Augen bewegten sich heftig. Nach zehn Minuten lag er völlig still da, fast wie Tod, und starrte den Mond aus glasigen Augen an. Dies zog sich einige Zeit hin, bis er plötzlich kurz mit seinen Augen zwinkerte. Er drehte seinen Kopf und sah mich lächelnd an.
„Willkommen, mein Liebster,“ begrüßte ich ihn. „Willkommen in der Welt der Magie, in der Welt der Monddrachen.“