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Monk im Mond

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02.09.2010
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Monk im Mond

Monk im Mond

Um die Behauptung zu bestätigen, es gebe mehr als nur eine Welt, muss man weder Philosoph noch Physiker sein. Mir reicht eine Unterhaltung mit meiner Schwester. Jedes Gespräch mündet in die Erkenntnis, wir leben auf verschiedenen Planeten. Blickt Juli auf dem Weg zu einer unserer Verabredungen durch die Windschutzscheibe auf das Hinterteil eines Jaguars, betrachte ich derweil ausgetretene Stiefel, von denen das Leder blättert. Doch daran kann es nicht liegen. Schließlich sind wir im selben Mief aufgewachsen und gingen in dieselbe peinliche Schule. Vermutlich liegt es an ihren Synapsen, die fortwährend funken und explodieren, während mein Hirn einem Tümpel gleicht, in dem die Frösche vor Langeweile sterben.
Der schwesterliche Begeisterungsfanatismus entbehrt jeglichen Humors, was ich schon als Kind bemerkte, wenn Oma uns am Rockzipfel heimlich in die Kirche schleifte, um uns Heidenkinder zu bekehren. Während Juli mit scheu gesengtem Blick insbrünstig alles mitsang, stimmte ich nur an einer Stelle in den Chor der Gläubigen ein, dann nämlich, wenn der glatzköpfige Pfarrer uns aufforderte: „Erhebet Eure Herzen“ und wir antworten sollten: „Wir haben sie beim Herrn.“ Ich war überzeugt, den feisten Kerl, der uns zuweil nach Mottenpulver schmeckende Obladen verpasste, obgleich er genau wusste, dass wir damit Prügel von unserem Atheisten-Vater riskierten, müsse unsere Antwort beschämen, forderte er doch zu etwas auf, das wir schon hinter uns hatten. Nur meine Schwester nicht. Denn sie war immer noch und immer wieder dabei, ihr Herz zu erheben, während die unsrigen längst geborgen waren. Wenn Juli wieder mal einen Sonnenuntergang beklatscht hatte, als wäre sie im Theater, und dann in den Himmel blickte, dass man meinte, er müsse sich gleich öffnen und Sterntaler regnen, bemerkte ich, so doll sei es beim Herrn dort auch nicht. Dergleichen Bemerkungen versteht sie nicht.
Niemand interessiert sich für meine Schwester und mich, was sie bestreiten würde, weil jedes Mannsbild ihr hinterherschaut. Doch um uns geht es nicht. Oder doch nur insofern wir Zeugen eines Mordes waren, zumindest indirekt. Das kam so.
Meine Schwester hatte mich zum Italiener eingeladen. Die Gäste haben hier, selbst wenn sie nicht regelmäßig das Solarium besuchen, in Schminktöpfe fallen oder von irgendeiner Urlaubsinsel zurückkehren, eine Haut aus Bronze. Allerdings kommt man zu Da Geronimo nicht um gesehen zu werden, sondern um sich zu verstecken. Jeder Tisch ist so arrangiert, dass man von ihm aus keinen anderen einsehen kann. Die hohen Preise, die nicht nur in der Stadt, sondern in ganz Europa ihresgleichen suchen, bezahlt man für das rare Gut der Anonymität. Lediglich ein Tisch, an dem gewöhnlich die Kellner speisen und den sie den Katzentisch nennen, gibt – vorausgesetzt man ist sehenden Auges - den Ausblick auf einen Nachbartisch frei. Und an diesen hatte man uns gesetzt, da ein verliebtes Paar offenbar beabsichtigte, an dem für uns reservierten zu übernachten. Ich unterbrach Juli, die von ein oder zwei saaagenhaften Männer schwärmte, mit dummen Bemerkungen und Fragen: „Nachher gegen wir noch eine ordentliche Pizza essen. Heißt das Gericht gartenfrisches Basilikum an Lasagne oder Hackfleischkrümmel an einem Seidenfaden von Schnittlauch?“ Juli reagierte nicht und fing stattdessen an, New York zu verklären . „Ach“, sagte ich, „dann erzähl mir lieber nochmal, wie du Geronimo kennengelernt hast.“
Du weißt genau, dass er nicht Geronimo, sondern Mario heißt, maßregelte sie mich. Und dann tat sie, was sie schon an die zwanzig Mal getan hatte: Sie erzählte die Geschichte getreu einem einmal gefassten Wortlaut und mit ungeschmälerter – mit was sonst? – Begeisterung.
Sie hatte Mario bei einer Lesung zum Tischnachbarn und wenig später ihn. Weil er sie so gerührt durch seine Tränen, die er zu der leise vorgetragenen Erzählung eines jungen Mannes vergoss. War das nicht ergreifend, hatte Juli Mario zugeflüstert, nachdem der Möchtegernpoet sein Manuskript aus den beringten Händen gelegt und sich im Beifall sonnte. „Eigentlich nicht“, sagte Mario und putzte sich die Nase, „er hat fast jedes Wort bei Schnitzler abgeschrieben.“ Und warum weinen Sie dann, habe sie gefragt. „Weil Schnitzlers Der blinde Geronimo und sein Bruder mein Schicksal erzählt.“ Wie in jener Geschichte Carlo an der Erblindung des Bruders Schuld habe, so er, Mario, an der seines Bruders Dario. Niemand könne sich vorstellen, wie entsetzlich das sei. Er habe seinen Bruder, als der noch ein Baby war, durch ein Stoppelfeld getragen und plötzlich sei er ihm aus den Armen gerutscht. Statt der Augen waren nunmehr zwei Löcher. Der alte Vater habe ihn halb tot geprügelt und sich dabei so erregt, dass er den Geist aufgab. Von seinem ersten Lohn als Landarbeiter bezahlte Mario zwei Glasaugen. Doch verdiente er zu wenig, um Mutter und Bruder zu versorgen, er musste dem Kleinen eine Beschäftigung finden. Und nichts konnte Dario so gut, wie zu Hause den Tisch decken. Mit zehn jonglierte er mit Tellern, Eiern und Äpfeln. Die Mutter eröffnet ihm die Welt der Gerüche und träumte sich Dario als berühmten Parfumeur. Doch Dario liebte gewürzte Speisen mehr als Duftwässerchen und streute die von Mama gesammelten Kräuter und Blumen in Suppen und Soßen. Also verabschiedete sich Mario von seinem Kindheitsplan, Matrose zu werden, und mietete auf Kredit ein winziges Restaurant. Die Leute kamen weniger wegen des feinen Geschmacks der Speisen – auf dem Land liebt man es deftig. Man kam, um den geschickten Blinden zu bestaunen, wie er am Tisch das Fleisch flambierte und das Weinglas randvoll füllte, ohne jemals einen Tropfen davon zu verschütten. Bald hatten die Brüder genug Geld für ein Lokal in der Kreisstadt beisammen, in dem Dario nach Feierabend eine Handvoll Schicksalsgenossen ausbildete. Eines Tages dinierte der Besitzer einer deutschen Werbeagentur bei ihnen und quatschte von Erlebniskultur. Mario fand die Idee, die Gäste sollten im Dunkeln speisen, idiotisch. Und Dario fragte, ob sich denn die Menschen manchmal wünschten, blind zu sein. Das vielleicht nicht, meinte der Werbemann nachdenklich, aber manche wollten nicht gesehen werden. Ein Restaurant für Hässliche, brummte Dario schlechtgelaunt und setzte hinzu, er habe zwar Mitleid mit den Glöcknern dieser Welt, man solle aber nicht glauben, nur weil er blind sei, empfinde er kein Bedürfnis nach Schönheit. Auch er erkenne, mit Verlaub, ob einer schwergewichtig hereintrampele oder leichtfüssig auf eleganten Beinen daherkomme, und wenn die Leute sich durch das Haar führen und es nicht raschle, sei es fettig. Man müsse niemandem im Gesicht herumfingern, um sein Aussehen zu erspüren. Sie zum Beispiel, sagte Dario, obwohl Mario Dario am linken Ellbogen berührte – ein von beiden vereinbartes Zeichen ihr italienisches Temperament zu zügeln - Sie zum Beispiel, wiederholte Dario ungerührt, sind klein, stämmig und haben eine Glatze, um vom Mundgeruch mal zu schweigen. Den Gast war man los. Aber am selben Abend ward noch die Idee geboren, in einer reichen deutschen Großstadt ein Restaurant für Prominente zu eröffnen. Nein, entschied Mario, wir nennen es nicht ‚Unsicht-Bar’ oder ‚Incognito’, es muss neutral klingen. Wir nennen es Da Geronimo. Wer ist denn Geronimo, fragte Dario, und als er keine Antwort erhielt, sagte er, warum nicht, der Name hat Melodie. Du wirst es führen, sagte Mario, ich komme nur nach Feierabend vorbei, wenn die Gäste weg sind, um zu sehen, wie es dir geht. - Ist das nicht rührend, fragte Juli und sah gedankenverloren durch mich hindurch.
Natürlich blieb ‚Da Geronimo’ kein Geheimtipp. Doch schreckten die Preise bald die Schaulustigen ab, die die Reportage über die blinden Kellner und Köche im Fernsehen gesehen hatten und die Paparazzi waren es leid, Männer und Frauen in Kapuzenmänteln und Sonnenbrillen abzulichten, wie sie im dunklen Eingang einer Seitenstraße mit holprigem Kopfsteinpflaster verschwanden. Vor einem Vorhang aus schwarzem, schwerem Samt saß Stefano und ließ sich eine Zahl nennen, die zuvor am Telefon vereinbart worden war. Man hatte einen Detektiv beauftragt, heimlich Stimmproben von Journalisten zu sammeln und Stefano hatte sie wochenlang studiert. Wenn einer von ihnen dennoch bis zum Vorhang vorgedrungen war, hier wurde er enttarnt und an einen Tisch geleitet, von dem aus er ein riesiges Bild, auf dem ein buckliger Mann durch ein Schlüsselloch eine delikate Szene beobachtet, studieren konnte. Der unwillkommene Gast verbrachte vermutlich den ganzen Abend damit, zu rätseln, wo sich die anderen Gäste befinden. Die Tapetentür, durch die ihn Stefano geleitet hatte, schien verschwunden. Bei seinen Erkundigungen landete Herr Neugier entweder in der Küche, auf einer Toilette, die ganz offensichtlich nur er benutzte, oder auf der Straße.
Da saßen wir nun also bei ‚Geronimo’ am Katzentisch, Juli und ich. Ihre Bronzehaut wurde von Goldhaar umspielt und plötzlich bekam sie obendrein einen verzückten Silberblick, dem ich unwillkürlich folgte. Am Tisch gegenüber hatten ein Mann und eine Frau Platz genommen, die nun ihre Sonnenbrillen und Baseballkappen abnahmen. Ich glaubte sie zu kennen, bis ich begriff: so stellte man sich Hollywood vor, das einen im wahren Film ja immer bloss enttäuscht. Dunkel fiel mir ein Fetzen aus einem platonischen Dialog ein, in dem es um ein Urpferd geht. Ein Bekannter hatte sich hartnäckig meiner Auslegung widersetzt. Nein, es ginge nicht um ein Pferdpferd, dem alle Pferde nacheifern, es jedoch nur zu pummeligen Ponys schafften und gegen das selbst der wildeste Araberhengst nicht anstinken könne. Doch Platon hin oder her, hier saß der Inbegriff schöner Menschen. Wenn ganze Generationen von Dichtern sich verbraucht und verschlissen haben, um auszudrücken, was Schönheit ist, so wird man kaum von mir erwarten dürfen, dass ich sie zu beschreiben vermöchte. Ich überlasse dies der Phantasie eines jeden. Nur nicht der meiner Schwester, denn die hat die beiden schließlich gesehen. Mir ist vollkommen gleich, ob sie schwarz, rosa oder grün waren, ob ihre Nasen, der eines Adlers oder der einer Mickeymaus glichen, sie strahlten von innen, sie strahlten vor Liebe. Und das Unglaubliche war, sie sahen dennoch intelligent aus. Böse bin ich Juli, weil sie später behauptete, die beiden hätten sich gestritten.
Ich stützte den Ellbogen auf den Tisch, bedeckte die Augen mit der Hand und starrte durch den Schlitz zwischen Zeige- und Mittelfinger. Meine Schwester war verstummt und kaute mit leerem Mund auf den Zähnen herum. Einer der Kellner kam an den Tisch und brachte Tiramisu. Juli, die sonst nicht viel trinkt, bestellte eine zweite Flasche Rotwein. Sie flüsterte mir zu, ich solle mit ihr reden, die beiden würden sonst bemerken, wie wir sie anglotzen. Ich nahm die Hand von den Augen, stützte mein Kinn darauf, sah Juli so interessiert an wie noch nie und bewegte murmelnd die Lippen. Ja, sagte sie übertrieben laut, New York ist wahrhaft fantastisch. Ich halte das nicht aus, brummte ich leise, ich muss die beiden einfach betrachten. Als der Kellner mit dem Wein kam, bat Juli ihn, das Licht der Lampe über uns zu dämpfen, sie habe mal wieder Migräne. Ist es denn grell, fragte der Blinde und bedauerte, es gebe keinen Dimmer. Als er gegangen war, drehte ich die Birne heraus, ging zum Nachbartisch, verbeugte mich leicht und sagte mit zielstrebigem Blick über die Köpfe der Schönen hinweg: „Meine Schwester hat einen lichtempfindlichen Kopfschmerz und ich bin blind, ich hoffe es stört Sie nicht, wenn wir dort drüben im Dunkeln sitzen.“ Sie verneinten höflich und wandten sich wieder einander zu. Ich drehte mich langsam um, tat so, als ob ich mich im Raum orientieren müsse, studierte aber, was von Juli zu erkennen sei. Sie war nichts als eine magere Silhouette mit dunkler Löwenmähne. Nun starrten wir ungeniert hinüber und wenn unsere Handtaschen ein Hörrohr enthalten hätten, so hätten wir es gewiss gezückt. Der Kellner brachte den Wein und wir tranken und stierten. Als Juli meinte, sie müsse dringend auf’s Klo, bemerkte auch ich einen schon schmerzhaften Druck. Wir gingen zu zweit, und meine Schwester tat, als ob sie mich führe. Als wir Hand in Hand zu unserem Platz zurückkehrten, war der Mann verschwunden. Die Frau saß an die Wand gelehnt mit seltsam nach hintem verbogenem Hals. Ein sauberer Schnitt hatte ihr die Kehle durchtrennt.
Für Juli stand gleich fest, dass er der Mörder war. Sie wollte nichts hören von meiner Theorie, man habe ihn entführt, niemals habe Er sie getötet, niemals, er hat sie doch geliebt. Was ist denn mit dir los, fragte sie, du glaubst doch sonst gern an das Schlechte im Menschen – und bei dem da, diesem fremden Prinz, machst du eine Ausnahme, du bist merkwürdig. Das alles hat dich ja ganz verdreht.
Ja, ich war verdreht. Der Kommissar erlaubte mir, auf dem Kopfsteinpflaster eine Zigarette zu rauchen, und da stand groß und gelb der Vollmond über der dunklen Gasse. Als Kind hatte ich immer den Mann im Mond gesucht. Ich hatte mir ihn vorgestellt wie ein Strichmännchen, mit einer Charlie-Chaplin-Melone auf dem Kopf, und wenn alle riefen, siehst du ihn, den Mann im Mond, antwortete ich kläglich, nein, ich sehe ihn nicht. Der Augenarzt, der in die Schule kam, war dennoch zufrieden mit mir. Und jetzt, da ich hier in dieser Gasse stand, sah ich ihn plötzlich, die Kulleraugen, den Mund. Nie war ich auf die Idee gekommen, dass alle nur ein Gesicht meinten, wenn sie vom Mann im Mond gesprochen hatten. Nun sah ich es zum ersten Mal, das Gesicht. Neben mir, vielleicht weil ich zitterte, stand plötzlich der Polizeipsychologe und ich fragte ihn: „Sehen Sie das? Monk im Mond.“ Über das obere Rund des Mondes schob sich ein schwarzes Wölkchen. „Ja“, rief der Psychologe begeistert, „er hat sogar seine kurzen Locken.“ Und dann bekannte er, die Fernsehserie über den autistisch-genialen Ermittler niemals verpasst zu haben, auch die Wiederholungen nicht.
Ich glaube nicht an Zeichen, sie sind ja nichts weiter als Verabredungen. Ein Volk wird eingeschworen, irgendeine Fahne als die ihre zu erkennen, und dann schwenkt man sie, mordet drauf los oder singt im Fussballstadion, zu tief oder zu hoch, die Hymne. Wenn Dichter meinen, der Mond sei eine brauchbare Metapher für den Schein, da er nicht aus eigener Kraft leuchtet, sondern das Licht nur spiegelt, so wissen sie, sie könnten dafür ebensogut ein Glühwürmchen benennen. Wenn aber Juli ihre Friseurbesuche nach dem Mond richtet und ihm für ihre Löwenmähne dankt, will sie sich dies partout nicht als Versuch, das Unerklärliche zu erklären, eingestehn. Ebensogut, wende ich stets ein, könntest du behaupten, du seist ein Kuckuckskind, da in unserer Verwandtschaft die Männer mit zwanzig nur noch einen Haarkranz besitzen und die Frauen einen guten Teil des Haushaltsgeldes in Haarteile und Perücken stecken. Bislang war meine Überzeugung, man kann alles mit jedem in Verbindung bringen, ich bin also durchaus kein Feind solcher Spielereien, der Ernst meiner Schwester aber ist mir unbegreiflich. Zu ihrer Rechthaberei gesellt sich ein Harmoniebedürfnis, welches sie zu Sätzen verleitet wie: ‚Selbst wenn ich ein Kuckuckskind wäre und mein blondes Pferdehaar Erbe des leiblichen Vaters, so wäre es mit der Zeit dünn geworden, hätte ich mich beim Schneiden nicht nach den Phasen des Mondes gerichtet.’ Doch diesmal verweigerte sie einen Kompromiss. Dass er sie erst ermordet hat und dann entführt wurde, – auf diese Theorie hätte freilich auch ich mich niemals eingelassen.
Bis zum Morgengrauen saßen Juli und ich in verschiedenen Zimmern der Wache und halfen am Computer ein Phantombild zu entwerfen. Juli nannte das von ihr dirigierte Portrait ‚Der Mörderprinz’. Als ich unter das meine den Titel ‚Der Urmann’ setzen wollte, wurde ich gefragt, ob ich denn die Uhr habe identifizieren können, weshalb ich es umtaufte in KNOM, was ich gleich buchstabierte, damit draus kein Gnom entstünde, denn das hätte nun beim besten Willen nicht gepasst. Was bedeutet denn das, fragte der Kommissar, der zwischen den Zimmern hin- und herspazierte, ist KNOM eine Abkürzung für Knochenmann? Nein, log ich unbeholfen, das heißt: Kein Name Objekt Mann. Erst jetzt bemerkte ich den Psychologen hinter mir. Er zwinkerte mir zu und flüsterte mir dann ins Ohr: „Oder Monk rückwärts.“ Sie sind ja ein Blitzmerker, sagte ich, und Sie, entgegnete er, haben zuviel Phantasie, das Bild, das Ihre Schwester entworfen hat, sieht vollkommen anders aus. Immerhin, antwortete ich wütend, haben Sie meinen Monk im Mond auch erkannt. Warum also sollte ich unseren Unbekannten nicht getroffen und Juli versagt haben? „Weil Sie ihn decken und gar nicht wollen, dass wir ihn finden. Sie glauben an seine Unschuld. Monk im Mond gibt Ihnen gleichsam den Auftrag, dies sogar zu beweisen.“ Vielleicht, erwiderte ich, kann mancher in punkto Macken mit Monk konkurrieren, aber nicht in Bezug auf sein Gespür für Tathergänge.
Die Tote hatte keinerlei Papiere bei sich getragen. Über Wochen waren die Zeitungen voll mit den Bildern der Leiche. Selbst tot war sie umwerfend schön, ja vielleicht noch schöner. Wie konnte es sein, dass niemand sie gekannt hatte, obzwar sich Hunderte meldeten, die sie einmal auf der Straße, in einem Geschäft ihrer Heimat oder auch an einem Urlaubsort gesehen haben wollten. Überall steckte man die Köpfe zusammen: „Mit einer solchen Hülle geht man doch zum Film oder Fernsehen oder heiratet einen stinkreichen Mann, womit man ja auch in die Presse kommt.“ Was allen erstrebenswert erscheint, stelle ich mir als Fluch vor, durch den Mario und Dario ihr Geld verdienten und ich schämte mich, die Schönen in ihrem Versteck so unverfroren angegafft zu haben. Ja, ich steigerte mich in die Vorstellung hinein, ihnen etwas zu schulden. Ich rief den Psychologen an und bat um ein Treffen.
Der Psychologe entstammt noch einer Generation, in der Kinder nicht um Zahnspangen betteln und sich zu Weihnachten wünschen, ein Arzt möge ihnen die abstehenden Ohren anlegen. Aber er riecht gut und hat sympathische Hände. Erstmals müsse er ein Opfer- und ein Täterprofil entwerfen, sagte er wie zu sich selbst in sein Bier hinein, und sah mich dann unvermittelt scharf an: ‚Also gut, spinnen wir rum, fangen Sie an!’
‚Sie schützten sich, haben den Umgang mit anderen vermieden. Wenn sie einkauften, setzten sie sich, wie bei Geronimo, Sonnenbrillen und Kappen auf. Nehmen wir an, sie hatten keine Freunde, dann müssen sie doch Eltern gehabt haben, Verwandte, irgendwo sind sie zur Schule gegangen, vielleicht im australischen Busch oder in einer floridanischen Sekte oder im hinterletzten Tal des Schwabenlandes. Das könnte erklären, warum sich bisher niemand gemeldet hat, der ernst zu nehmen wäre. Oder sie lebten als Diplomatenkinder in einem streng islamischen Land, sie verhüllte sich gemäß der Landessitte bis auf die Augen, und er ließ sich einen Bart wachsen und verbarg das Haar unter einem Turban. Vielleicht verabschiedeten sie sich von ihren Eltern mit Pubertätspickeln und Zahnraffel in ein griechisches Kloster auf so einen Meteora- Riesenhinkelstein und entfalteten erst als Mönch und Nonne ihre Schönheit unter Kutte und Tracht. Vielleicht durchwanderten sie als Nomaden die somalische Wüste, waren die einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes im Amazonasdschungel, Kinder von Hippieeltern, die sich in Tibet oder Burma zu Tode rauchten und koksten. Vielleicht sind sie in einem Zeugenschutzprogramm und man hat ihre alte Identität vernichtet, will nicht daran rühren, denn man hat selbst die schmutzigen Finger im Spiel. Vielleicht verfolgt das amerikanische Militär ihn, weil er sich als Elitesoldat verweigert, und sie wurde als Haussklavin gehalten. Oder er ist ein digitaler Supermann, der es auf der Leinwand nicht mehr aushielt, ins Leben hinab sprang und sich alsbald versteckte, weil er allen so bekannt vorkam, dass man instinktiv verlangte, er müsse den Lustgreis vom Spielplatz vertreiben und den Dieb im Supermarkt eins über den Schädel ziehn, wozu er begreiflicherweise wenig Lust verspürte. Dann wäre sie nichts weiter als die Manifestation einer kollektiven Sehnsucht nach Schönheit, die morbide ist und es vorzieht, den Herzschmerzkitsch am Zeitungsbild einer Leiche auszutoben.’
‚Bis auf die letzten sind ganz brauchbare Einfälle dabei’, sagte der Psychologe und bemalte einen dritten Bierdeckel.
‚Vielleicht reicht das Internet ja doch nicht in jeden Winkel der Welt. Aber wollte man dem persönlich nachgehen, müsste man Methusalem ums Hundertfache übertreffen, falls einem nicht Kommissar Zufall hilft.’
‚Jetzt sind Sie dran’, forderte ich.
Er zeigte die schiefen Zähne und zupfte an seinem Genscherohr herum.
‚Meine Theorie ist schon widerlegt. Er hat keinen Luftröhrenschnitt versucht. Es fand sich weder ein Hühnerknochen noch eine Fischgräte in ihrem Schlund.’ Dann schwieg er und nahm den vierten Bierdeckel in Angriff.
Am nächsten Morgen klingelte Juli mit frischen Brötchen und Zeitung. Unter dem Aufmacher ‚Die schöne Unbekannte – Spekulationen’ las ich meine Gedanken. Was für ein Blödsinn diese Journalisten heutzutage verzapfen, sagte Juli, sie sollten besser nach der Leiche des Gatten suchen. - Welches Gatten? - Na den, den der Mörderprinz umgebracht hat, triumphierte sie, er hat ihn gekillt und verschwinden lassen, in einem Fluss versenkt oder im Wald verscharrt, aus Eifersucht und Habgier. Gewiss, fuhr Juli fort, hat Fräulein Schönheit ihren Wohlstand nicht aufgeben wollen für den armen Mörderprinz und sogar gemeinsam mit ihm phantasiert, wie es wäre, den reichen Ehemann zu beseitigen, als er es dann aber in die Tat umsetzte und es ihr bei Geronimo beichtete, war sie entsetzt und schwor ihn anzuzeigen, da blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr in den zarten Hals zu schnitzen. Juli gab mir einen Kuss und eilte zur Tür. Auf der Straße drehte sie sich um und rief winkend, sie müsse schnell zum Flughafen, sie fliege gleich nach New York: ‚Ist das nicht saaaagenhaft?’
Am Abend klingelte der Psychologe, drängte in meine Stube und hielt mir ein Foto unter die Nase:
„Da haben Sie ihren KNOM. Leugnen Sie es nicht! Sie erkennen ihn wieder. Heute Nachmittag hat ein Foxterrier im Stadtwald die Leiche des ehemaligen Großindustriellen Hans Brocken ausgebuddelt, der seit einigen Jahren mit seiner Frau und einem Bediensteten zurückgezogen in einer Villa am Stadtrand lebte. Als die Polizei die Gattin vom Tod ihres Mannes in Kenntnis setzen wollte, traf sie auf den Hausbutler, der meinte, die Herrschaft sei auf Kreuzfahrt. Man verfrachtete ihn aufs Präsidium, um ihn zu verhören, und bat mich hinzu. Er trug eine häßliche Hornbrille und hatte fünf Warzen im Gesicht. Die waren nur angeklebt und ich habe sie ihm gleich mal abgezupft. Er ist in der Tat ein hübsches Bürschlein, sieht man mal ab von den roten Flecken, die der Klebstoff hinterließ.“

Monk im Mond habe ich seither nicht wieder gesehen und Juli ist jetzt New Yorkerin. Übrigens sage ich nun auch öfter mal ‚sagenhaft’, da es dem Realitätssinn nicht schadet. Gestern lief mir Mario über den Weg. Er meinte, das Geronimo sei als Kulisse eigentlich zu schade für einen derart trivialen Mord.

 

Die Namen wie vor allem der Satz

>Wer ist denn Geronimo, fragte Dario, und als er keine Antwort erhielt, sagte er, warum nicht, der Name hat Melodie<,

verführte mich, Deinen Erstling zu lesen. -
Geronimo, Name und Held meiner Jugend

(neben Tatanka Yo Tanka, Ta-Sunko-Witko u. a., nachdem Winnetou abgeschrieben war),

wie die Weißen Goyathlay (Goyakla) den Chef der Chiricahua nannten, der als letzter mit nur 70 Kriegern eine Guerilla gegen die USA führte und 1909 mit 80 (!) Jahren starb, obwohl er schon 1890 resigniert und eigentlich mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Und damit herzlich willkommen hierorts,
liebe hula hoop!

Es ist eine durchaus witzige Erzählung, die nicht umsonst im Titel an eine Fernsehserie erinnert, was sag ich eine, es sind Geschichten aus dem Milieu der Schönen und Reichen mit eingeschobenen, durchaus gewitzten Abschweifungen und Anekdoten, die freilich unter manchem Mangel leiden und darum im Grunde anstrengender ist, als wenn sie nicht im Plauderton daherkäme, vor allem aber nicht ausuferte (was wahrscheinlich Folge des Plauderns ist). Da setzt sich dann auch gelegentliche Flüchtigkeit – wie beim gesprochenen Wort eben – durch.

Ich geb im Folgenden jeweils Beispiele, denn ich bin überzeugt davon, dass Du die Schnitzer beim Durchsehen selbst findest.

Was anfangs direkt auffällt, ist Gebrauch und Unterschlagung des Konjunktivs.
Erscheint der erste Satz mit dem Konj. I für die indirekte Rede durchaus richtig:

>Um die Behauptung zu bestätigen, es gebe mehr als nur eine Welt, muss man weder Philosoph noch Physiker sein<,

so widerlegt der dritte Satz bereits diese Vermutung, indem er den notwenigen Konjunktiv gänzlich unterschlägt:

>Jedes Gespräch mündet in die Erkenntnis, wir leben auf verschiedenen Planeten.<

Zunächst meine ich, dass es in „der“ Erkenntnis münde, zum andern aber, dass der Indikativ hier am falschen Platze steht, und nicht mehr der Konj. I hier angebracht wäre, denn Icherzählerin und Schwester Juli leben vielleicht in einer je eigenen Welt, aber immer nur auf der einen Erde, also: „ …, wir lebten auf verschiedenen Planeten.“

> … , dass man meinte, er müsse sich gleich öffnen und Sterntaler regnen, …< Konjunkt. II: „er müsste sich …“, oder, um dem Scheinargument, dass Präteritum und Konjunktiv verwechselt werden könnten, „ … er würde sich gleich öffnen müssen und …“. Üblicherweise verabscheue ich würde-Konstruktionen (die meisten folgen da einer gewissen Denglisierung im Umgangstone), aber Du zeigst stellenweise, dass Du die Varianten übern Konjunktiv durchaus beherrscht. Also auch hier: Flüchtigkeit!

Auf Zeichensetzung wäre auch zu achten, evtl. wären einige Sätze in zwo oder mehr zu zerlegen.

> … kommt man zu Da Geronimo nichtKOMMA um gesehen zu werden, sondern um sich zu verstecken<, zwar soll man nach neuem Regelwerk beim Infinitiv auf Komma verzichten oder kann, um seinen Inhalt hervorzuheben eines setzen, aber beim „um“ wird weiterhin das Komma verlangt.

Nun Auszug in die Flüchtigkeit (in der Reihenfolge ihres Erscheinens):

>insbrünstig< inbrünstig

> … der uns zuweil nach Mottenpulver schmeckende Obladen …< zuweilen / Oblaten

>Atheisten-Vater< Obwohl klar ist, was gemeint sei, und um Missverständnissen vorzubeugen: es ist nicht der Vater aller Atheisten, sondern der „atheistische“ Vater der Schwestern.

> … zwei saaagenhaften Männer …< „zwei sagenhaften Männern“ genügt doch.

>Nachher gegen wir noch …< gehen

>leichtfüssig< leichtfüßig >bloss< bloß

Usw. usf.

Kurz und gut: erzählen kannstu, was z. B. nicht nur in einem Satz wie
>Sie [Juli] hatte Mario bei einer Lesung zum Tischnachbarn und wenig später ihn<
aufleuchtet – aber muss es so ausufern? Mario >meinte, das Geronimo sei als Kulisse eigentlich zu schade für einen derart trivialen Mord< und uneigentlich?

Gruß

Friedel

 
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Hallo hula hoop!


Eine Geschichte voller interessanter Details.
Eine Oma, die ihre Enkeltöchter zur Kirche schleift, auf das ihre Herzen sich erheben. Die Tragödie zweier Brüder, wo der eine die Blindheit des anderen verschuldet und ihm, derweil seine eigenen Träume verdrängend, durchs Leben hilft und ein Restaurant eröffnet. Hübsch erzählt, wie der Blinde Junge sich allmählich zum perfekten Kellner entwickelt. Sehr einfallsreich auch die Methode, mit der sie sich die Presse vom Leib halten. Selbst Platon nebst Urpferd (welches übrigens die Größe eines Fuchses nur wenig übertraf und somit als Vorbild für „moderne“ Pferde kaum taugt) fehlen hier nicht.

Was fehlt ist Spannung. Was zu kurz kommt ist, weil unter abschweifenden Details vergraben, die Krimi-Geschichte.
Im Grunde geht es hier, ganz im Gegensatz zur Behauptung der Erzählerin: „Doch um uns geht es nicht“, eben doch um die beiden Schwestern, und nur um diese.

Die unterschiedlichen Eigenschaften der Schwestern werden anfangs gut herausgestellt und im letzten Viertel vertauscht. Der Erzählerin, einst langweiliger Froschtümpel, sprudeln die Einfälle nur so aus dem Hirn. Wahrscheinlich Folge ihrer spontanen Verliebtheit. Juli hingegen bleibt sonderbar störrisch bei ihrer ersten Tatvariante.
Das Juli Recht behält, lässt am Ende die Erzählerin wieder in ihren alten Charakter zurück fallen.

An dieser Stelle soll anscheinend dein Spannungsbogen beginnen (netter Versuch):

Doch um uns geht es nicht. Oder doch nur insofern wir Zeugen eines Mordes waren, zumindest indirekt. Das kam so.
Nur wird der hier wahrlich lahm aufgezogen. Und viel (wirklich viel … sehr viel!) zu spät.
Eine Alternative:
Wir hatten nicht vor, an unserem Nachbartisch auf eine Leiche zu stoßen. Wir wollten in unserem Stammlokal nur gemütlich essen und eine Flasche Wein trinken.
Doch der Reihe nach.
Um die Behauptung zu bestätigen, es gebe mehr als nur eine Welt, muss man weder Philosoph noch Physiker sein. Mir reicht eine Unterhaltung mit meiner Schwester.
usw.

So könnte Spannung bereits mit dem ersten Satz entstehen. Bestimmt fällt dir noch ein kräftigerer Einstieg ein.

Um die Geschichte näher ans Genre „Krimi“ zu rücken, müsste jede Menge gekürzt werden. Meiner Meinung nach kann folgendes (fett markierte) raus:

Der schwesterliche Begeisterungsfanatismus entbehrt jeglichen Humors, was ich schon als Kind bemerkte, wenn Oma uns am Rockzipfel heimlich in die Kirche schleifte, um uns Heidenkinder zu bekehren. Während Juli mit scheu gesengtem Blick insbrünstig alles mitsang, stimmte ich nur an einer Stelle in den Chor der Gläubigen ein, dann nämlich, wenn der glatzköpfige Pfarrer uns aufforderte: „Erhebet Eure Herzen“ und wir antworten sollten: „Wir haben sie beim Herrn.“ Ich war überzeugt, den feisten Kerl, der uns zuweil nach Mottenpulver schmeckende Obladen verpasste, obgleich er genau wusste, dass wir damit Prügel von unserem Atheisten-Vater riskierten, müsse unsere Antwort beschämen, forderte er doch zu etwas auf, das wir schon hinter uns hatten. Nur meine Schwester nicht. Denn sie war immer noch und immer wieder dabei, ihr Herz zu erheben, während die unsrigen längst geborgen waren. Wenn Juli wieder mal einen Sonnenuntergang beklatscht hatte, als wäre sie im Theater, und …


Marios Schicksal hat nichts mit dem Verbrechen zu tun. Es erklärt nur (unnötig) den ausgefallenen Tatort.
Die Reporter-Abwehr-Methode ist originell, bringt aber die Geschichte nicht voran.
Es kann also ebenfalls raus:

Juli reagierte nicht und fing stattdessen an, New York zu verklären . „Ach“, sagte ich, „dann erzähl mir lieber nochmal, wie du Geronimo kennengelernt hast.“
Du weißt genau, dass er nicht Geronimo, sondern Mario heißt, maßregelte sie mich. Und dann tat sie, was sie schon an die zwanzig Mal getan hatte: Sie erzählte die Geschichte getreu einem einmal gefassten Wortlaut und mit ungeschmälerter – mit was sonst? – Begeisterung.
Sie hatte Mario bei einer Lesung zum Tischnachbarn und wenig später ihn. Weil er sie so gerührt durch seine Tränen, die er zu der leise vorgetragenen Erzählung eines jungen Mannes vergoss. War das nicht ergreifend, hatte Juli Mario zugeflüstert, nachdem der Möchtegernpoet sein Manuskript aus den beringten Händen gelegt und sich im Beifall sonnte. „Eigentlich nicht“, sagte Mario und putzte sich die Nase, „er hat fast jedes Wort bei Schnitzler abgeschrieben.“ Und warum weinen Sie dann, habe sie gefragt. „Weil Schnitzlers Der blinde Geronimo und sein Bruder mein Schicksal erzählt.“ Wie in jener Geschichte Carlo an der Erblindung des Bruders Schuld habe, so er, Mario, an der seines Bruders Dario. Niemand könne sich vorstellen, wie entsetzlich das sei. Er habe seinen Bruder, als der noch ein Baby war, durch ein Stoppelfeld getragen und plötzlich sei er ihm aus den Armen gerutscht. Statt der Augen waren nunmehr zwei Löcher. Der alte Vater habe ihn halb tot geprügelt und sich dabei so erregt, dass er den Geist aufgab. Von seinem ersten Lohn als Landarbeiter bezahlte Mario zwei Glasaugen. Doch verdiente er zu wenig, um Mutter und Bruder zu versorgen, er musste dem Kleinen eine Beschäftigung finden. Und nichts konnte Dario so gut, wie zu Hause den Tisch decken. Mit zehn jonglierte er mit Tellern, Eiern und Äpfeln. Die Mutter eröffnet ihm die Welt der Gerüche und träumte sich Dario als berühmten Parfumeur. Doch Dario liebte gewürzte Speisen mehr als Duftwässerchen und streute die von Mama gesammelten Kräuter und Blumen in Suppen und Soßen. Also verabschiedete sich Mario von seinem Kindheitsplan, Matrose zu werden, und mietete auf Kredit ein winziges Restaurant. Die Leute kamen weniger wegen des feinen Geschmacks der Speisen – auf dem Land liebt man es deftig. Man kam, um den geschickten Blinden zu bestaunen, wie er am Tisch das Fleisch flambierte und das Weinglas randvoll füllte, ohne jemals einen Tropfen davon zu verschütten. Bald hatten die Brüder genug Geld für ein Lokal in der Kreisstadt beisammen, in dem Dario nach Feierabend eine Handvoll Schicksalsgenossen ausbildete. Eines Tages dinierte der Besitzer einer deutschen Werbeagentur bei ihnen und quatschte von Erlebniskultur. Mario fand die Idee, die Gäste sollten im Dunkeln speisen, idiotisch. Und Dario fragte, ob sich denn die Menschen manchmal wünschten, blind zu sein. Das vielleicht nicht, meinte der Werbemann nachdenklich, aber manche wollten nicht gesehen werden. Ein Restaurant für Hässliche, brummte Dario schlechtgelaunt und setzte hinzu, er habe zwar Mitleid mit den Glöcknern dieser Welt, man solle aber nicht glauben, nur weil er blind sei, empfinde er kein Bedürfnis nach Schönheit. Auch er erkenne, mit Verlaub, ob einer schwergewichtig hereintrampele oder leichtfüssig auf eleganten Beinen daherkomme, und wenn die Leute sich durch das Haar führen und es nicht raschle, sei es fettig. Man müsse niemandem im Gesicht herumfingern, um sein Aussehen zu erspüren. Sie zum Beispiel, sagte Dario, obwohl Mario Dario am linken Ellbogen berührte – ein von beiden vereinbartes Zeichen ihr italienisches Temperament zu zügeln - Sie zum Beispiel, wiederholte Dario ungerührt, sind klein, stämmig und haben eine Glatze, um vom Mundgeruch mal zu schweigen. Den Gast war man los. Aber am selben Abend ward noch die Idee geboren, in einer reichen deutschen Großstadt ein Restaurant für Prominente zu eröffnen. Nein, entschied Mario, wir nennen es nicht ‚Unsicht-Bar’ oder ‚Incognito’, es muss neutral klingen. Wir nennen es Da Geronimo. Wer ist denn Geronimo, fragte Dario, und als er keine Antwort erhielt, sagte er, warum nicht, der Name hat Melodie. Du wirst es führen, sagte Mario, ich komme nur nach Feierabend vorbei, wenn die Gäste weg sind, um zu sehen, wie es dir geht. - Ist das nicht rührend, fragte Juli und sah gedankenverloren durch mich hindurch.
Natürlich blieb ‚Da Geronimo’ kein Geheimtipp. Doch schreckten die Preise bald die Schaulustigen ab, die die Reportage über die blinden Kellner und Köche im Fernsehen gesehen hatten und die Paparazzi waren es leid, Männer und Frauen in Kapuzenmänteln und Sonnenbrillen abzulichten, wie sie im dunklen Eingang einer Seitenstraße mit holprigem Kopfsteinpflaster verschwanden. Vor einem Vorhang aus schwarzem, schwerem Samt saß Stefano und ließ sich eine Zahl nennen, die zuvor am Telefon vereinbart worden war. Man hatte einen Detektiv beauftragt, heimlich Stimmproben von Journalisten zu sammeln und Stefano hatte sie wochenlang studiert. Wenn einer von ihnen dennoch bis zum Vorhang vorgedrungen war, hier wurde er enttarnt und an einen Tisch geleitet, von dem aus er ein riesiges Bild, auf dem ein buckliger Mann durch ein Schlüsselloch eine delikate Szene beobachtet, studieren konnte. Der unwillkommene Gast verbrachte vermutlich den ganzen Abend damit, zu rätseln, wo sich die anderen Gäste befinden. Die Tapetentür, durch die ihn Stefano geleitet hatte, schien verschwunden. Bei seinen Erkundigungen landete Herr Neugier entweder in der Küche, auf einer Toilette, die ganz offensichtlich nur er benutzte, oder auf der Straße.
Da saßen wir nun also bei ‚Geronimo’ am Katzentisch, Juli und ich.
Ihre Bronzehaut wurde von Goldhaar umspielt und plötzlich bekam sie obendrein einen verzückten Silberblick, dem ich unwillkürlich folgte …

Das ist wahrlich viel Text, der da rausfliegen könnte. Gut, das die Entscheidung nicht bei mir liegt.


Liebe Grüße

Asterix

 

Geschichten in der Geschichte - das ist eine meiner Marotten. Ich sehe ein, Monk ist ausgeufert oder im falschen Medium. Danke fuer den Kommentar, lieber Asterix! hula hoop

 

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