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Monsterball
Halunkengasse 12. Meinrad Monstrano, der untersetzte Inhaber von Monstranos Second Hand Shop in dritter Vampirgeneration, staunte nicht schlecht über seinen neuen Kunden. Vor ihm stand ein Zyklop in braunen Schlabberhosen, Holzzoggeli und freiem Oberkörper. Aber nicht das einzelne Auge über der Nase oder das Pink gefärbte Horn auf der Stirn irritierten Meinrad, sondern der Kleiderwunsch des Kolosses.
„Einen Anzug? Bei Ihrer Grösse?“
Rod Koukopulos blinzelte, ein sicheres Zeichen für Erregung. Denn, wenn Rod keinen Anzug auftreiben konnte, dann war es das mit dem Job. Die Stellenanzeige am weissen Brett der Monsterschenke war unmissverständlich:
'Für exklusiven Monsterball gesucht - Jazzpianist. Buttergasse 42, Köln. Honorar verhandelbar, erscheine er im schwarzen Anzug, oder gar nicht.'
Monstrano, für seine Gattung mit etwas zu kurz geratenen Eckzähnen gesegnet, dafür glänzend schwarze, nach hinten gegeelte Haare, kratzte sich nachdenklich an der spitzen Nase.
„Obwohl, gestern kam ein Smoking eines mittellosen Zwergriesen rein, der müsste einem Troll - ich meine, einem stattlichen Herrn wie Ihnen passen.“ Rod spannte seine Muskeln an, am liebsten hätte er dem Verkäufer für seine abschätzige Bemerkung eine gelangt. Aber er hatte ein Ziel vor Augen, brummte ein ‚geht doch‘ und folgte dem Vampir in den hinteren Teil des Ladens.
Nach einer viertel Stunde und um drei Beutel Frischblut leichter, trat Rod Koukopulos hinaus auf die Halunkengasse. Der Smoking war ihm eine Nummer zu gross, dafür sauber. Das weisse Hemd und die Lackschuhe bekam Rod nach einer kurzen, handfesten Verhandlung oben drauf. Der kleine Blutsauger wollte doch tatsächlich fünf Beutel A negativ dafür. Dachte wohl, ein Zyklop kennt sich mit Anzügen eh nicht aus. Jetzt baumelte Monstrano an einem Kleiderhaken. Sein Gejammer und Gezeter begleitete Rod bis nach draussen.
Kurz bevor die Ladentür ins Schloss fiel, hörte er noch das Reissen von Stoff, ein Poltern und lautes Fauchen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Rod verstaute die Alltagskleidung in einem ausrangierten LKW-Anhänger, der ihm als Bollerwagen diente. In mitten von zahlreichen Maurerutensilien, einem grossen Bett und zwei Holzfässern schottischem Whisky, stand Steinweg. Ein altes Klavier, leicht verstimmt und mit lädierter Holzfurnierung. Gezeichnet vom Leben auf der Strasse und Auftritten in den dunkelsten Winkeln dieses Landes. Rods treuster Begleiter, seit er aus seiner Heimat vor den Monsterjägern fliehen musste.
Den Bollerwagen hinter sich herziehend, nahm er mit der freien Hand die Stellenanzeige aus der Hosentasche und studierte die Adresse. Irgendwo in der Altstadt musste der Jazzclub zu finden sein, menschlichen Augen verborgen, in irgendeinem verlassenen Keller. Die neuen Lackschuhe drückten bei jedem Schritt, Rod bereute seine Entscheidung, die Dinger einlaufen zu wollen. Als er in die Buttergasse einbog, prallte er auf ein junges Menschen-Pärchen, beide leicht angeschickert.
Die junge Frau begann zu kreischen und der Kerl rannte davon, ohne sich weiter um seine Freundin zu kümmern. Rod zeigte beschwichtigend seine linke Handfläche. Eigentlich war es nicht ungewöhnlich, um diese Zeit auf allerlei ungewöhnliche Gestalten zu treffen. Und ein Zyklop im Anzug war doch nicht furchteinflössend.
„Toller Hecht, dein Freund“, brummte Rod und beugte sich langsam zu der kreischenden Frau hinunter. Diese griff in ihre Tasche, zog einen zylindrischen Gegenstand heraus und sprühte Rod eine Ladung Pfefferspray aufs Jackett.
„Ei, machen se mir mal keine Flecken ins Hemd.“ Er packte die Frau und hob sie hoch. Das Kreischen war in ein Wimmern übergegangen und unter Tränen schluchzte sie: „Bitte, ich habe Kinder und einen Hund.“ Das stand auf jedem Selbstverteidigungsfaltblatt der Stadt: ‚Monsterattacke - Wie verhalte ich mich richtig.‘
Seit der umstrittenen Lex-Deamon der Bundesregierung mussten die Menschen mit den behördlich legitimierten Monstern mehr oder weniger leben lernen. Leider häuften sich in letzter Zeit die Übergriffe auf beiden Seiten, was die monsterkritische Landes-Partei ‚Deutschland ohne Monster‘ für ihre Politik der Angst ausnützte. Und deshalb hatte Rods Smoking nun einen Fleck auf dem Jackett.
„Na, na“, sagte Rod mit warmem Bariton, „ich hab schon gegessen.“
Er stellte die Frau zurück auf die Gasse und tätschelte mit dem Zeigefinger auf ihre Hand, die immer noch das Pfefferspray umklammerte.
„Tun Sie das mal lieber weg, hätte auch ins Auge gehen können.“
Die Frau schaute verwirrt auf ihre Hand, verstaute die Sprühdose rasch in der Handtasche und zog ein Taschentuch hervor.
Rod hielt ihr derweil die Stellenanzeige vors Gesicht und deutete auf den stilisierten Kartenausschnitt der Altstadt.
„Liebe Frau, können Sie mir verraten, wo ich das hier finde?“
Die Frau schnäuzte sich die Nase und schaute sich die Zeichnung an, worauf ein kleiner Park mit einem Baum in der Mitte abgebildet war.
„Etwa dreihundert Meter die Gasse runter, auf der rechten Seite steht eine Linde. Gleich vor dem alten Brunnen. Ich muss dann mal weiter, tut mir leid wegen dem Fleck.“
Rod betrachtete die dunkle Verfärbung unterhalb der Einstecktasche, die bereits am Trocknen war. Er steckte die Stellenanzeige ein, nickte der Frau freundlich zu und machte sich mit seinem Bollerwagen auf den Weg.
Die Domuhr schlug gerade elf, als Rod den kleinen Park mit der grossen Linde erreichte. Er sicherte den Bollerwagen, tätschelte das Piano und inspizierte den Platz. Tatsächlich handelte es sich bei dem Brunnen um ein steinernes Trugbild, was dem menschlichen Auge den Eingang zum Monsterjazzclub verbarg. Ein stämmiger Troll stellte sich dem Zyklopen in den Weg.
„Club geschlossen, ne. Kommste nich rein.“
„Ich bin kein Gast, ich komme wegen der Anzeige.“ Rod hielt ihm das zerknitterte Papier aus der Monsterschenke vor die Knubbelnase.
Der Troll inspizierte die Anzeige, als könne er lesen.
„Und du kannst Klavier spielen, ne?“ Dabei deutete er auf Rods Pranke.
„Wieso nicht, du kannst ja auch Türstehen - ne?“
Der Troll runzelte verwirrt die Stirn.
„Was ganz anderes“, sagte Rod und deutete auf seinen Bollerwagen.
„Kannste mir auf den aufpassen?“
„Kostet extra, ne“, grinste der Troll.
„Tafel Schokolade? Echte Schweizer Ware, Direktimport.“
Die Miene des Trolls hellte sich auf. „Mach zwei draus, ne!“
„Gut. Eine gleich, die andere, wenn der Wagen bei meiner Rückkehr noch unversehrt da steht.“
„Gebongt!“
Sie gingen beide zurück zum Bollerwagen. Rod öffnete Steinwegs oberen Gehäusedeckel, zog eine Toblerone XXL heraus und gab sie dem geifernden Troll. Der setzte sich auf die Deichsel, riss die Verpackung auf und begann zu fressen.
„Wie heifft du eigentliff?“
„Rod, und du?“
„Thorften Grob. Laff dir ruhig Pfeit, ne, ich paff gut auf deinen Wagen auff.“
Rod schloss Steinwegs Deckel und schlurfte zum Clubeingang zurück.
Ein Waldschrat, gut versteckt im Geäst der Linde, hatte alles beobachtet. Was für Schätze der Riese im Smoking wohl sonst noch in seinem komischen Wagen gebunkert hatte? Schade, dass dieser Troll davor sitzt. Aber vielleicht, wenn er ihn ablenken könnte ...
Gebückt stieg Rod die steilen Stufen zum Club hinunter. Die Treppe endete in einem rechtwinkligen Knick nach links. Noch zwei Stufen bis zum Boden und Rod befand sich in einer grossen Halle. Meter dicke Pfeiler stützten ein Rundgewölbe aus roten Klinkersteinen. Alles war in warmes Licht getaucht. Auf der linken Seite erstreckte sich eine lange Theke bis zur Rückwand. Darauf befanden sich mehrere Fässer, Zapfhähne und diverse Trinkgefässe. Dahinter offene Kühlregale, zahlreiche Reagenz- und Einmachgläser, mehr oder weniger gefüllt mit rot schimmernden Flüssigkeiten. Die Wand auf der gegenüberliegenden Seite glich einer Wall of Fame. Verschiedene Gruppenlichtbilder mit Gästen und bekannten Musikern, zum Teil signiert, oder mit Blutspritzern verziert. Dazwischen gab es zahlreiche Gemälde mit Portraits wichtiger Personen der Vampir Oberschicht, die auf Lichtbildaufnahmen wohl eher schlecht erkennbar wären. Rod musste grinsen. Ein besonders grosses Gemälde zeigte den Grafen höchstpersönlich, vom Balkon des Transsilvanien Castles mit weltmännischer Miene herabschauend.
„Arrogante Blutsauger“, brummte Rod.
„Ah, ich sehe, er interessiert sich für unsere Ahnengallerie.“
Wie aus dem Nichts stand auf einmal ein Abbild des Gemäldes in Fleisch und Blut neben ihm. Also mehr Fleisch, als Blut.
„Gestatten, Baron Vansing, ich sehe er bewundert unsere Galerie der Ehemaligen.“
Rod wich zurück, stolperte über einen Bistrotisch und konnte sich gerade noch fangen. Falls der Baron seine unangebrachte Bemerkung mitbekommen hatte, liess er es sich nicht anmerken.
„Und was will er hier zu so früher Stund?“
Rod räusperte sich. „Ich habe Ihre Anzeige am weissen Brett in der Monsterschenke gesehen. Ah, und hier - „ Rod zog ein zusammengefaltetes Pergament aus der Tasche und reichte es dem Baron. „Ein Empfehlungsschreiben von Dr. Jazzkill, Professor für ...“
„Ich kenne Jazzkill. Professor für angehende Minibarpianisten in Bern. Mir persönlich eine Nummer zu klein.“
Obwohl der Baron ihm nur bis zum Bauchnabel reichte, sah dieser auf ihn herab. Jetzt nur nicht aufregen, ich brauche den Job, dachte Rod und - blinzelte.
„Ah, der Pianist ist aufgeregt.“ Der Baron warf Dr. Jazzkills Schreiben mit Schwung in den Mülleimer.
„Papier ist geduldig, spiele er mir lieber etwas vor.“
Der Baron machte eine einladende Geste zum Piano und setzte sich affektiert in einen der abgewetzten Clubsessel.
Rod betrat die Bühne, setzte sich vor das Piano, schloss sein Auge und erinnerte sich an die Abschiedsworte seines Berner Mentors. Der letzte Satz, der ihn sein ganzes Leben begleitet hat: „Hau sie um, Koukopulos!“
Die ersten Töne kamen zaghaft, wie Wasserglucksen eines jungen Bergbachs. Der Baron blieb reglos. Rod schwitzte und zog den Rhythmus etwas an. Ein klassisches Pottpouri des Vampianisten Theo Honk. Rod wollte Eindruck schinden. Aber war das der Geschmack des Barons? Wenn nicht, hiess das dann wieder Endstation Strasse, zurück in die dunklen Gassen mit Geistermusik ohne Verdienst? Egal, dachte Rod, und wenn es der letzte Auftritt hier sein sollte, er liess nun die Finger laufen, streute kleine Improvisationen ein, schielte kurz in Richtung des Barons. Der Smoking weichte langsam auf, doch Rod war in seinem Element, intonierte Caravan in einer Petrucciani-Version, die Hämmerchen hämmerten, die Saiten vibrierten, ...
„Halt - Stop - Aus!“, rief der Baron und sprang auf.
Rod hob die Hände, blinzelte zweimal, dreimal, wusste, er hatte es übertrieben. Hiermit war sein Gastspiel bereits zu Ende, bevor es begonnen hatte. 'Hau sie um, Koukopulos.' Ha, Professor, wenn sie wüssten ...
Der Baron sank zurück in den Ledersessel, mit weit geöffneten Augen sichtlich um Fassung ringend.
Mit spitzen Fingern schloss Rod den Klavierdeckel und blickte traurig mit seinem Auge auf die Portraits an der Wand. Ein Platz, der ihm wohl für immer verwehrt bleiben wird. Da hallte ein klatschender Laut von den Wänden. Dann noch einer und noch einer.
„Fantastisch, mein Lieber.“ Rod verstand nicht gleich, wollte der Baron sich über ihn lustig machen?
„Wie kann er mit solchen Pranken so monstermässig gut Klavier spielen?“
„Es hat Ihnen gefallen? Ich bin ... nicht gefeuert? Also, ich meine ...“ Rod blinzelte zweimal.
Der Baron sprang aus dem Sessel und rief: „Gefeuert? Im Gegenteil, ich will ihn haben, unser Ehrengast wird begeistert sein. Morgen Abend, eine Stunde vor zwölf soll er sich einfinden. Nur sein Horn, dieses grässliche Pink, also der Graf mag es etwas dezenter. Schwarz-Anthrazit, ja das wäre schön. Gestreift vielleicht?“
Rod griff sich an sein Horn. „Lässt sich einrichten.“
Schwungvoll hüllte sich Baron Vansing in seinen schwarzen Umhang und rauschte lautlos durch die Barverkleidung.
„Und sei er pünktlich“, ertönte es gedämpft durch die Wand.
Rod wurde kalt. Etwa der Graf? Unmöglich, Graf Dracula zeigte sich kaum in der Öffentlichkeit. Aber was soll‘s, dachte Rod. Ich habe einen Job und kann Kasulke die Miete zahlen. Wobei - wie war das noch? ‚Honorar ist verhandelbar.‘ Das musste dann wohl warten.
„Hab dich spielen gehört“, raunte Thorsten. „Nicht schlecht für einen wie dich.“
Der Troll hockte auf der Deichsel des Bollerwagens und rauchte. Rod hatte noch nie einen Troll rauchen gesehen, aber er war auf seiner Flucht auch noch keinem begegnet. Je weiter er nach Norden kam, desto seltsamer wurde die Welt.
„Dank dir fürs Aufpassen.“ Rod öffnete den Pianodeckel und kramte die zweite Toblerone hervor.
Die Augen des Trolls weiteten sich. „Oh, Schokolade, ich liebe Schokolade.“
Anscheinend hatte er die erste bereits vergessen.
Rod tauschte Smoking, Hemd und Lackschuhe gegen Schlabberhose und Zoggeli. Den Bollerwagen hinter sich herziehend machte er sich auf, Richtung Stadtrand. Es galt die Gründervilla des Herrn Kasulke zu finden, wo ein hoffentlich geräumiges Zimmer in einer Monster-WG auf ihn wartete. Der Waldschrat blieb enttäuscht zurück, dieser tumbe Troll hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt.
„Und, wie war's? Hast du den Job?“, raunte Steinweg, das verhexte Klavier auf Rods Bollerwagen.
„Ja, ich kann morgen Nacht irgend so einem Ehrengast aufspielen. Dem Grafen.“
„Dem Grafen? Also Graf Dracula?“
„Na ja, jedenfalls hat Baron Vansing ...“
Steinweg kicherte mit sirrenden Saiten.
„Was denn? Der heisst wirklich so. Na, jedenfalls hat er auf das Porträt an der Wand geschielt, als er vom Ehrengast redete.“
„Wahnsinn, kann ich dabei sein? Ich will endlich auch wieder einmal auf die Bühne.“
„Du weisst, was letztes Mal passiert ist und wir haben eine Abmachung, schon vergessen?“
„Ach, der kleine Ausrutscher, deine Pause dauerte viel zu lange, da hab ich halt ...“
Es rumpelte, als Rod den Bollerwagen energisch anzog.
„Du hast meine Impro ruiniert, die Zuschauer haben mich ausgebuht und daher bin ich aus dem Kongresszentrum geflogen. Mann, aus dem Kulturtempel Luzern, weisst du eigentlich, was du mir da angetan hast?“
Steinwegs Holz bekam einen leichten Rotstich.
„War doch keine Absicht“, klapperte es halblaut. „Und ja, ich habe das Leben auf der Strasse auch satt. Meine Saiten sind angerostet und die Hämmerchen klemmen, so verzogen ist das Holz bereits. Zum Glück habe ich ein stählernes Rückgrat. Apropos, hab ich dir schon erzählt, wie ich in Meiringen mal eine Treppe ...“
„Schon tausendmal. Jedenfalls möchte ich diesmal die Stelle behalten, nur so können wir uns die Wohnung bei Kasulke leisten.“
„Hoffentlich sind die anderen WG-Bewohner nicht aufdringlich, sonst muss ich die ganze Zeit meine Klappe halten.“
„Das wäre manchmal gar nicht so schlecht, ich sage nur KKL Luzern.“
Steinweg schwieg, anscheinend war das Piano nun doch verstimmt. Rod war das ganz recht, schliesslich musste er sich auf die Strasse konzentrieren. Wer weiss, ob hier Wegelagerer ihr Unwesen trieben, oder Waldschrate, die mit allen Mitteln ihre Flora verteidigten. Weit hinter ihm schlug die Dom-Glocke die vierte Stunde der Nacht, er musste sich beeilen, wollte er vor der Morgendämmerung in der Villa sein.
Die Räder des Bollerwagens knirschten im Kies, als Rod in die lange Auffahrt der Gründervilla einbog. Am Horizont begann der neue Tag rosa Wolkenschlieren an den Himmel zu zaubern. Im fahlen Licht der Dämmerung konnte man bereits den heruntergekommenen Zustand des alten Gebäudes erkennen.
„Nicht gerade einladend“, meldete sich Steinweg wieder. „Also wenn du mich fragst, dann ...“
„Ich liebe es, vor allem, es ist abgelegen. Genau richtig, um nicht dauernd Menschen über den Weg zu laufen. Oder Monsterjägern.“ Beim Gedanken an die brutalen Häscher, die seine Familie ausgelöscht hatten, schüttelte es Rod.
„Aber der Vermieter ist doch ein Mensch, oder?“
„Quatsch, welcher Mensch sucht sich denn Monster als Untermieter, was du immer für Ideen hast.“
„Na ja, wir werden es ja gleich seh...“ Steinweg klappte seinen Deckel zu und verstummte. Es musste jemand in der Nähe sein.
Rod hielt direkt vor der geschwungenen Treppe, die von zwei Seiten hoch zur kleinen Veranda vor dem Hauptportal führte und sah sich um. Ein wilder Garten erstreckte sich bis zu einer baufälligen Hütte, deren Kupferdach in der Morgendämmerung magisch glänzte. Daneben ein riesiger Nussbaum, mit dicken Ästen und einem dichten Blätterdach. Komisch, dachte Rod. Er hatte wieder das Gefühl, als würde er beobachtet werden. Sass da jemand im Baum? Ein Rascheln im hohen Gras liess ihn herumfahren. Ein Igel trippelte schnaubend in Richtung Hütte und verschwand hinter einer Regentonne.
Dann war da noch eine stumme Statue im hinteren Teil des Gartens. Mutter mit Kind, etwas klagend dargestellt. Eher was für einen Friedhof, dachte Rod. Dann betrachtete er sie näher von oben, schien relativ neu zu sein, strahlte so etwas - Lebendiges aus. Rod wollte eben mit der Hand das Material prüfen, da knallte es zweimal und ein knatterndes Höllengetier brauste fauchend aus der aufgesprungenen Doppeltür des Seitenflügels.
„Nicht. Im. Haus. Habe ich gesagt“, rief eine resolute Stimme. Der lärmige Drachen entpuppte sich als Zweitacktermoped. Darauf thronte ein Mädchen, das sein Gefährt gut im Griff zu haben schien. Gerade legte es sich in die Kurve und zog eine tiefe Furche in den weichen Boden.
Ein weiterer Bewohner, ein wuchtiger Kerl mit Schnurrbart sprang aufgeregt durch das Seitenportal und folgte dem rauchenden und stinkenden Moped.
„Ich han dir es jesaacht. Et wor de Verjaser.“
„Ferme la porte, mon Dieu!“, eine dritte Stimme aus dem Haus.
Verwundert folgte Rod dem Schauspiel, eben war es noch still wie auf einem Friedhof, jetzt hatte sich der Ort in ein Tollhaus verwandelt. Mit wehenden Zöpfen lenkte das Mädchen sein Gefährt um die Ecke der Villa. Ein Knall, ein lautes Scheppern und ein noch lauteres Fluchen.
„Eije, wat machste denn für Sache, Moepi“, rief der Bärtige und eilte hinterher. Auch Rod stapfte mit eiligen Schritten wieder zur Vorderseite. Da sass das Mädchen auf dem Boden, spuckte Rotz in den Kiess und fluchte in einem fort.
„Welcher Depp hat seinen Lastwagen mitten in der Einfahrt abgestellt?“ Das Mädchen rieb sich das Knie.
„Oh, das tut mir leid“, brummte Rod. „Ich bin eben erst angekommen und konnte ja nicht ahnen ...“
„Ach, nee, Einauge, das ist doch kein Parkplatz, das ist eine Vorfahrt. Vor-FAHRT. Hier wird durch-ge-fahren.“
„Herr Koukopulos, da sind sie ja.“ Auf der Veranda der Villa erschien ein älterer Herr im Morgenmantel.
Rod war froh, dem rothaarigen Rumpelstilzchen zu entkommen und erklomm die Stufen zur Veranda, beugte sich zu Herrn Kasulke hinunter und umschloss vorsichtig dessen ausgestreckte Hand.
„Ich habe mir Zyklopen immer etwas grösser vorgestellt.“
„Nun, ich wuchs in einer engen Schlucht auf, in einem engen Land, bei kleinen Leuten. Zwergen, um genau zu sein. Sie haben mir das Leben geret...“
„He, Kasulke“, rief es vom Hof. „Sagen sie dem Riesentroll, er soll seine Karre vom Vorplatz entfernen.“ Moepi stand breitbeinig auf dem Kiesplatz, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
„Wie ich sehe, haben sie den Herrn Steinmetz und das Fräulein Moepi bereits kennengelernt.“
„Scheisskarre, was bildet der sich ein?“
„Kriech dich wieder ein, Moepi , dat Moped ist ja heil jeblieve.“
„Zum Glück, denn sonst hätte ich ihm seinen Bollerwagen sowas von auseinandergenommen.“
Kasulke schüttelte den Kopf.
„Was müssen Sie auch immer so durch die Gegend rasen, Fräulein ...“
„Moepi reicht, und jetzt geh ich Frühstücken.“ Und damit war die Vorstellung zu Ende, Moepi schob ihr Moped zurück zum Seitenflügel, der Steinmetz trottet grinsend hinter ihr her.
Herr Kasulke zog ein Zigarettenpäckchen heraus und reckte es Rod in die Höhe.
„Nein, danke. Aber ich könnte ihnen im Gegenzug einen Whisky anbieten? Habe ein Fass auf meinem Bollerwagen.“
Kasulkes Augen begannen zu leuchten.
„Das hört sich gut an. Am besten ziehen Sie ihren Anhänger hinters Haus, dann können Sie ihre Sachen direkt über den Balkon einräumen. Ihr Zimmer ist im ersten Stock.“
Kasulke steckte sich eine Kippe an, nahm einen tiefen Zug und stiess den Rauch genüsslich gen Himmel.
„Endlich. Drinnen darf ich ja nicht mehr, seit Frau ...“
„Monsieur Kasulke!“
„Wie aufs Stichwort“, seufzte Kasulke und versteckte die Kippe in seiner hohlen Hand.
In der Tür erschien eine stattliche Frau mit strengem Blick, die Rod entfernt an Mima Hedwig, die Hausdame des Zwergs Grimmimutz in Meiringen erinnerte, einfach in XXL.
„Darf ich vorstellen, Frau Uexküll. Ehemalige Gouvernante am ...“
„Oh, wir haben Besuch.“ Frau Uexküll schob sich an Kasulke vorbei und musterte Rod von seinem pinkfarbenen Horn über die blosse, stämmige Brust, die Schlabberhose, bis hinunter zu seinen Holzzoggeli.
„Haben Sie gebucht? Comme une touriste sehen sie aber nicht gerade aus, non.“
„Ähm, Rod Koukopulos, freut mich. Ich hatte mich für die Monster-WG beworben.“
„Ah, der neue Mitbewohner. Monsieur Zyklop aus dem grossen, fernen Helas.“
„Nein, aus der kleinen, feinen Schweiz. Berner Oberland. Aber ich würde nun wirklich gerne ...“
„Aber sicher“, sagte Kasulke und zeigt mit seiner Zigarette in der hohlen Hand in Richtung Garten.
„Wenn ich bitten darf.“
Gemeinsam schritten Rod und Herr Kasulke die Stufen zum Kiesplatz hinunter. Rod bugsierte seinen Bollerwagen über die Furchen, die Moepi im hohen Gras hinterlassen hatte und schob ihn zu der Stelle, die ihm Kasulke zuwies.
„So, das da oben ist ihr Zimmer. Bei Ihrer Grösse können Sie Ihre Sachen bequem über den Balkon und von innen - aber was erzähle ich da, Sie sind ja Handwerker - im doppelten Sinne, ha, ha. Sonst noch was? Ach, hier.“
Herr Kasulke hielt ihm einen Bund mit zwei Schlüsseln entgegen.
„Einen für die Haustür, einen fürs Zimmer. Das weitere erkläre ich Ihnen dann im Salon, wenn Sie eingerichtet sind.“
„Danke, am liebsten würde ich mich nachher eine Runde aufs Ohr legen. War eine anstrengende Nacht und heute Abend habe ich einen Auftritt.“
„Prima, auch gut. Na dann, willkommen in der Monster-WG.“
„Geschlossene Gesellschaft.“
„Mensch, Thorsten, ich bin's, Rod.“
„Kann jeder sagen. Haste Einladung?“
„Ich bin der Pianist von gestern.“
„Also keine Einladung. Heute geschlossene Gesellschaft, komm nächste Woche wieder.“
„Thorsten, ich bin es. Schweizer Schokolade, schon vergessen?“
In Trolls Hirn begannen sich zwei Synapsen zu verbinden und ein Leuchten huschte über sein Gesicht.
„Ah, du bist es – klar, äh, wollte dich nur testen, willkommen im Club, Rolf, ne.“
„Egal, aber hier.“ Rod deutete auf seinen Bollerwagen, den er am Strassenrand geparkt hatte.
„Schön aufpassen – ne?“
Er klopfte Thorsten auf die Schulter, bückte sich und betrat die steile Treppe. Noch war kein Gast in der ehemaligen städtischen Zisterne anwesend, dafür befanden sich bereits drei weitere Musiker auf der Bühne. Das Klavier war zum linken Rand verschoben worden und hatte einem riesigen Schlagzeug Platz gemacht. Wird also kein Soloauftritt. Das war schlecht fürs Honorar.
'Ist verhandelbar', schon klar, aber wann? Mit schlackerndem Smoking, glänzenden Lackschuhen und anthrazit-gestreiftem Horn schlurfte Rod zur Bühne. „Hallo zusammen, ich bin Rod Koukopulos, der Pianist.“
Die alten Eichenplanken ächzten, als er die Bühne betrat.
„Bist spät dran“, lispelte das Riesenwiesel. Mit den spitzen Zähnchen, die Pfoten um sein Saxophon geschlungen und nervös zuckenden Schnauzhaaren erinnerte ihn Rod entfernt an Dr.Jazzkill.
'Behutsam, mein Guter. Sie müssen dem Klavier die Töne mit Gefühl entlocken. Wenn sie es zerlegen, ist ihr Studium zu Ende, bevor es begonnen hat.'
„Hei, Koukopulos. Alles okay?“ Wiesels schneidende Stimme riss Rod aus seinen Erinnerungen.
„Was? Ja klar, und du bist?“
„Slatko, Saxophonist und Chef unserer kleinen Monstercombo. Hier drüben, das ist Garfmolg, unser Bassist.“ Eine drahtige Gestalt mit langen Armen, langen Beinen, eigentlich war alles lang an dem Kerl. Die Hakennase, seine knochigen Finger. Die silbergrauen Haare hingen ihm vom Mittelscheitel wie ein Hochzeitsschleier bis zur Hüfte.
„Und hinter der Kücheneinrichtung hier sitzt unser Drummer Herbert.“ Rod sah nur ein weisses, regloses Fellknäul, das die Sticks in regloser Haltung über dem Snare schweben liess.
„Und hei Koukopulos. Ich habe hier das Sagen. Und nächstes Mal bitte pünktlich, klar soweit?“
Rod haute ihm eine rein, steckte seinen Kopf in den Trichter des Saxophons und schleuderte es quer durch die alte Zisterne. Statt alledem, schluckte er den aufkommenden Ärger runter, denn damit wäre er den Job los, bevor er einen Ton gespielt hätte, würde die Wohnung bei Kasulke verlieren und mit Steinweg wieder unter freiem Himmel leben.
„Klar soweit“, bestätigte Rod, setzte sich hinters Piano und öffnete behutsam den Tastaturdeckel.
„Vom Stadtrand bis in die Altstadt ist es halt ganz schön weit zu Fuss.“
„Wieso Stadtrand?“, fragte Garfmolg.
„Bin gestern in dieser alten Gründervilla untergekommen“, sagte Rod. „Die haben da eine Monster-WG, irgendwie schräg, aber ...“
„Bei diesem vertrockneten Alten?“, feixte Garfmolg, den schlacksigen Körper über seinen Kontrabass gebeugt, Rod aus tiefliegenden Knopfaugen fixierend. „Wie hiess der Mensch noch gleich? Kasilke, Pasulke, ...“
„Kasulke, ja, bin aber nicht sicher, ob das wirklich ein Mensch ist.“ Rod liess seine Finger knacken und legte sie behutsam auf die Tasten. Garfmolg schürzte die Unterlippe.
„Also wenn das kein Mensch ist, nur Menschen können so meschugge sein und sich allerlei Monster ins Haus holen.“
Ein Tusch vom Schlagzeug. Der haarige Herbert hob beide Sticks in die Höhe und machte zustimmende Grunzlaute. Wahrscheinlich das einzige, was der Yeti hervorbrachte.
„Na jedenfalls habe ich mich da beworben“, sagte Rod, „und letzte Woche kam die Zusage. Erstaunlich, wer da so alles wohnt ...“
„Ha, bei dem ganzen Monster-Multikulti wird's dem Alten sicher nicht langweilig“, griente Garfmolg, zupfte dabei die G-Seite und zog mit seinem dürren Finger den Ton in die Höhe. Herbert platzierte erneut einen Tusch.
„Haben die Herrschaften ein nettes Kaffeekränzchen?“
Wie aus dem Nichts hatte sich Baron Vansing vor der Bühne materialisiert.
„Take Five - und eins ...“ Der Yeti schlug den Takt, Garfmolg liess den Bass dazu laufen und Rod stimmte mit den Akkorden ein.
Slatko leckte seine Schnautzhaare und liess sein Saxophon die berühmte Fünf-Achtel-Takt - Melodie aushauchen.
„Na also, geht doch, spielen sie weiter, immer weiter.“ Der Baron drehte seinen Zeigfinger durch die Luft, setzte sich wie am Vorabend in den Ledersessel und wippte mit dem Knie.
Rod fand Gefallen an der Combo, die Kerle waren besser als ihr Aussehen und sie spielten gleich noch zwei Traditionals hintereinander.
„Stopp!“, rief der Baron, wie gestern bei Rod, nur war sein Gesichtsausdruck heute etwas angespannter.
„Sparen sie sich das für den Ehrengast. Und jetzt - Monsterblues, nichts anderes.“ Damit rauschte der Baron, begleitet vom Geräusch wackelnder Einmachgläser, durch die Barverkleidung.
„Monsterblues? Sein Ernst?“ Rod schaute zu Slatko.
„Sein voller Ernst. Was dachtest du denn, das wäre hier die Monstahogany Hall?“
Und dann spielten sie diesen einfältigen Zweivierteltackt, C-F-G-F-C. Was soll‘s, dachte Rod, wenn‘s am Ende Kohle gab.
‚Honorar ist verhandelbar‘, fiel ihm ein und blickte zur Wand, durch die Vansing verschwunden war.
Nach und nach trafen die Gäste ein. Männliche Vampire, flankiert von blasierten Gefolgsdamen, stolzierten die Stufen herab, blickten arrogant in den Saal und begaben sich direkt zur Bar, hinter der geschäftige Elfen in Wald- und Wiesentracht den Neuankömmlingen diverse Blutgruppen zapften.
Herbert hinkte etwas im Takt hinterher, worauf Slatko ihm einen Pfotentritt ans Knie verpasste.
„Letzte Woche ist der Herbert nach zwei Stunden Blutsaugerblues fast eingepennt“, gackerte Garfmolg in Richtung Rod, einen Tick zu nahe am Mikrofon.
„Garf!“, zischte Slatko, doch die Vampire hatten sich bereits provoziert gefühlt und fauchten Richtung Bühne.
„Nicht gut“, murmelte Garfmolg. „Gar nicht gut.“
Rod spürte einen kalten Luftzug.
„Slatko, mach was“, rief Garfmolg, ohne den Rhythmus zu verlassen. „Oder willst du, dass sie die Bühne stürmen?“
„Herbert. Solo. Sofort!“, rief Slatko und gab Rod und Garfmolg ein Zeichen, die Bühne zu verlassen.
Die Vampire wippten derweil angriffig mit dem Kopf, Arme zum Sprung angewinkelt. Rod war fasziniert, wie eine der schwarzhaarigen Gefolgsdamen in seine Richtung fauchte, er hatte noch nie aufgebrachte Vampire aus der Nähe gesehen. Ohne ihre Haltung zu ändern, näherten sie sich unaufhaltsam Richtung Bühne. Rod blieb sitzen. Was wollte Slatko nochmal? Tiefschwarze Augen, glänzend schön, direkt in seine Seele, ich will dich, komm zu mir. Dieses Ziehen im Unterleib, vergessen geglaubtes Verlangen. Das Blut rauschte in seinem Kopf, direkt in seinen Schoss, wärmte seine Lenden, so schöne Augen, jetzt ganz nah.
„Scheisse, Rod, komm endlich!“
Slatko kniff Rod mit seinen spitzen Krallen in die Seite.
„Autsch, spinnst du?“
„Wir brauchen dich noch, also runter von der Bühne. Jetzt!“
Rod erhob sich, ihm war schwindelig. Was ging hier ab? Wieso hatte er plötzlich Schmetterlinge im Bauch? Diese Augen, diese Anmut, dieses Verlangen.
„Verdammte Blutsauger, schau ihnen ja nicht in die Augen“, rief Garfmolg und Rod wachte auf. Die Gesellschaft war hungrig, gierte nach Blut. Die Elfen zapften frisches AB negativ, gefragt waren auch die trendigen Reagenzgläser mit 0 positiv. Der Monsterball war ein einziges Foodfestival für Vampire. Aber wieso kamen alle hierher, wo es Konservenblut inzwischen an jeder Tanke gab?
„Warte, bis die Ehrengäste da sind. Dann fliesst Frischblut“, schien Slatko seine Gedanken zu erraten.
Herbert wirbelte immer noch auf seinen Fellen herum, liess die Becken krachen. Die Vampire schienen die Lust auf die nun fast leere Bühne verloren zu haben, Yetis waren wohl nicht nach ihrem Geschmack. Jedenfalls drehte einer nach dem anderen um, rauschte zurück an die Bar und bestellte sich Lebenssaft-Nachschub.
Herbert grunzte und hob an zum Finale. Ein kräftiger Tusch zum Abschluss und die bereits angeschickerte Gesellschaft klatschte begeistert Beifall.
„Da hatten die Herren gerade noch einmal Glück“, sagte hinter ihnen Baron Vansing, der überraschende Auftritte zu lieben schien. Seine Augen im gepuderten Gesicht blitzten, die schwarzen Haare glänzten, er hatte sich herausgeputzt.
„Ich erwarte jeden Moment unseren Ehrengast und die Herren Musiker mischen meine geschätzten Gäste auf? Dass mir das ja nicht mehr vorkommt. Und nun, da capo, Monsterblues.“
Der Baron reckte den Kopf in die Höhe und betrat mit wallendem Mantel die Halle. Ein Raunen ging durch die Gesellschaft. Ein Hallo hier, ein Küsschen da, Lachen, Nettigkeiten, nichts war mehr von der Aufregung zu spüren, die um ein Haar drei Musikern das Leben gekostet hätte.
Diese hatten wieder hinter ihren Instrumenten Platz genommen, als etwas die Treppe herunterpolterte. In der Türöffnung erschien Thorsten, völlig aufgeregt und kurzatmig.
„Sie kommen!“
Der Baron klatschte zweimal in die Hände und sofort bildete die Menge freudig erregt einen Kreis. Etwa zwei Dutzend männliche und weibliche Vampire verharrten in wohliger Anspannung, ein leises Zischeln hier, ein heiseres Fauchen da, die Spannung war irgendwie fast körperlich.
Rod dachte derweil an seinen unbewachten Bollerwagen. Hoffentlich ging Thorsten wieder nach oben, doch der verdrückte sich erst mal an die Stirnseite der Bar und blickte ergriffen zum Treppenaufgang.
Kurz darauf betraten zwei Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln den Saal. Rod musste blinzeln, er hatte zwar von schrägen Monsterpartys gehört, aber diese hier schien alles andere in den Schatten zu stellen. Hinter den beiden Kapuzenmännern schwebte eine weibliche Gestalt, eingehüllt in weisses durchscheinendes Leinen, die langen Haare wie elektrisiert in alle Richtungen abstehend, ein elfenbeinfarbenes Gesicht, rosige Wangen, die Augen geschlossen, die roten Lippen halb geöffnet. Dahinter folgten zwei weitere Wächter. Das dunkle Quartett mit ihrer schwebenden Jungfrau schritt andächtig zur Mitte des Saals. Gierige Blicke schossen in Richtung des zarten Geschöpfs. Aus dem Boden wuchs in diesem Moment ein kubischer Stein langsam in die Höhe und bildete eine Art Altar, auf den die zerbrechliche Gestalt niedersank und nun wie Schneewittchen auf dem Präsentiertablett lag.
„Wer sind die?“, flüsterte Rod Garfmolg zu.
„Vielleicht der Catering Service?“
„Ich dachte, öffentliche Frischblutveranstaltungen sind illegal?“
„Ruhe, Leute“, flüsterte Slatko. „It's Showtime. Take five.“
Rod liess die Akkorde tanzen, Herbert wischte mit den Besen auf dem Snare herum und Garfmolg zupfte sanft den Bass dazu. Die Anweisung des Barons war eindeutig gewesen, sobald der Ehrengast aufkreuzt, Take Five. Doch der liess sich augenscheinlich Zeit.
Die Vampire hätten sich nur zu gerne auf die schlafende Jungfrau in der Mitte gestürzt, die Zähne in den rosigen Hals gerammt und das Blut in raschen Zügen ausgesaugt. Aber es galt die Etikette zu wahren. Dieser Akt stand des Barons Ehrengast zu, dem Grafen höchst persönlich.
Rod fragte sich, woher er das alles wusste. Während er stoisch mit den Fingern den Fünfviertelpart wiederholte, spürte er einen Blick aus der Menge. Die schwarze Schönheit von vorhin fixierte ihn erneut über den Altar hinweg. 'Lass dich gehen, lass es zu. Du musst dich nicht gegen deine Gefühle wehren, ich bin ganz nah bei dir ...'
„Rod!“, zischte Slatko. „Schau auf dein scheiss Piano!“ Rod blinzelte und riss sein Auge los. Er hörte noch ein leises Fauchen der Enttäuschung.
„Danke, Mann“, keuchte Rod und drückte weiterhin das Take Five-Thema in die Tasten.
Slatko begann mit seinem Solo und die Menge fing an hin und her zu wogen.
Der Graf schien sich Zeit zu lassen, Baron Vansing zupfte nervös an seiner Nase, flüsterte etwas zu Thorsten, der bedauernd die Schultern hob.
Die Menge wurde zunehmend unruhig. Rod hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl, was lief hier falsch? Er musste nicht lange auf die Antwort warten.
„Im Namen der Lex-Deamon, bitte alle mal ihre Registrierung vorweisen!“ Die weibliche Ansage kam aus der Mitte der Halle.
Gleichzeitig warfen die vier Wächter ihre Kapuzenmäntel ab, vier Monstrozisten der Deamonguard kamen zum Vorschein, in Kampfmontur mit Haschunikas im Anschlag hielten sie die Vampirmeute in Schach. Lautes Zischen und Fauchen erfüllte die Halle.
„Haschunikas?“, flüsterte Slatko, „das ist spannend.“
„Was sind Haschunikas?“
„Im Gegensatz zu den alten Silberkugelwerfern kannst du damit Vampire zu Staub pulverisieren. Sind aber eigentlich seit Einführung der Lex-Deamon illegal.“
Die offensichtlich falsche Jungfrau sprang katzenhaft vom Altar herunter und entledigte sich ihres weissen Gewands. Auch sie steckte in einem Vollschutzanzug und Kampfstiefeln. In der linken Hand hielt sie nun eine Schocker-Lanze.
„Was soll das, Caroline. Bist du jetzt komplett übergeschnappt?“ Baron Vansing kam mit erhobenen Händen in die Mitte gelaufen.
Rod war über des Barons neue Ausdrucksweise erstaunt, auch dass die beiden ungleichen Kontrahenten sich anscheinend kannten.
„Wir hatten leider die berechtigte Annahme, dass in deinem Club ein illegaler Vampire-Blood-Rave stattfinden sollte.“
„Also bitte“, entrüstete sich der Baron. „Ein harmloses Treffen der Familie, die Getränke, von AB negativ bis Null positiv, sind bis auf das letzte Fass bei der Colonia-Blutbank registriert. Ich sehe hier leider so gar nichts Illegales vorliegen, ausser dein ungesetzlicher Auftritt als schwebende Jungfrau in meinem pri-va-ten Lokal, Ca-ro-li-ne.“ Der Baron stach bei jeder Silbe mit dem Finger in Richtung der rot angelaufenen Polizistin.
Rod beugte sich zu Slatko. „Sag mal, woher kennen die sich?“
„Es gibt Gerüchte, einige Leute beim Landesamt für Leib und Leben stünden auf der Gehaltsliste des Grafen.“
Leiser Tusch vom Herbert, der Yeti hatte wirklich Sinn für Timing.
Caroline griff sich unter die Schutzweste, zog ein laminiertes A4-Blatt hervor und hielt es dem Baron unter die Nase.
„Hier ist die Abschrift eines Telefongesprächs zwischen dir und einem gewissen Graf Dracula.“
Ein Raunen und Zischeln erfüllte die Halle.
Rod kam es vor, als würde der Baron trotz Puder noch eine Spur blasser um die Nase.
„Darin wurde eine reine Jungfrau bestellt, für heute Abend, in deinen Club. Jetzt rate mal, wer ...“
„Genug!“ Die Augen des Barons verengten sich, sein Rücken knackte hörbar, als er sich zu voller Grösse aufrichtete.
„Der Graf verrät mich also? Pah – dass man wegen ein paar Beutel Blut so nachtragend sein kann.“
„Ein paar? Es waren hundert Beutel“, schnitt Caroline dem Baron das Wort ab. „Gestreckt mit Randensaft. Ich hatte Mühe, dem Grafen das zu erklären.“
„Und da ist die korrupte Staatshüterin mal eben einen Deal mit ihm eingegangen. Aber weisst du was? Ein Fingerschnippen von mir und hier drinnen gibt es ein blutiges Gemetzel.“
Zischen und Fauchen, der Baron erntete Beifall.
„Damit deine Haupteinnahmequelle endgültig geschlossen wird? Also bitte, das wäre mehr als dumm von dir.“
In der nun einsetzenden Stille war nur das Summen der Zapfanlagen zu hören. Der Baron rang sichtlich um eine Entscheidung. Würde er sich geschlagen geben? Rod hatte ein Déjà-vu. Die enge Aareschlucht in Meiringen, wütende Monsterjäger stürmten den Eingang. Seine Eltern stellten sich mutig dem Mob entgegen. Nur Rod entkam durch den hinteren Schluchtausgang. Seither war er auf der Flucht, alleine mit seinem Schmerz über den Verlust. Bisher konnte er den Jägern entkommen. Was wäre passiert, wenn er sich wie seine Eltern gegen sie gestellt hätte? Wären sie noch am Leben?
„Dachte ich mir“, sagte Caroline mit einem spöttischen Grinsen. „Ich hätte dann gerne von allen die Registrierbescheinigung ...“
Baron Vansing hatte sich entschieden. Mit weit aufgerissenem Mund warf er sich nach vorne. Rod sah glänzende Speichelfäden an spitzen Eckzähnen aufblitzen. Slatkos Fell bekam den Hauptanteil der roten Blutfontäne ab, als Carolines Lanze den Rachen des Barons durchbohrte. Rod sprang auf, Garfmolg klemmte sich den Bass unter die Arme und Herbert grunzte. Die Haschunikas brüllten, verdampften einen Vampir nach dem anderen. Einem unachtsamen Schützen wurde von hinten die Haschunika aus der Hand gerissen. Sogleich rammten andere Vampire ihre Zähne in dessen Weichteile, schlürften gierig den Lebenssaft aus seinem Körper.
Baron Vansing sank röchelnd zu Boden, sein prognostiziertes Gemetzel war in vollem Gange. In Rod stieg die Wut. Schon wieder dieses sinnlose Töten, Verlierer auf beiden Seiten, die Erinnerung an die Aareschlucht in Meiringen. Rod brüllte seine Wut in den Saal, übertönte den Kampflärm und sorgte augenblicklich für Ruhe. Summende Kühlaggregate, blutiges Geplätscher auf Stein, verhaltenes Keuchen.
Die übriggebliebenen Vampire drehten langsam ihre Köpfe zur Bühne.
„Oh, oh“, klagte Slatko und Rod ballte die Fäuste. Sie sassen in der Falle, der Weg nach draussen war durch ein halbes Dutzend blutrünstiger Vampire versperrt. Die schöne Caroline hatte sich mit den drei verbliebenen Schützen aus dem Staub gemacht.
Herbert schleuderte seine Schlagzeug Becken wie Freesbees in Richtung der ersten anstürmenden Vampire.
„Hier her“, rief es plötzlich aus dem hinteren Teil des Saals.
Thorsten. Er musste sich vorhin unbemerkt an dem Kampfpulk vorbeigeschlichen haben.
Rod, Slatko und Garfmolg stolperten über Fässer, Stühle und leere Getränkekisten.
„Sag, dass es einen Notausgang gibt“, rief Rod, in seinen glatten Lackschuhen über den Steinboden rutschend.
„Nein“, rief Thorsten über das Gebrüll der Meute hinweg, „aber die Kanalisation, ne. Rod - Kopf einziehen.“
Anscheinend mochten Vampire keine Abwasserrohre, denn niemand folgte ihnen. Rod hatte grosse Mühe in der engen, glitschigen Röhre vorwärts zu kommen, und Herbert, der nach dem letzten Wurf seiner Basstrommel zu ihnen aufgeschlossen war, trat Rod panisch in den Rücken.
„Jetzt hör schon auf zu stossen, ich kann nicht schneller.“
Herbert grunzte.
„Ist es noch weit? Mein Kontrabass verträgt keine Feuchtigkeit.“
„Wir sind auf der Flucht vor blutrünstigen Vampiren“, ächzte Slatko, „und du hast Angst um dein Instrument?“
„Hier vorne ist der Ausstieg zur Buttergasse“, rief Thorsten und drückte mühelos mit einer Hand den runden Schachtdeckel auf.
Slatko sprang geschmeidig als erster aus dem Schacht, Garfmolg reichte ihm den Bass und zog sich mit seinen langen Armen nach draussen. Für Rod war die Öffnung zu klein und er steckte fest. Dank Herbert und Thorsten, die kräftig von unten drückten, ploppte Rod dann doch noch aus dem engen Loch. Die Buttergasse war erstaunlich leer, als hätte die Stadt eine Ausgangssperre verhängt. Würde jedenfalls zur Razzia passen, die nun sichtlich schief gelaufen war. Doch wo keine Zeugen, da keine Berichterstattung. Die Menschen würden morgen nichts in der Zeitung lesen über einen vermissten Staatsbeamten.
„Lohn ist nicht verhandelbar“, brummte Rod verächtlich.
„Wie meinst du das?“ Garfmolg zog einen Lappen aus seiner Hose und polierte seinen Bass.
„Na, dass ich nun keine Gage bekomme, Kasulke keine Miete zahlen kann und somit wohl wieder rausfliege.“
„Hast du denn keinen Vorschuss verlangt?“, fragte Slatko und schaute treuherzig aus seinen Knopfaugen zu ihm hoch. Die Schnauzhaare zitterten.
„Vorschuss?“ Rod setzte sich auf einen Abfallcontainer, dessen Räder bedrohlich knirschten.
„Alter. Bei Vampiren immer Vorauskasse, man weiss ja nie, wann die die Flatter machen.“
„Wusste ich nicht, war das erste - und wohl auch das letzte Mal, dass ich für einen Blutsauger spielte.“
„Wir könnten ja zusammen ne Platte aufnehmen. Ich habe da einen Vetter bei Monster Universal, die suchen immer mal wieder frische Studiomusiker. Auch geniale Pianisten wie dich.“
„Ach du Scheisse, Steinweg.“
Vor lauter Aufregung, die knappe Flucht vor den Vampiren und den Ärger über die geprellte Gage hätte er beinahe seinen Freund vergessen.
Rod sprang auf und der Container knallte lautstark gegen die Hausmauer. Er musste unbedingt zurück zum Platz mit der Linde und dem Brunnen.
„Ei, du willst da jetzt nicht wirklich wieder hin? Geld gibt‘s eh keins mehr.“
„Scheiss auf das Geld, ich mach mir Sorgen um meinen Bollerwagen, auf den Thorsten eigentlich aufpassen sollte!“
„Stimmt“, rief Thorsten und seine Miene hellte sich auf. „Du schuldest mir ja noch Schokolade, ne.“
Ungerührt ob des blutigen Dramas, das sich im Untergrund hinter dem Steinbrunnen im kleinen Park abgespielt hatte, stand der Bollerwagen unversehrt im bleichen Mondlicht am Strassenrand. Rod war erleichtert.
„Und – wie war‘s?“, fragte Steinweg und klapperte vor Aufregung mit dem Deckel. „Hörte sich nach mächtig viel Stimmung an. Hast du sie weggehauen?“
„Das haben sie von ganz alleine hinbekommen. Und leider gab es dafür auch kein Geld.“
„Aber, warum ...“
„Lass es, Steinweg. Wir gehen zurück in die WG. Und morgen suche ich uns einen neuen Job.“
„Du hast uns gesagt. Ich darf also wieder mittun?“
„Wir werden sehen, Steinweg. Wir werden sehen.“