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Montag 9:00 Uhr: "Kündige job, wohnung, haftpflicht"
Jetzt muss ich aber los, sonst komm ich noch zu spät. Ist auch ein ganzes Stück bis zu diesem verdammten Bahnhof. Dem Bus gebe ich heute einen Laufpass, um ein wenig zu spazieren. Naja, spazieren ist wohl der falsche Ausdruck für meinen chronischen Stechschritt. Links, zwo, drei, vier geht es erstmal in den nächsten Spätkauf Wegzehrung aufnehmen. Ein Sterni und ne Packung Gitanes, aber zack-zack. Inständig hoffe ich, dass dieser Vorrat auf meinem Zug in den Feindeskiez nicht aufgebraucht wird. Besonders um den Kameraden Bier mache ich mir dabei Sorgen. Mit einem großem Schluck trösten wir uns beide und schlendern - beziehungsweise marschieren - Hand in Hand durch die Straßen. Noch haben wir die Demarkationslinie nicht erreicht und können uns in Sicherheit wiegen. Noch. Aber andererseits merkt man schon, dass wir der Grenze näher kommen, da die Menge der Beutekreuzberger merklich ansteigt.
Auf einmal ist der entscheidende Schritt getan. Nun gibt es kein zurück mehr. Mit dieser unwillkürlichen, halb stolpernden Bewegung bin ich in der Butterfront angekommen. Mit einem verschämtem Blick nach links und einem kritischem nach rechts tue ich meinen pochenden Unmut kund. Da bin ich also wieder in der alten Heimat. Friedrichshain. Gewitter von Erinnerungen prasseln durch meinen Kopf. Und mehr als gute Gründe hier wegzuziehen. Die Jahre hier kommen mir wie eine schlechte Entfettungskur vor. Bin ich jemand anders, wenn ich hier bin? Oder wenn ich wieder zurück bin? Höchstwahrscheinlich etwas von beidem. Gut, dass ich meinen treuen Gefolgsmann bei mir habe. Ich tanke mit zurückgeworfenem Kopf Kraft durch seine pure Gegenwart. Moment! Was ist das? Da nähert sich jemand schleichend hinter mir. Will er mich verführen? Vielleicht. Aber für meinen Kumpel aus der blauen Packung habe ich immer Zeit. Feuerpause für meine zwei haupstädtischen Ichs.
Am Bahnhof angekommen muss ich mit Entsetzen feststellen, dass ich viel zu früh dran bin. Und noch dazu hat mein händchenhaltender Kumpan schlapp gemacht. Enttäuscht tausche ich ihn gegen einen norddeutschen Ersatzmann aus. Ich hoffe wir bleiben zusammen standhaft - zumindest, bis der Zug ankommt. Diese verteufelten Nichtraucherbahnsteige! Stumm verfluche ich die Bahn AG, Friedrichshain und Kalifornien - was uns als erstes zu Menschen zweiter Klasse gemacht hat. Genau wie dieser schändlich rauchfreie Regionalexpress, der gerade ankommt. Geschafft! Schnell vorteilhaft positionieren um Timm in Empfang zu nehmen. Ein kurzes Zucken in den Beinen, als die Zugmaschine vorbeischreit. Nicht mehr, nicht weniger. Pendler entströmen dem doppelstöckigem Monstrum. Werden ausgespiehen wie schlechtes Essen. Da sehe ich ihn schon. Den alten Waldbeatle. Er hat sich nicht verändert. Nicht in all den Jahren. Damals schlugen wir die Zeit in der Provinz tot. Noch so ein Ich. Große Ideen und die letzten Träume schweißten uns zusammen. Wir wollten einmal nach Berlin gehen. Nun bin ich hier seit fünf Jahren und er in einer anderen Stadt in der Provinz. Zufrieden sind wir beide nicht, dafür aber gelähmt. Ein freundschaftlicher Händedruck katapultiert mich Jahre in die Vergangenheit, ohne meine gemachten Erfahrungen aufzugeben. Timm hat viel durchgemacht seitdem. Die Schule vergeblich nachholen. Geschlossene Abteilung. Antidepressiva. Geschlossene Abteilung. Alkohol. Gras. Hartz IV. Speed. Seit neuestem Koks. Zumindest mit dem Special K ging es mir ähnlich. Ansonsten eher das Gegenteil. Studium. Karriere. Ohne viel dafür zu tun. Reingeschlittert als Schläfer. Ich werde wohl weiter schlafen, wie an einem Sonntagmorgen, an dem man nicht aufstehen möchte. Dösen bis der Arzt kommt.
Freundschaftlicher Handschlag. Bier. Busfahrt. Mehr Bier. Anruf. Es ist Klara. Wir wollen uns später vor einem Club in Mitte treffen. Sie will ihre Mitbewohnerin und intime Drogenfreundin mitbringen. Es könnte schlimmer sein. Wir könnten uns zum Beispiel in Friedrichshain treffen. Derweil versuchen wir nicht einmal die alte Zeit wieder aufleben zu lassen, da sie vom Moment des Wiedersehens da war. Und viel Neues zu erzählen gibt es auch nicht. Wozu auch? Es ist noch genug Vertrautheit da, um sich guten Gewissens anzuschweigen oder über gemeinsame Bekannte zu lästern. Aber das können wir auch auf dem Weg nach Mitte. Amtlich angeheitert treffen wir die Beiden am verabredeten Ort zur verabredeten Zeit. Sie nehmen es einfach hin, wie die Butter auf dem Brot. Anstehen in der hippen Schlange. Hauptsache die Leute anpöbeln, die einen Stempel haben und uns hinter sich lassen. Und uns nicht verstehen wollen. Woher nehmen sie sich das Recht? Spießige Befindlichkeiten verblassen, als wir den überteuerten Eintritt passieren. Hereinmaschiert!
Wir straucheln durch die Party-People, wie durchs Drehkreuz in Fear and Loathing in Las Vegas. Schnell noch was den Angerempelten an den Kopp werfen, wie es sich gehört. Und dann den Barkeeper anlallen wegen ein paar Bier. Die Eisbärengeschichte lasse ich heute weg. Aufgetankt manövrieren wir uns zum nächsten Plateau. Nicht Grönland und nicht Mexiko. Sondern eine halbwegs gute Band, deren Lieder niemand kennt und man aus Sympathie tanzt. Und danach Surfmusik ohne DJ Lt. Surf. Das schockt nicht mehr. Meine Mitstreiter raffen das auch. Also ziehen sie sich mit mir im Handgepäck zurück in die Chillout-Area. Kiffen. Nicht ich. Will ja nicht böse abdrehen. Nicht hier. Sie werden stiller. Als Normalo machen sie einem zum Freak. Als sie Burger mit Fritten bestellen, ist es genug. Gesättigt vom gedankenfettigem Essen pfeife ich mir allein an der Bar einen Wodka-Redbull nach dem anderen rein. Immer rinn mit die Scheiße. Ich beäuge das Freiwild mit schizoiden Blicken. Ein Blick ein Schuss.
Irgendwie treffen wir uns wieder. Timm nimmt es erwartetermaßen gleichgültig. Wir klären die Lage und räumen das Feld, wobei wir die beiden Opfer zurück lassen. Ein gefügiger Taxifahrer kutschiert uns sodann heim. Mit ein paar Cheeseburgern geht es vier Stöcke aufwärts, bitte. Zickezacke wird sich ein Kurzer genehmigt. Ich putze die Zähne, Timm stürzt vom Balkon. Mein frischer Atem sieht ihn auf dem Gehweg liegen. Neben dem Briefkasten zwischen der Hundescheiße läuft er aus seinem Kopf. Für Montag vermerke ich noch schnell im Handy “Kündige job wohnung haftpflicht”, bevor ich mich in seine Richtung übergebe.