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Montag bis Freitag
25 Jahre waren sie zusammen gewesen.
Tagein, tagaus.
Morgenlicht fällt golden ins Büro, schimmert durch die Lamellenvorhänge.
Ulli starrt ins nichts, versucht zu greifen, was diese Zeit für sie bedeutet hat, und kann nur in Stichpunkten denken, Gedankenfetzen eigentlich: Sie kannten einander in- und auswendig, wussten, wie die andere auf jeden Satz reagierte, noch ehe er ganz ausgesprochen war. Wussten, welches Wort ein Augenrollen, welches einen Lachanfall heraufbeschwören würde. Verstanden jede noch so kleine Veränderung in der Mimik.
Vorlieben, Abneigungen, Allergien, Meinungen zum Weltgeschehen oder zum neuesten Netflix-Binge-Fest. Lieblingskuchen, Lieblingspasta, Lieblingswein. Geburtstage, Namen und Krankheiten der Eltern, der Kinder, der Partner und der Affären. Hatten gelacht, brüllend gelacht, nach Luft schnappend, um Erbarmen bettelnd. Hatten geschimpft, gelästert, und einander die Tränen getrocknet, gut zugeredet.
„Ding“ – eine E-Mail. Ulli blinzelt, nimmt sich zusammen, es gibt zu tun. Sie liest eine Weile konzentriert, dann stiehlt sich ein Grinsen auf ihr Gesicht. Ihre Augen weiter auf dem Bildschirm, neigt sich ihr Kinn in Richtung des Schreibtisches neben ihr. „Stell dir vor, jetzt …“ setzt sie an. Sie hält inne, das Lächeln gefriert: Ihr Blick gleitet auf den Arbeitsplatz, an dem niemand sitzt.
Ein Bildschirm, eine Tastatur. Sonst nichts, anonym, wartend, kalt.
Keine Fotos der Kinder mit schokoverschmierten Gesichtern, kein Kaktus, kein Schild mit der Aufschrift "Hier lang auf den Ponyhof", keine Box mit Yogi-Tees „ .. wegen der Sprüche; Ulli, die sind so absurd! Hier, hör mal: Wenn du den Weg verlierst, folge dem Klang deines Lachens nach Hause. Was glauben die wie witzig es daheim ist? Kennen die meinen Mann?”
Ulli presst die Lippen aufeinander, wischt sich über die Augen, holt tief Luft. Ignoriert den leeren Schreibtisch neben sich, so gut sie kann.
Mittags kommt ein Kollege an ihren Tisch. „Wir wollen zum Italiener, es ist Pizza-Tag. Kommt ihr …“ er unterbricht sich verlegen, das „ihr“ hängt zwischen ihnen wie eine kleine schwarze Bombe. Er schielt verstohlen auf den leeren Platz, blickt dann auf seine Kollegin. Räuspert sich und beginnt von vorne. „Kommst du mit?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Sicher?“, fragt er, aber er hat sich schon abgewendet. Halb schuldbewusst, halb erleichtert, denkt Ulli. Was hätten sie auch reden sollen, mit Ulli in ihrer Trauer? Zusammen waren die beiden immer der lachende, lästernde, gesellige Kern am Kollegentisch. Kannten die Firma in- und auswendig, hatten einen unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten gewusst.
An der Tür warten drei, vier andere aus dem Team stumm auf den Kollegen. Eine junge Frau schüttelt den Kopf. „Sie nimmt es sehr schwer, oder?“ Er nickt, flüstert: „Ist ja auch tragisch. Und Ulli allein, man weiß gar nicht wie man mit ihr umgehen soll, oder?“ Die junge Frau zögert: „Aber ... die beiden haben außerhalb der Arbeit meines Wissens nichts großartig miteinander zu tun gehabt …“ Ihre Stimmen verhallen auf dem Flur.
Ulli nickt auch, allein an ihrem Platz. Sie hat halb verstanden, halb kann sie sich denken, was die jungen Kollegen geflüstert haben. Sie haben sich außerhalb der Arbeit tatsächlich nicht getroffen, in 25 Jahren nicht ein einziges Mal.
Warum eigentlich? Sie waren so vertraut gewesen. Mit all dem Wissen über das Leben der anderen, zu viel vielleicht, denkt Ulli jetzt, zu subjektiv, dieses Wissen, um die Kollegin auf den echten Ehmann loszulassen, auf die echten Kinder. Stattdessen Montag bis Freitag, acht Uhr dreißig bis 15 Uhr, eine Stunde Mittag. Das ist so viel mehr, denkt sie, so viel mehr Zeit als die meisten anderen Menschen in meinem Leben bekommen.
Sie holt sich im Café ein Panini und einen Cappuccino, sitzt dann auf der Bank vor dem Gebäude. Dort haben sie das ganze Leben diskutiert, Ehe, Freundschaften, Urlaube. Sie haben Elterngespräche seziert und neu zusammengesetzt, das Leben in den richtigen Kontext gesetzt. Jetzt sitzt sie hier allein.
Später schaut der Chef zur Tür herein. „Na…?“, fragt er. Er ist erst seit fünf Jahren ihr Chef, angenehmer Kerl, lässt sie weitgehend in Ruhe ihre Arbeit machen. Jung noch, aber clever. Jetzt steht er etwas betreten vor ihr.
Er schiebt eine Karte über ihren Tisch. Elfenbeinfarben, grauer Rand. In der Mitte die Zeichnung einer Lilie. Sehr geschmackvoll.
„Wollen Sie auch unterschreiben?“, fragt er. Als sie die Karte aufklappt, ist sie einen Moment überrascht von den vielen Unterschriften, die schon darinstehen. Links steht ein Spruch: „Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon – Jean de la Fontaine“. Verwirrt hängt ihr Blick an den silbergrauen, geschwungenen Buchstaben. Sie fragt sich, wer diesen Spruch ausgesucht hat. In ihren Ohren klingt das, als ob man von den Angehörigen erwarten würde, die Traurigkeit endlich loszulassen, den Menschen, den man geliebt hat, zu vergessen – schnell jetzt, gib der Trauer Flügel, lass endlich los! Sie ist tot, ist gut jetzt, das Leben geht weiter!
Sie schließt die Augen, kann sich gut vorstellen, was sie beide jetzt gesagt hätten, wie sie die Augen verdreht hätten und sich Geschichten erzählt hätten von Trauerfeiern, Beerdigungen, stell-dir-vor-einmal-war-ich …
Ihr Chef wartet. „Wir schicken auch Blumen“, sagt er. Ulli weiß das, sie hat die Blumen ausgesucht. Die Beerdigung findet im engsten Familienkreis statt. Ulli wird nicht hingehen. Hat die Familie nie kennengelernt, und kennt sie doch so gut wie ihre eigene. Besser vielleicht. Zu gut.
Sie nimmt einen Kuli zur Hand. Mach’s gut, meine Liebe, will sie schreiben, und Du fehlst mir so sehr und wenn du wüsstest, was hier los ist … Mit wem teile ich jetzt das Leben? Wir beide haben uns gekannt, wirklich gekannt. Montag bis Freitag, und ein Leben lang.
Sie setzt an und schreibt: „In tiefer Anteilnahme, Ulli“.