- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Monument
Gemächlich glitten die Schwingen eines Vogels durch die schwüle Luft. Leichter Regen fiel vom Himmel herab und perlte an seinem dichten, schwarzen Federkleid ab. Immer wieder wurde die Nacht von einem fernen Blitz erleuchtet und die Erde unter ihm wurde für einen kurzen Augenblick lang in ein bläuliches Licht getaucht. Die Krähe flog über die hölzernen Hütten der Dorfbewohner weg, deren Dächer und Wände mit alten Tierhäuten bespannt waren.
Es wurde wieder dunkel und der feine Nieselregen wandelte sich in kleine Tropfen. Ein Donner grollte, dann ein Blitz und wieder sah die Krähe, wie die Landschaft unter ihr vorbeizog.
Ausgetretene Wege führten durch die im saftigen Grün stehenden Wiesen. Der breiteste führte aus dem Dorf hinaus, direkt auf ein eigenartiges Gebilde zu, dass sich schemenhaft in der Ferne abzeichnete.
Der Blitz verlor seine Kraft und verschwand. Die Flügel des Vogels schlugen nun schneller. Er glitt tiefer herab und hoffte bald auf einen Platz zu treffen, der ihm Schutz vor dem immer mehr an Stärke gewinnenden Regen bot.
Erneut durchstieß ein blauer, fast weiß gezackter Streifen die Himmeldecke und ließ die Welt die vorherrschende Düsternis für einen kurzen Moment vergessen.
Das Gebilde ragte aufrecht in den Himmel und seine Oberfläche war glatt; von Menschenhand behauen. Es war ein großer Stein, den man im Boden verankert hatte und wie ein Fremdkörper in der flachen Umgebung anmutete. Vor ihm standen zwei Menschen und auf dem Boden saß ein kleines Kind.
Die Krähe drehte ab. Sie entfernte sich von den nahen Klippen, denn der Sturm würde von dort über das Land hereinbrechen.
Die schmalen Augen des Schamanen blitzten bedrohlich auf. Sein Körper war zusammengekauert, so als würde ihn die schwüle Luft niederdrücken. Er sah den Jungen vor ihm an, der mit einem Stück weißer Kreide einige Bilder auf dem großen Stein hinterlassen hatte. Als er den Schamanen bemerkte, drehte er den kleinen Kopf in seine Richtung und lächelte ihn fröhlich an, wobei er stolz gestikulierend auf seine Malerei zeigte.
Plötzlich änderte sich die Haltung des Schamanen. Er stand mit einem Mal aufrecht und sein ausgestreckter Finger zeigte auf den Jungen, der immer noch eine Reihe weißer Zähne offenbarte. „Bringt mir die Mutter dieses Kindes!“ schrie er zu dem jungen Mann hinter ihm, der sich ein paar Schritte an seinen Meister heranwagte. „Wisst ihr, wessen Kind das ist?“ fragte er beängstigt, denn er kannte die Antwort schon.
„Ja. Ich weiß es genauso gut wie du!“ Mit diesen Worten riss sich der Schamane seinen Lendenschutz herunter und rannte auf das große Monument zu. Sein Lehrling verschwand derweilen und suchte nach der Mutter des Jungen. Er wusste nicht wo er Ikwa finden würde, denn die Frau des Stammesführers besuchte jeden Abend die Kranken und Schwachen ihres Volkes.
Ikwas Lungen brannten vor Anstrengung, als sie das Monument erreichte und den Schamanen sah, wie er mit seinem Lendenschutz versuchte die Schmierereien ihres Sohnes zu entfernen. Der Regen wurde immer stärke und die Pausen zwischen Blitz und Donner verkürzten sich zusehends. Als sie nah genug war, sah sie das geistliche Oberhaupt des Stammes, wie es nackt Gebete flüsterte und dabei immer wieder panisch nach oben blickte. Neben ihm saß ihr schreiender Sohn. Sie lief auf ihn zu und schloss ihn fest in die Arme, wobei die Blicke des Schamanen ihr folgten. In seinen Augen spiegelte sich Angst und Wahnsinn wieder.
Das Grollen des Donners schwoll an und Ikwa glaubte, dass ihre Ohren unter dem Druck auseinanderreißen würden. Sie presste ihre Hände darauf und langsam begann sich ein Gefühl in ihr auszubreiten. Es war Angst. Nicht die Angst vor dem Unwetter, sonder die Angst, um ihren Sohn. Die Blitze schlugen in den Boden. Am Horizont sah sie einen Baum, dessen Krone Feuer gefangen hatte und sein unheilvolles Licht zu ihnen hinüberwarf.
Immer mehr Menschen kamen auf das Monument zugerannt. Sie alle suchten Schutz und Trost in seiner Nähe, denn sie hatte es erst vor wenigen Wochen den Göttern geweiht.
„Ich kann die Götter nicht besänftigen,“ schrie der Schamane über das Donnern hinweg. „Sie verlangen ein Opfer. Sie wollen den haben, der es gewagt hat ihren Schrein zu beschmutzen.“
Wie Nebel schwebten die Worte durch Ikwas Kopf. „Nein!“ entrang es ihrer Kehle. „Das dürft ihr nicht!“
Es knallte und ein Schwall warmer Luft riss an den groben Tüchern, welche die Menschen um sich geschlungen hatten. Ein Blitz war nur wenige Meter neben ihnen eingeschlagen und mittlerweile standen sie bis zu den Knöcheln in dem aufgeweichten Boden.
„Gebt mir das Kind! Schnell!“ Der Junge heulte. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen würde, doch alle blickten ihn an und in ihren Augen lag ein leidiger Glanz.
In Ikwas Kopf begann sich die Welt um sie herum zu drehen. Alle Eindrücke schlugen mit einer Wucht auf sei ein, dass sie drohte das Bewusstsein zu verlieren. Die Götter waren erzürnt über ihren Sohn und es war auch ihre Schuld, da sie nicht genügend auf ihn geachtet hatte. Und nun würden sie ihr Volk vernichten.
Sie schob den Jungen von sich fort und befahl ihm zu dem Schamanen zu gehen.
Mannok saß auf dem steinigen Boden seiner Hütte und betrachtete die kleinen Rinnsale, die langsam ins Innere flossen. Im Hintergrund hörte er die Brandung, die sich an den steilen Klippen brach.
Eine Stimme drang von draußen herein. Sie zitterte. „Euer Sohn. Es geht um euren Sohn.“
Ein hagerer Mann stürmte herein. Sein schwarzes Haar troff vor Nässe und in seinen Augen las Mannok ein stilles Entsetzen.
„Er hat das Monument bemalt und nun zürnen die Götter. Das Unwetter wird uns alle töten. Aber der Schamane versucht sie zu besänftigen. Er will euren Sohn opfern und so die Schmach von ihm nehmen und uns alle retten.“
Mannok sprang auf. „Was?“ Raun war sein einziger Sohn und sofort begriff er die Ernsthaftigkeit der Situation. Aber was sollte er tun. Wenn die Götter ihn wollten, dann musste er ihn ihnen geben. Auch wenn der Schmerz, der allein durch die Gedanken daran in seinem Inneren wie Feuer aufloderte, ihm fast den Verstand nahm. Er eilte hinaus in den Regen.
Der Schamane presste Raun gegen das Monument und seine Finger legten sich um den schmalen Hals. Er drückte zu und langsam verdrehten sich die Augen des Jungen. Als Mannok seinen Sohn so sah, überkam ihn Wut und Angst zugleich.
Mannok starrte auf die Spitze des Monuments und seine Augen wurden starr. Sein Körper verkrampfte unter starken Zuckungen und lediglich das Weiß seiner Augen war noch zu sehen, als ein weitere Blitz in die Erde schlug. Er schrie und schüttelte sich. Wie ein Wurm kroch er über den Boden, bis sein Körper den Stein berührte. Dann wurde er ruhig. Mittlerweile hatte der Schamane den Jungen losgelassen, der nun schwer atmend auf dem Boden lag. Regenwasser floss in Strömen über ihn und er drohte darin zu ertrinken, bis Ikwa seinen Kopf an ihre Brust zog.
Mannok stand auf.
„Die Götter haben zu mir gesprochen.“ Die Menschen hielten den Atem an. „Sie wollen den Jungen nicht. Sie sind erzürnt, dass wir es wagen ein so junges und unschuldiges Leben zu opfern. Sie wollen den, der dies entschieden hat, denn niemand soll ermessen, welche Entscheidungen sie treffen.“
Eine Frau trat vor und zeigte erschrocken auf den Schamanen. Ein Mann trat hinzu und deutete auch auf ihn. Und andere taten es den beiden gleich.
„Nein, nein!“ keuchte er. „Das kann nicht sein. Nur mit mir reden die Götter.“ Doch Mannok war schon bei ihm und hob den schmächtigen in einer einzigen Bewegung hoch über seinen Kopf.
Beide schrieen auf. Der Eine vor Angst, der andere brachte alle Kraft auf, die er hatte. Mannok schmetterte den Kopf des Schamanen gegen das Monument und im gleichen Augenblick spritzte rotes Blut daraus hervor. Der Regen wusch es sofort ab und zurück blieb nur die farblose Hülle des Mannes. Er war tot. Die Götter hatten ihr Opfer bekommen.
„Und nun zurück in eure Hütten. Sucht Schutz. Schon bald wird es vorbei sein.“
Auch Ikwa und Raun verließen den Ort des Geschehens. Mannok stand nun allein unter dem Großen Stein und er wusste, dass die Götter sie alle strafen würde. Sie hatten nicht zu ihm gesprochen, doch sehr bald würde sie es tun. Er hatte sich gegen sie gestellt und ihren Schamanen getötet, nur um das Leben seines Sohnes zu retten. Er hätte noch andere Kinder haben können, doch dies war sein Erstgeborenes. Mannok war erfüllt von Scham und Angst. Ungewiss blickte er hinauf und folgte mit seinem Blicken jedem Blitz. Immer darauf gefasst, dass der nächste ihn treffen würde.