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Moon River

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30.01.2005
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Moon River

Moon River, wider than a mile, I’m crossing you in style some day…
Ich summe leise die Melodie, während ich dich anschaue. Du scheinst zu schlafen, dein Gesicht ist entspannt, doch das grelle Licht wirft groteske Schatten auf deine Züge. Deine Brust hebt und senkt sich langsam, deine Hände liegen kraftlos auf dem weissen Laken. So genau ich auch hinschaue, ich kann keinen einzigen, noch so kleinen Flecken finden, der das gnadenlose Weiss des Lakens verunstaltet und sympathischer gemacht hätte. Irgendein Gerät piept in regelmässigen Abständen, leise und aufdringlich. Das Leder des Stuhles, auf dem ich sitze, klebt an meinem Hintern, obwohl ich Jeans trage, ich spüre die kleinen Schweissrinnsale in meinem Nacken, verursacht durch die überheizte, wohl kalkulierte Temperatur im Zimmer. Die Tür öffnet sich, graue Gummisohlen quietschen auf grasgrünem Linoleumboden, und eine Frau in Weiss mit Klemmbrett im Arm steht vor mir. „Susi Hess“ sagt das kleine Schild auf ihrer Brust. „Guten Abend, Frau Lindenberg“, sagt sie freundlich und macht sich routiniert daran, auf irgendwelchen Monitoren irgendwelche Werte abzulesen, um sie dann in irgendwelche Tabellen auf ihrem Klemmbrett einzutragen. Ich brauche nicht hinzuschauen, um das zu wissen, ich erkenne es am Klicken ihres Kugelschreibers, ihrem Atem, der immer etwas schneller geht, wie immer, wenn sie sich konzentrieren muss, am kratzenden Geräusch des Stiftes auf dem Papier, und ausserdem habe ich es schon so oft gesehen. Und plötzlich, ohne aufzuschauen, sagt sie: „Die Besuchszeit ist in einer halben Stunde vorbei, doch wir können Ihnen ein Feldbett ins Zimmer stellen, wenn Sie es wünschen.“ Ich murmle etwas, habe nicht einmal den Anstand, ihr eine vollständige Antwort zu geben, denn wir beide wissen ganz genau, dass ihre Frage nur rhetorisch gemeint war, sie kennt mich ja langsam schon, natürlich werde ich die ganze Nacht über bei dir bleiben. Ihr Kugelschreiber klickt wieder, die Gummisohlen quietschten auf dem Boden. An der Tür bleibt sie noch einmal stehen, dreht sich zu mir um und fragt freundlich: „Gleich ist Schichtwechsel. Soll ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee vorbeibringen, bevor ich gehe?“ Obwohl ihre Frage ja nur gut gemeint war, könnte ich ihr Gift geben dafür. Ich will, dass sie endlich geht und zu ihrer Familie heimkehrt, zu ihren drei Kinder und ihrem Mann, ihnen eine Gutenachtgeschichte erzählt und sich dann schlafen legt, um genug Energie zu tanken, damit sie am nächsten Tag Menschen wie mir mit genug Freundlichkeit und wohl dosiertem Mitleid begegnen kann. Ich will, dass sie geht und mich mit dir alleinlässt. „Nein, danke“, erwidere ich so freundlich ich kann, und die Tür schliesst sich lautlos hinter ihr.
You dream maker, you heartbreaker… Das Leben ist scheisse und ungerecht. Warum gibt es einem Dinge, die so unglaublich wunderbar sind, beinahe zu schön um wahr zu sein, nur um sie einem dann gleich darauf wieder zu nehmen? Wieso musste das Leben uns zusammenführen, um uns dann gleich darauf wieder zu trennen? Ja, genau, Glück dauert so lange, wie einer braucht, um dir in die Suppe zu spucken. Unglück misst sich daran, wie lange du brauchst, diese Suppe mit einem Sieb wieder auszulöffeln. Wie wahr. Warum musste ich im letzten Winter auch Eis laufen gehen und in dich hineinfahren? Es war nur schon ein Wunder gewesen, dass ich überhaupt Eis laufen gegangen bin, ich kann Eislaufen nicht ausstehen, genau genommen hasse ich es, ich hab’s damals nur getan, um meiner besten Freundin eine Freude zu machen, also weshalb musste ich dann auch noch ausgerechnet in dich hineinfahren? Ich hab mir meinen Arm gebrochen damals, und auf den Gips hast du mir deine Nummer geschrieben. Doch eigentlich sollte ich mich nicht beklagen über den Unfall. Eigentlich hat er mir ja nur Gutes gebracht, der Ring an meinem Finger ist ja schliesslich Beweis genug dafür. Aber trotzdem.
Wenn es mir jedes Mal ein kleines Loch ins Herz stechen würde, wenn ich dich so anschaue, wäre es bestimmt schon durchlöcherter als ein Sieb. Wie hilflos und zerbrechtlich du aussiehst mit deinem kahlen Kopf, den eingefallenen Wangen, den kraftlosen Händen auf diesem wirklich scheusslichen Laken.
Die Tür öffnet sich wieder, zwei kräftige Krankenpfleger treten ein, Kurt und Michael heissen sie, und tragen das Feldbett herein. Ich stehe auf, komme mir vor, als hätte ich in die Hosen gemacht, so unangenehm feucht klebt der Stoff auf der Haut. Meine Beine sind steif; ich habe sie schon lange nicht mehr bewegt – wie lange habe ich an deinem Bett gesessen? Jegliches Zeitgefühl ist mir abhanden gekommen.
Während Kurt und Michael das Bett aufstellen, gehe ich ans Fenster. Ein grosses ist es, typisch für ein Krankenhaus. Wenn die Kranken nicht zur Sonne können, muss die Sonne halt zu ihnen kommen – wie ironisch, wo doch viele der Patienten der Sonne näher sind als wir uns vorstellen können. Die Sterne sind schon aufgegangen, der Mann im Mond hat seine Lampe angezündet, es ist eine klare, wolkenlose Nacht. Ich drehe mich nicht um, als Kurt und Michael das Zimmer verlassen und das Licht löschen.
Es stinkt hier drin, nach Desinfektionsmittel, Krankheit, Mitleid und Tod. Ich frage mich, ob dir das auch auffällt, ich würde dich fragen, wenn du mir eine Antwort geben könntest, doch das kannst du nicht. Und dir Fragen zu stellen habe ich schon lange aufgegeben, Frage wie ‚Weshalb musste es ausgerechnet dich treffen?’, ‚Weshalb jetzt?’, ‚Kann denn kein Wunder geschehen?’, Fragen wie ‚Gibt es denn überhaupt keine Hoffnung mehr?’ – du hast mir nie eine Antwort gegeben, nur immer gelächelt, dein halb trauriges, halb ironisches Lächeln, nach dem ich schon seit unserer ersten Begegnung verrückt war. Du hast es einfach angenommen, hast nicht versucht zu kämpfen wie ich. Natürlich bist du in Behandlung gegangen, das schon, doch als der Tag gekommen ist, wo der Arzt nicht mehr sagen konnte „Hoffnung besteht immer“, hast du nur gelächelt. „Das Schicksal hat dich in meine Arme geführt“, hast du ruhig gemeint, als ich von verzweifelten Schluchzern erbebend in deinen Armen lag, „und wenn es sein Wille ist, mich jetzt zu nehmen, dann werde ich mich nicht dagegen wehren – man soll ja immer da aufhören, wo es am Schönsten ist. Und du wirst ja nicht alleine sein“, hast du hinzugefügt und sanft deine Hand auf meinen Bauch gelegt.
Auch jetzt, wo ich am Fenster stehe, spüre ich das keimende Leben in mir. Unser Kind hat all die Energie, die du nicht mehr hast.
Nur ein einziger Wunsch hattest du – du willst unter freiem Himmel sterben, mit mir in deinen Armen, im sanften Licht der Sterne und des Mondes, und ich soll dir unser Lied vorsingen, wie ich es später einmal bei unserem Kind tun werde. Der freie Himmel kann ich dir leider nicht bieten, doch ich kann das Fenster öffnen und die warme, süsse Nachtluft hereinströmen lassen.
Keine Nachtigall singt, kein Hund heult, keine Grillen zirpen, keine Eule schreit, kein Wind rauscht in den Bäumen, nur Motorengeknatter durchschneidet ab und zu die friedliche Stille der Nacht. Doch das macht alles nicht weniger schön.
Das Feldbett hätten sie sich sparen können. Diese Nacht werde ich bei dir liegen. Das Bett ächzt leise, als ich mich an deine Seite lege und vorsichtig deinen Arm um mich lege. Ich weiss, dass es zu Ende geht, und ich habe es akzeptiert, ich hatte ja genug Zeit darüber nachzudenken. Du hast Recht behalten, es hat keinen Sinn, dagegen anzukämpfen. Das Leben verfolgt sein eigenes, für uns unverständliches Muster, es schlägt uns tiefe Wunden und heilt sie auf seine wundersame Weise wieder, und uns bleibt nichts anderes übrig als seine Entscheidungen anzunehmen und gespannt zu sein, was für Überraschungen es noch für uns bereithält.
Wherever you’re going I’m going your way…Ja, so war es eigentlich gedacht gewesen. Doch du wirst den Fluss jetzt überqueren, und ich werde bleiben, werde unser Kind aufwachsen sehen, dein Wesen in seinem erkennen, und glücklich sein darüber.
Das Piepen hört plötzlich auf und geht in einen schrillen, lauten Ton über, ich höre eilige Schritte auf dem Gang, Tränen laufen mir übers Gesicht, doch ich weiss nicht, ob es Tränen des Glücks oder der Traurigkeit sind. Du bist jetzt frei, erlöst. Sie suchen deinen Puls und finden ihn nicht, doch ich lasse dich nicht los, bis sie mich sanft, aber bestimmt von dir entfernen. Das Linoleum quietscht unter meinen Sohlen, als ich das Krankenhaus verlasse und in die warme, sternenklare Nacht heraustrete.

 
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Hallo Liadan,

deine Geschichte hat mir gefallen, so, wie du sie erzählt hast. Du hast viele passende Worte gefunden, die mich in die Stimmung des Krankenhauses und des Abschieds versetzt haben.

Während der Geschichte habe ich nur einmal nachgerechnet, wie die zeitliche Abfolge der Beziehung vor sich ging. Es muß wohl Sommer sein sein, sie haben sich den Winter davor kennengelernt, haben schon geheiratet, sie ist schwanger, er hatte vielleicht Krebs (nehm ich jetzt mal an) ...natürlich ist das alles rein theoretisch möglich, aber dadurch, dass du diesen letzten Winter am Anfang ins Spiel brachtest, saß bei mir erstmal die Erkenntnis fest: Die kennen sich nicht so lange. Da ist ein bißchen viel in einem halben Jahr passiert.
Tut ja auch nicht soviel zur Sache, ist mir aber aufgefallen.

Zum Text:

Die ss und ß korrigiere ich nicht, da du Schweizerin bist ;) und ich das einfach so akzeptiere.


So genau ich auch hinschaue, ich kann keinen einzigen, noch so kleinen Flecken finden, der das gnadenlose Weiss des Lakens verunstaltet und sympathischer gemacht hätte.

Gefällt mir gut.

Irgendein Gerät piept in regelmässigen Abständen, leise und aufdringlich. Das Leder des Stuhles, auf dem ich sitze, klebt an meinem Hintern; obwohl ich Jeans trage, ich spüre die kleinen Schweissrinnsale in meinem Nacken, verursacht durch die überheizte, wohl kalkulierte Temperatur im Zimmer.

Nach Hintern Semikolon oder ein Punkt und neuer Satz.

Ich brauche nicht hinzuschauen, um das zu wissen, ich erkenne es am Klicken ihres Kugelschreibers, ihrem Atem, der immer etwas schneller geht, wie immer, wenn sie sich konzentrieren muss, am kratzenden Geräusch des Stiftes auf dem Papier, und ausserdem habe ich es schon so oft gesehen.
Das fettgedruckte würde ich weglassen; durch deine vorherige Beschreibung wird schon klar, dass der Prot die Vorgänge gut kennt.

Und plötzlich, ohne aufzuschauen, sagt sie: „Die Besuchszeit ist in einer halben Stunde vorbei, doch wir können Ihnen ein Feldbett ins Zimmer stellen, wenn Sie es wünschen.“

das und würde ich weglassen

Ich hab mir meinen Arm gebrochen damals, und auf den Gips hast du mir deine Nummer geschrieben.

damals zwischen mir und meinen Arm


Doch eigentlich sollte ich mich nicht beklagen über den Unfall.

nicht über den Unfall beklagen

Eigentlich hat er mir ja nur Gutes gebracht, der Ring an meinem Finger ist ja schliesslich Beweis genug dafür.

Ist es wirklich nur Gutes gewesen mit seiner Krankheit?

Kurt und Michael heissen sie

Du nennst diese Namen dreimal in kurzer Zeit. Da könnte man auch einmal die Pfleger oder sie schreiben.
Es stinkt hier drin, nach Desinfektionsmittel, Krankheit, Mitleid und Tod.

ich würde das drin und das Komma streichen

Ich frage mich, ob dir das auch auffällt, ich würde dich fragen, wenn du mir eine Antwort geben könntest, doch das kannst du nicht.

nach auffällt Semikolon oder Punkt

Und dir Fragen zu stellen habe ich schon lange aufgegeben, Frage wie ‚Weshalb musste es ausgerechnet dich treffen?’, ‚Weshalb jetzt?’, ‚Kann denn kein Wunder geschehen?’, Fragen wie ‚Gibt es denn überhaupt keine Hoffnung mehr?’ –

Das und brauchst du nicht, -- dann Fragen und nach wie ein Doppelpunkt


– man soll ja immer da aufhören, wo es am Schönsten ist.

wenn es am Schönsten ist.

Ich kann verstehen, dass der Mann seinen Tod akzeptiert. Aber dieser Satz mit dem Schönsten verstehe ich nicht. Als werdender Familienvater könnte er sich sicher noch viele schöne Dinge in seinem Leben vorstellen.


Vielleicht kannst du mit den Vorschlägen etwas anfangen.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo Liadan!

Sehr intensive Momentaufnahme, die dem Leser die Gefühle des Protagonisten gut näherbringt. Man kann eintauchen und den leisen, gefühlvollen Abschied miterleben. Gut geschrieben, da kann ich nicht viel meckern ... Moon river hast Du gut mit eingebunden, könntest die Textzeilen z.B. noch durch Kursivschrift hervorheben.
Das mit dem ß kannst Du korrigieren, indem Du es aus meiner Antowrt reinkopierst, und mit dem Bearbeiten-Butten (im Text rechts unten) editierst.

schöne Grüße
Anne

 

Hey ihr drei!
Erst mal vielen Dank für eure kritiken, hab mich wirklich sehr darüber gefreut :D

@Maus: das mit der Kursivschrift hab ich versucht, hat aber nicht hingehaun, dann hab ichs halt gelassen... ich hoffe jedoch, dass es nicht zu sehr stört, was meinst du? :) und ich glaub, dass ich das mit dem seltsamen s lassen werde - dann müsste ich es ja beinahe überall zu änder anfangen, sonst wärs nicht konsequent...

@Bernadette: auch an dich ein Dankeschön für die Verbesserungsvorschläge! Ich werde mich ihnen demnächst annehmen, danke für die Mühe, die du dir gemacht hast :)

@Maggie3: Danke! In dieser Geschichte hab ich mal versucht anders zu schreiben als sonst, schön, dass es so gut angekommen ist!

ja, das wärs dann auch schon :)

alles Liebe,
Liadan

 

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