Morgen-Grauen
Der Radiowecker schaltet sich automatisch ein, und irgendein Kerl fängt an zu quatschen und erzählt mir von einem Flugzeugabsturz vor der südafrikanischen Küste, bei dem alle hundertfünfundzwanzig Passagiere ums Leben gekommen sind. Ich taste nach dem Ausschaltknopf und bringe den Kerl zum Schweigen. Dann ist es wieder still, und nur der Regen, der von Böen gegen die Fensterscheibe getrieben wird, dringt mir sanft ins schlaftrunkene Bewusstsein.
Montagmorgen, Ende November, sechs Uhr fünf – was gibt es schlimmeres.
Ich weiß, dass ich handeln muss, um nicht in den verlockenden wohlig-warmen Schoß des Schlafes zurückzusinken. Also schlage ich die Bettdecke zur Seite und hieve meinen Körper in eine sitzende Position. Die Kälte im Zimmer ist brutal. Mein Schädel pocht. Ein fieser neuralgischer Schmerz unter der linken Schläfe. Das Wochenende steckt mir in den Knochen. Ich stehe auf, taumle ins Badezimmer, pinkle, schlucke ein Aspirin und betrachte mich im fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Es sieht nicht gut aus. Bleich, verquollen, dunkle Schatten unter rotgeränderten Augen. Das Neonlicht, denke ich, ungünstige Ausleuchtung. Ich grinse, das Spiegelbild grinst gequält zurück.
Ich esse Käse auf Wasa und trinke heißen Kaffee, den die Maschine mittels integrierter Zeitschaltuhr vorbereitet hat. Braunes Wasser, aber heiß zumindest.
Im Radio spielen sie die neuste von Madonna. Soso, die lebt noch. Anschließend eine Exklusiv-Reportage aus Johannisburg. Unter den Flugzeugpassagieren haben sich auch deutsche Staatsbürger befunden. Die Deutschen gehören bekanntlich zu den reiselustigsten Europäern. Da kann sowas schon mal vorkommen.
Dann raus in den Regen. Hetze die Straße entlang, finde den alten Rekord und reihe mich in den Berufsverkehrsstau ein. Die nasse Jeans klebt am Oberschenkel. Die Fenster beschlagen. Die Lüftung röchelt. Ich schiebe eine Gebrannte von den DOORS ins Gerät. „This is the end, my only friend, the end …“
Vor mir ein BMW. Z1. Cabrio. Königsblau-Metallic. Vermutlich ein 25jähriger jungdynamischer Börsenmakler oder Unternehmensberater mit eigener Penthouse Wohnung am Hafen, der gerade von einem dreiwöchigen Maledivenurlaub zurückgekehrt ist, den er zusammen mit seiner 21jährigen Freundin indischer Abstammung, die wahrscheinlich als Web-Designerin oder PR-Kommunikationsmanagerin arbeitet, in einem exquisiten Bungalow für zweitausendfünfhundert Euro pro Tag verbracht hat. Nun ist er gut gelaunt auf dem Weg in sein sündhaft teures, tropenholzmöbliertes Börsenmakler- oder Unternehmensberaterbüro. Dort bereitet er sich zunächst einmal in der mitarbeitereigenen Fitness-Lounge physisch und mental auf die bevorstehende Woche vor, während seine persönliche Sekretärin - eine blondgelockte 28jährige Halbschwedin - mit den Terminen jongliert.
Ich hasse ihn, und ich spiele mit dem Gedanken, nach dem nächsten Anfahren nicht zu bremsen, um meine rostige Stoßstange in seinen elitären BMW-Arsch zu schieben. Vielleicht bin ich ja doch schwul, denke ich und frage mich gleichzeitig, wie ich auf diesen Gedanken komme.
Endlich biegt dieser narzisstische Potenzprotz ab, und ich schließe auf einen Fiat-Uno auf, dessen Rückfenster mit einem runden „Frauenpower“-Aufkleber verziert ist. Violette Faust auf einem violetten Kreuz in einem violetten Kreis. Nee, denke ich, ich bin wohl doch ganz ordinär heterosexuell.
An der Ampel vor der großen Kreuzung, die, im Gegensatz zu anderen Ampeln, eine besonders lange Rotphase anzeigt, drehe ich mir eine Zigarette. Ich inhaliere und huste. Glut fällt auf meine nasse Hose. Ich schlage sie aus und öffne das Fenster einen spaltbreit wegen der frischen abgasgeschwängerten Luft. Regen prasselt herein. Ich kurble die Scheibe wieder hoch. Dann geht es weiter, Meter um Meter, wie eine träge, vollgefressene Blechanakonda. „Ride the snake, ride the snake, to the lake, the ancient lake, baby …“
Um fünf Minuten vor sieben presche ich auf den Parkplatz der Firma. Ich würge den Motor und die DOORS und Jim Morrison ab und eile in den Umkleideraum. Es riecht nach alten Socken und kaltem Rauch, nach Monotonie und Hoffnungslosigkeit. Ich steige in den muffigen Blaumann, während ich das vergilbte Poster von Pamela Anderson an der Wand über der Tür betrachte. Sie läuft in einem knappen Bikini, mit großen wiegenden Brüsten und einem Surfbrett unter dem Arm, den Strand von Malibu entlang. Und, wie so oft, frage ich mich, welcher hirnlose Idiot dieses nichtssagende Poster dort vor Jahren hingehängt hat.
Ich betrete um drei Minuten nach sieben, also drei Minuten zu spät, die Werkstatt. Doch statt der üblichen sinnleeren und speichelsprühenden Tirade des rotgesichtigen Meisters, bleibt es ruhig an diesem Morgen, was mich wundert.
„Jo, jo“, sagt Hansen, der sich gerade an die Stoßdämpfer eines Passats macht, „der Meister hat‘s gut.“
Ich verstehe nicht.
„Naja, der is doch gestern mit seiner Alten nach Südafrika geflogen.“
Ich wende mich ab, gehe zur Kaffeemaschine hinüber, fülle einen Becher und sehe aus dem Fenster. Draußen hat sich Schnee unter den Regen gemischt.