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Morgen, oder irgendwann (neu edit. Version)
Morgen, oder irgendwann
Langsam, als wollten sie nie mehr loslassen, schlossen sich seine Finger mit festem Griff. Er schaute mit leerem, ziellosen Blick durch die kleinen Fensterscheiben hinter denen die trostlose, bergige Landschaft immer schneller vorbeizog, bis sie gleichsam schwerelos zurücksank und unter gnädigen, weißlichgrauen Wolkenschleiern verborgen wurde.
Die Maschine befand sich im rasenden Steigflug.
Weg hier, fort aus dem Dunkel der Trostlosigkeit, hinauf ins Licht...
„Du bekommst einen Preis“, hatte sie zu ihm am Telefon gesagt.
„Du hast etwas bewegt“.
Hatte er das wirklich?
Das Zeichen“Fasten Seat Belts“ erlosch und der silbrig glänzende Vogel flog nun waagerecht seinem fernen Ziel hinter der untergehenden Sonne entgegen. Er bestellte sich einen Whiskey und trank gierig.
Oh ja, er hatte etwas bewegen wollen, mit seiner Arbeit.
Statt dessen hatte sie ihn bewegt, und das auf eine Weise, die ihm das Heimkommen schier unmöglich machte.
Er schämte sich alleine schon für die Tatsache, dass er eine Heimat zum heimkehren hatte... da war ein Zuhause, trocken, warm, gemütlich, mit immer genügend Essen im Kühlschrank, einem großen Bett, Wein im Weinregal, vielen Büchern, einer Stereoanlage, einem Fernseher, einem Videogerät... das Gefühl der Scham und des Zweifels wurde nahezu unerträglich... konnte er dort jemals wieder heimisch werden?
Er wusste es nicht.
Tatsache war nur, dass er nun hier saß, Whiskey trank und nach Hause flog.
(Was und wo das auch immer sein mochte)
Am Flugplatz würden sie ihn alle abholen kommen, hatte sie gesagt.
Mutter, Irina seine Schwester, Grischa sein Bruder und Gracyna, seine Liebste. Würden sie ihn wiedererkennen? Als das, was er jetzt war, oder würden sie die Veränderungen in seinem Inneren nicht erkennen können?
Wären sie ihm so nah wie in seinen fiebrigen, unruhigen Träumen?
„Geh mit Gott, mein Kind, und kehre gesund wieder,“ hatte seine Mutter zum Abschied zu ihm gesagt.
Nun, nach fast drei Jahren, kehrte er zurück, äußerlich gesund, doch innerlich?
Er hatte mehr gesehen, als sie zuhause im Fernsehen von ihm sehen konnten. Viel mehr.
Für sie in der Heimat war jeder seiner Berichte ein Lebenszeichen von ihm, dem Korrespondenten aus Afghanistan.
Sie konnten ihn sehen, ihre Finger auf die kühle Mattscheibe des Fernsehers legen, sein Gesicht berühren und ihm so ein Stückchen näher sein.
Er hatte nur in das dunkel glänzende Kameraauge geschaut, sehr konzentriert auf seinen Text der zu sagen war, gefroren oder geschwitzt je nach Jahreszeit und sich nach Frieden gesehnt, durchdrungen von der Hoffnung ihn selber noch erleben zu können.
Als er geflogen war, damals, war er beseelt von der Idee, dass seine Arbeit, seine Bilder etwas würden bewirken können.
Weit war das nun weg von ihm.
Er hatte so viel erlebt und gesehen seitdem ... manchmal wollte er morgens die Augen nicht mehr öffnen.
Billy, der lustige Billy, mit dem blonden Lockenkopf und der typisch Amerikanischen Nickelbrille, der in seinen Armen starb, weil sie beide auf eigene Faust in die Berge gezogen waren, um „die Story“ zu machen, und Billy die verdammte Gasmaske vom Boden aufheben musste, unter der eine Mine versteckt war.
Die ungenannten, ungezählten Menschen, die er nur noch als unkenntliche Fragmente filmen konnte.
Die Kinder, mit ihren fiebrigen, ängstlichen, großen Augen, die immer die unausgesprochene Frage stellten, die ihn seitdem nicht mehr los lies.
Die Mädchen mit ihren kleinen Geschwistern im Arm. Die hohlwangigen Mütter mit ihren Babys an leeren Brüsten.
Kinder, die ihre Väter wohl niemals zu Gesicht bekommen würden, weil sie wahrscheinlich längst in irgend einer gottverlassenen Schlucht vor sich hinfaulten oder als Sieger im Blutrausch neue Kinder mit Frauen und Mädchen zeugten, ohne sich danach jemals um sie zu kümmern.
Siegesbeute und Kanonenfutter.
Sie hatten keine Vision mehr ... außer vielleicht der einen... Frieden!
Viele dieser Menschen werden sich nach ihm gesehnt haben, wie er, der nun im sicheren Flugzeug saß.
Viele werden diesen Traum verwünscht haben, die Krieger, die Warlords, die Händler des Todes, die grauen Eminenzen westlicher Unternehmen und Geheimdienste.
Für sie nämlich wäre der Frieden das Todesurteil ihrer fragwürdigen Existenz, denn der Frieden bräuchte sie nicht.
Sie wären nun gezwungen etwas neues zu lernen... Aufbau, statt Zerstörung ... aber sie würden sicher rasch lernen und auch daraus noch ein profitables Geschäft mit teurem Geld aus dem Ausland machen... Und sie würden stets satter sein, als die Masse der Namenlosen anderen.
Die Stewardess kam, er winkte, sie lächelte, er trank.
Er hatte versucht etwas zu bewirken ... mag sein, vielleicht war ein kleiner Teil dieses Friedens auch sein Verdienst, doch er vermochte das nicht zu glauben.
Er hatte nur versucht, unaussprechliches, unbegreifliches in Worte und Bilder zu verpacken, die in der satten, versicherten Welt Westeuropas gerade noch verstanden und ertragen werden konnten.
In ihm brannte heißer als je zuvor ein mächtiges Feuer.
Mit jedem Beitrag den er ablieferte, brannte es heißer und brannte ihn innerlich aus.
Er war zum Besessenen geworden.
Eine Maschine.
Ein Tier.
Er wusste nun sehr genau, was ein Leben hier draußen wert war, nämlich nichts.
Leben begann, Leben verging, so war das nun mal.
Hier war alles anders und doch auch wieder nicht.
Die Liebe war dieselbe, der Hass auch, die Mutlosigkeit, oder der Mut der Verzweiflung, die Hoffnung der Schmerz, die Freude... es war näher, hier, gegenwärtiger, endlicher und dadurch auch ... echter?
Sein Kopf wurde schwer.
Er sah Kinder lachen und laufen ... Explosionen ... die Kinder laufen immer noch ... sie rufen etwas ... laufen rufend vor ihm her... er kann nicht verstehen... Er läuft ihnen hinterher... quälend langsam...Seine Beine stecken in Brei... die Explosionen kommen näher ... er will warnen, die Kinder in Deckung schreien, aber er bekommt die verdammte Kamera nicht von seiner Schulter herunter, weg von seinem Auge ... er sieht, wie die Salven in Deckung liegen, die Kinder verschwinden im Rauch... er will schreien ... er bleibt stumm.
Sein Mund ist weit aufgerissen, eine klaffende Wunde in seinem Gesicht... sprachlos, tonlos, seine Augen blind von Tränen... das Auge der Menschheit an seine Schulter gekettet.
Dann wild wirbelnde, funkendurchleuchtete Schwärze und aus ihr auftauchend wie die Sonne, die gerade über den Bergen aufgeht, das Bild von warmem Wind über einem Tal in den Bergen und von jungen Burschen mit einer Kuhherde die sich lachend und scherzend auf die Bergweide begeben, mit Frühlingsblumen am Hut, die Taschen prall gefüllt mit köstlichem Mundvorrat.
Junge, hübsche Burschen, die sich fröhlich lachend noch einmal umdrehen und zu ihren Liebsten ins Tal hinunterwinken, bevor der nächste Bergrücken sie deren Blicken entzieht.
Und unten im Dorf wird alles seinen gewohnten Gang gehen.
Die Kinder werden in der Schulstube sitzen und sich mit Feuereifer auf ihre Aufgaben stürzen, denn sie wollen einmal etwas werden, in dieser Welt.
Die Mütter backen Brot und die alten Männer reparieren irgend etwas, vielleicht schnitzen sie dem Heurechen neue Zähne oder sie sitzen zusammen mit anderen Männern im Schatten unter dem großen Baum am Brunnen. Vielleicht schauen sie auch den Frauen beim Waschen zu, oder beim Backen am Dorfofen.
Vielleicht stehen sie auch vor dem Schuppen und hacken bedächtig Holz, oder sie sitzen einfach nur so da und erfreuen sich der Schöpfung Gottes an diesem friedlichen Frühsommertag ohne Gefahren.
Er sieht alles klar vor sich.
Er weiß selbst im Traum, dass dies sein nächstes, inneres Ziel sein wird, diesen Frieden, den auf der Welt keiner sehen will weil er keine Schlagzeile bringt, zu filmen und diese Bilder in alle Welt zu tragen.
So etwas wird nur Nachts gesendet, wenn alle schlafen, denkt er sich im Halbschlaf...
Vielleicht in irgend einem dritten Programm...
Aber er würde es tun.
Morgen, oder irgendwann...
10.12.2002
Arvid A. Pringsauf
(editiert am 06.06.// 13.10.03 )