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Morgendämmerung
Zwei Monate sind vergangen, seitdem Paul den Job an der Tankstelle angenommen hatte. Eigentlich wollte er gar nicht arbeiten, aber irgendwie musste er ja seine Wohnung bezahlen.
Wohnung. Wenn man seine zwanzig Quadratmeter im Keller eines Blockhauses überhaupt so nennen durfte. Es gab nur ein kleines Fenster, bei Regen lief an einigen Stellen Wasser von den Wänden und eine Heizung gab es nicht. Aber obwohl es November war, störten Paul die Temperaturen nicht, er war sowieso nur zum Schlafen hier.
Früher wohnte er in einem großen Anwesen, aber irgendwann kam ein Beamter von irgendeiner Behörde und erzählte ihm, dass er für das Land und das Gebäude Steuern zahlen müsse. Und renoviert werden müsse auch mal wieder, das Dach sei ja arg einsturzgefährdet. Da Paul aber kein Geld hatte, hatte ihm der freundliche Mann von der Behörde erzählt, dass er innerhalb von zwei Monaten ausziehen müsse, was er dann auch tat. Andere hätten sich über diesen Vorfall wahrscheinlich furchtbar aufgeregt, aber nicht Paul. Paul war müde.
Trotzdem machte er sich am nächsten Abend gleich auf die Suche nach einem Job.
Sein Chef hatte ihn sofort eingestellt, als Paul erzählt hatte, dass er nur nachts arbeiten wolle. Sonnenallergie, das verstehe er wohl, meinte der Tankstellenbesitzer, der eher aus Höflichkeit gefragt hatte, immer noch voller Freude, endlich jemanden für die unbeliebte Nachtschicht gefunden zu haben.
Es war jetzt schon 2 Uhr morgens, seit Beginn der Schicht vor vier Stunden waren erst etwa ein halbes Dutzend Kunden da.
Darunter war ein junges Paar. Zuerst drückten sich beide in der Zeitschriftenecke herum. Er blätterte in ein paar Heften herum, als sie anfing, ihn am Hals zu küssen. Schnell legte er die Zeitschriften wieder weg und umarmte seine Freundin, um ihre Liebkosungen zu erwidern. Die beiden schien kaum zu stören, dass noch jemand anwesend war. Aber auch Paul interessierte es kaum, was ein paar Meter von ihm entfernt geschah.
Nur für einen kurzen Augenblick sah man einen stechenden Schmerz in seinen Augen. Zu kurz, als dass es irgendwer hätte bemerken können. Der Grund für den Schmerz war eine Erinnerung, die in ihm hochkam. Eine Erinnerung an frühere Zeiten, als er jede Frau haben konnte, die er wollte. Überall, wo er hinkam, wurde er damals von den schönsten Mädchen umgarnt. Alle wollten ihr ganzes Leben mit ihm verbringen.
Schnell hatte er sich aber wieder im Griff und saß nun wieder genauso kerzengerade und steif auf seinem Stuhl wie immer. Die Erinnerung lag schon lange zurück. Und Paul war müde.
Kurz darauf kamen die beiden Verliebten zur Kasse, wo der junge Mann schüchtern zu einer Packung mit Kondomen griff und das Geld dafür passend über den Tresen schob. Schnell waren beide wieder verschwunden, nach draußen in die Dunkelheit.
Um diese Uhrzeit war die Arbeit immer einfach. Niemand redete mehr viel, alle wollten nur schnell tanken oder noch etwas einkaufen und wieder nach Hause. Zumindest unter der Woche. Am Wochenende hatte Paul des öfteren mit Betrunkenen aus der nahe gelegenen Disco zu kämpfen. Aber nicht heute, denn heute war Mittwoch.
Trotzdem saß Paul die ganze Zeit aufrecht auf seinem Stuhl hinter der Kasse, auch als der schwarze VW Golf schlingernd auf dem Hof der Tankstelle zum Stehen kam. Es dauerte ein paar Sekunden bis die Türen aufgingen und drei junge Männer ausstiegen. Alle dunkel gekleidet, passend zu ihrem Auto.
Paul sah, dass ein weiterer Mann am Steuer sitzen geblieben war, während die anderen nun den Shop erreichten. Die Tür glitt mit einem leisen Zischen auf und die drei verteilten sich in dem großen Raum, wo sich in den Regalen alles fand, was man für eine Reise benötigte, und noch vieles mehr. Einer der Männer kam direkt auf Paul zu und sah ihm mit finsterem Blick in die Augen.
„Opa, wenn Du nicht willst, dass Dir was passiert, gibst Du mir jetzt das ganze Geld aus Deiner Kasse!“
Aber Paul schaute nur ganz ruhig zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. Er reagiert auch nicht, als sein Gegenüber eine Waffe zog und ihm damit zwischen die Augen zielte.
„Bist Du taub, Alter? Ich will das Geld, jetzt sofort, oder ich niete Dich um!“
Die anderen beiden Männer im hinteren Teil des Ladens schauten von Sekunde zu Sekunde nervöser drein und Paul sah aus dem Augenwinkel, dass der im Auto verbliebene mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte und immer wieder auf seine Uhr sah.
Aber Paul bewegte sich keinen Zentimeter. Er saß immer noch auf seinem Stuhl, groß und schlank wie er war. Die Haut bleich, fast weiß. Auf dem Kopf hatte er kurz geschnittene, schwarze Haare, mit einem gräulichen Schimmer an einigen Stellen. Das Gesicht war so schmal, dass es schon fast grotesk in die Länge gezogen schien. Überhaupt wirkte alles an ihm zu lang. Auch die knochigen Finger, die aus den viel zu großen Händen wuchsen.
„Tom, wir sollten abhauen, der Typ ist mir nicht geheuer!“, rief der Mann an der Tür.
Der Angesprochene mit der Pistole in der Hand schaute nur einen Sekundenbruchteil herüber. Aber das reichte Paul, um über den Tresen zu greifen und Toms rechte Hand zu packen und herumzudrehen. Ein leises Knacken war zu hören, bevor dieser vor Schmerz schreiend die Waffe fallen ließ.
„Komm, weg hier!“, schrie der dritte Mann im Laden und lief mit seinem Kumpel zum Auto zurück, in dem sie dann mit quietschenden Reifen die Tankstelle verließen.
Nur Tom blieb zurück. Er schaute immer noch wimmernd auf seine gebrochene Hand, als er von einem starken Arm über den Tresen gezogen wurde. Vor Schmerz fiel ihm nicht einmal auf, dass dieser alte, klapprige Greis scheinbar mühelos seine 90 Kilogramm anhob. Mit einer Hand. Er merkte sogar erst, dass Paul sich zu ihm hinüber beugte, als dieser bereits mit dem Mund seinen Hals berührte.
Bis zum Feierabend um sechs Uhr, als Paul von einem Kollegen abgelöst wurde, kam kein Kunde mehr. Es war eine ruhige Nacht, die er dazu genutzt hatte, den Tankstellenladen sauber zu machen. Paul war müde.
Er machte sich auf den Heimweg. Die zwei Kilometer ging er jedes Mal zu Fuß. Ein Auto hatte er nicht und er mochte den Weg. Am Himmel stand hell der Vollmond und irgendwo heulte ein Hund in die Nacht hinaus.
Er wusste, dass er noch etwas Zeit hatte, also beschloss er, einen kleinen Abstecher auf den kleinen Hügel neben der Stadt zu machen, um die Nacht zu genießen.
Als er oben stand, kamen wieder die Erinnerungen. Erinnerungen an eine bessere Zeit.
Sein Leben hatte er komplett umgekrempelt, umkrempeln müssen. Selbst seinen Namen hatte er geändert, um nicht aufzufallen. Aber bei seinem richtigen Namen wurde er sowieso nie gerufen, nicht einmal von seiner Mutter. Dafür hatten alle zuviel Respekt vor ihm. Und Angst. Aber das war früher.
Paul dachte daran, dass er noch nie die Sonne gesehen hatte. Also beschloss er, hier auf dem Hügel zu warten bis zur Dämmerung.
Und dann sah er ihn, den ersten Sonnenaufgang seines Lebens.
Paul wusste, dass er nie wieder müde sein würde.