Morgendämmerung
Grau und kalt dämmerte der Morgen dahin. Er stand auf dem Balkon und blickte sich um. Eine triste Landschaft von Hinterhöfen erstreckte sich unter ihm, altes bröckelndes Mauerwerk, Kohlestaub und lehmiger Boden, auf dem sich die Wege abzeichneten, von Menschen die ihn täglich betraten. Postboten, der Milchmann, spielende Kinder. Und Väter; Väter die von der Schicht kamen. Männer mit schmutzigen und müden Gesichtern, Gesichtern wie Lehm. Sie schlurfen nach Hause, gebeugt von der harten Arbeit im Schacht, gebeugt von einem Leben, das sie sich so nicht vorgestellt hatten.
All das konnte er lesen, im Boden des Hinterhofes. Normalerweise wäre er, wie jeden anderen Morgen auch, entrüstet und angewidert von diesem Anblick wieder nach Drinnen gegangen. Rein in die Küche, die mit der behaglichen Wärme des knisternden Kachelofens eine andere Welt für ihn schuf. Keine richtige Heimat, nein, wer konnte schon von sich behaupten in dieser Gegend aus Schmutz, harter Arbeit, trüben Gedanken und verflogenen Träumen eine Heimat gefunden zu haben? Aber die Küche bot Wärme, Behaglichkeit. Sie bot den Duft von Kaffee am Morgen und den Geruch von schalem Zigartettenrauch und billigem Fusel am Abend.
Die Küche war eine andere Welt als die, die sich vor der Tür zum Balkon befand. Die Küche war stets erfüllt von Gesprächen, erfüllt vom Gelächter das auf zotige Sprüche folgte, erfüllt von der harten aber ehrlichen Zuneigung der Kumpel untereinander. In diesem Raum, mit den grün gekachelten Wänden, dem abgewetzten Linoleum und dem alten, verblichenen Mobiliar konnte man die Welt da draußen ausschließen. Wenigstens für ein paar Stunden. Konnte man die dunklen Schächte vergessen, den Dreck, den Lärm der Presslufthämmer, den Schmerz der sich verkrampfenden Muskeln und den Schweiß. Schon jetzt konnte er hören, wie in der Küche hinter ihm geschäftiges Treiben Einzug hielt.
Frau Müller, die gute Seele der Mietskaserne, war schon wach und bereitete das Frühstück für die Männer, die gleich auf Schicht mussten. Er konnte es riechen. Starker Kaffee wurde gebrüht, schwarz wie die dunkelsten Grubenschächte und heiß genug um einem die Seele zu wärmen, zumindest für ein paar Stunden. Eier wurden gekocht und Brote geschmiert. Frau Müller war wie eine Mutter für die Männer, die hier auf engstem Raum zusammen lebten. Sie kochte, sie putzte, sie hörte sich die Probleme der vermeintlich starken Kerle an, wenn die sorgsam nach außen errichtete Fassade einmal zu bröckeln drohte. Er liebte sie, so wie er es gewohnt war zu lieben; auf eine einfache und ehrliche Art, ohne große Worte und ohne Schnörkel.
Dennoch hoffte er inständig, sie würde heute Morgen nicht zu ihm auf den Balkon treten und ihn wie üblich fragen: „Na Robert, mein Kleiner, ein wunderschöner Morgen heute, nicht wahr? Willst du deinen Kaffee wie immer? Ach was frag ich, natürlich wie immer!“ und wenn sie besonders gute Laune hatte fügte sie oft noch scherzhaft hinzu: „Sag mal, die drei Fusseln da an deinem Kinn, soll das etwa ein Bart werden? Nee, nee die Kleinen werden so schnell flügge und schon sind sie aus dem Haus.“ Er mochte das, normalerweise.
Doch heute wollte er in Ruhe gelassen werden. Er wandte seinen Blick ab von der trostlosen Hinterhof-Fassade dem Horizont entgegen. Ist es denn jeden Morgen so still hier, fragte er sich. Vermutlich ja. Die Ruhe vor dem Sturm. Das tiefe Luftholen dieses Ungetüms namens Stadt, vor dem Sprunge. Dem Sprunge hinein in einen neuen bleiernen Tag. Doch heute machte Robert diese Ruhe nicht nervös, er war ganz entspannt. Kraftvoll atmete er ein und stieß seinen Atem stoßweise wieder aus. Kleine Dampfwolken bildeten sich und fügten sich irgendwie passend in sein Bild einer gerade entstandenen Idylle ein.
Die Luft schien auch nicht so bitter zu schmecken wie sonst. Am Rande der Stadt waren die ersten Streifen einer morgendlichen Röte zu erblicken und trotz der Kohleabgase, die sich während der Nacht wie eine graue Decke auf die noch schlafende Stadt gelegt hatten, wusste er, spürte er, dies würde ein guter Tag, ein schöner Tag, ein kraftvoller Tag werden. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Qualm dem neuen Tag entgegen. Beim Rauchen, sah er auf seine rauen, schwieligen Hände.
Unter seinen Fingernägeln saß der Schmutz der Grube. Kohlestaub, schwarz und zäh wie eine dunkle Nacht. Das Gold des industriellen Zeitalters, gefördert unter Schweiß und Schmerz der Kumpel, zum Wohle aller. Auch zu seinem eigenen? Er wusste es nicht. Alles was er wusste war, dass sie sich heute Nacht hatte streicheln lassen, von diesen müden rauen Händen mit dem Schmutz unter den Fingernägeln. Hatte sich nicht beschwert, nein sie hatte sich ihm entgegen gedrängt, ihn mit heißen Küssen bedeckt.
Er hatte ihren Atem ungleichmäßig, stoßweise, an seinem Hals gespürt. Und nun? Nun stand er hier, auf dem Balkon, rauchte und merkte wie der Schweiß der Nacht auf seinem freien Oberkörper in der kalten Morgenluft zu trocknen begann. Kein Schweiß aus der Grube, den man sofort abwaschen möchte. Ein Schweiß der nach Leben roch, nach Leidenschaft, nach Sehnsucht. Er tat einen letzten Zug an seiner Zigarette und drückte sie an der alten, rostigen Konservendose aus, die auf der Brüstung stand. Robert betrat die Küche und lächelte Frau Müller an: „Guten Morgen Hilde“, sagte er.
Sie lächelte strahlend zurück, kam auf ihn zu und kniff ihn in die Wange: „Na Robertchen, ich hoffe es war schön? Nee, nee die werden so schnell erwachsen die Kleinen!“ Robert wand sich gespielt verärgert, aber mit einem Lächeln auf den Lippen aus den Armen von Frau Müller und ging hinaus auf den Flur in Richtung seines Zimmers. Seine nackten Füße machten tapsende Laute auf dem kalten Fußboden. Vor seiner Zimmertür angekommen zögerte er, die Klinke aus abgegriffenem Messing nach unten zu drücken.
Was wenn es nur ein Traum war, dachte er. Leise öffnete er die Tür und der süßliche Geruch ihres Parfüms hieß ihn willkommen in dieser für ihn so neuen fremden Welt, die ihn so magisch anzog. Sie hob den Kopf und blinzelte ihn verschlafen an. Blondes Haar, dachte Robert, trat ein in sein Zimmer und ließ die Tür hinter sich sanft ins Schloss gleiten.