Morgenroutine
Staub schwebt in gleichförmiger Bewegung durch das schattige Zimmer. Durch die Löcher der abgewetzten Vorhänge fällt fahles Licht in dünnen Strichen. Wie eine Ahnung des Tages kommt es herein, setzt sich, abwartend, aber hartnäckig. Mit einem langsamen Blinzeln öffnet sie die dunklen Augen.
Sie weiß, es ist soweit.
Einen Atemzug lässt sie sich Zeit, dann schlägt sie die Decke mit dem verknüllten Innenleben zurück. Früher hat sie sorgfältig jeden Abend die Decke aufgeschüttelt, damit es sich überall gleich weich und warm anfühlt, doch sie weiß inzwischen, dass es die Mühe kaum wert ist und abends ist sie oft so müde. Manchmal tut sie es doch und dann bemüht sie sich, ganz still und unbewegt einzuschlafen, um diese Gefühl nicht zu verlieren. Zu Weihnachten hat Mama ihr einen Bettbezug mit einem Hund darauf geschenkt, einem Beagle. Wenn sie die Decke richtig gut schüttelt, sieht sein Gesicht ganz rund aus. Jetzt schaut er sie etwas zerknittert und besorgt an. Leise setzt sie die bloßen Füße auf den dunkelgrünen Teppichboden. Er ist schon seit ihrem Einzug hier und Mama sagt, er ist gut, denn dort sieht man die Flecken nicht so schnell. Stimmt auch.
Sie zieht die angelehnte Tür auf, gerade so, dass sie rausschlüpfen kann und bevor das Holz zu knarren beginnt.
Als erstes steuert sie aufs Bad zu. Das ist fast das Wichtigste. Mit dem Deckenlicht fängt auch immer gleich die Lüftung an zu pusten, aber es gibt ja noch das Spiegellicht, zu dem sie sich jetzt tastet. Noch bevor sie es erreicht, riecht sie im Dunkeln Mamas Parfum und ihr Waschmittel aus den Klamotten, die weich um ihre Füße streichen. Das Spiegellicht lässt ihr Gesicht immer etwas käsig aussehen. Zumindest hofft sie, dass es nur daran liegt. Sie greift nach der Plastikbürste und beginnt schnell und gründlich ihre Haare zu entwirren. Dick und etwas buschig wie sie sind, sind sie jeden Morgen verklettet. Sie hat es schon mit Zöpfen versucht, aber die haben sich um ihren Hals gelegt und sie ist oft aus Träumen aufgewacht, in denen sie zu ersticken drohte. Methodisch nimmst sie sich Strähne für Strähne vor und arbeitet von unten nach oben. Den ganzen Rücken fallen sie ihr herunter. Als sie fertig ist, streicht sie mit der Bürste noch einmal ein paar Haare gegeneinander und fährt mit ihren Händen durch, sodass sie fast wieder aussehen wie vorher. Dann die Wäsche in den großen Kunststoffbehälter. Die noch feuchten Handtücher über die Stange hängen.
Im Flur klaubt sie die leeren Flaschen auf, die noch stark nach Alkohol riechen, und räumt sie in den Schuhschrank. Es ist bald wieder so Zeit, zum Container zu gehen. Vielleicht dieses Mal der hinterm Rewe. Sie will nicht jedes Mal so auffallen. Ihr Blick fällt auf das kleine bemalte Tonschälchen auf dem schmalen Tisch. Sie zählt die Münzen. 1,30 €. Aus ihrer Jeansjacke zieht sie den bunten Stoffbeutel, er ist etwas schief bestickt. 4 € sind noch darin. In ihrer Hand liegen sie groß und schwer, in der Schale erkennt sie sie nicht mehr.
Ein leises Ticken aus der Küche erinnert sie daran, dass sie bald fertig sein muss. Sie huscht hinein und versucht nicht allzu stark einzuatmen. Schiebt die vergilbte Fenstergardine zur Seite. Der Filter von gestern liegt zusammengefaltet und nass in der Spüle. Sie schmeißt ihn in die Tüte, die am Nagel unter der Spüle hängt und wäscht die kleinen braunen Krümel den Abfluss hinunter. Mit dem Holzhocker erreicht sie die Schranktür, hinter der Filter, Pulver und ein Saftpäckchen stehen. Gestern hat sie den Saft fast vergessen, aber sie ist dann doch noch schnell zum Kiosk gerannt. Während der Kaffee leise vor sich hin blubbert und dampft, holt sie das Toast aus der Packung und lässt zwei Scheiben in den Toaster fallen. Stellt das Aluminiumtablett bereit, dazu die Butter und das Messer. Prüft die Milch im Kühlschrank. Zwar kauft sie inzwischen nur noch H-Milch, doch sogar die kann schlecht werden. Beim bloßen Gedanken spürt sie schon das schwere Schlucken und den Widerstand ihrer Zunge. Verärgert schüttelt sie den Gedanken ab und kramt die Pappschachtel hinter dem großen Kochtopf hervor. Holt die Schale heraus. Mamas Sonnenschein steht da in verschnörkelter roter Schrift am Boden. Schale auf die Fensterbank, Müsli daneben. Sie fährt etwas zusammen, als der Toaster hochspringt; an das Geräusch kann sie sich am dämmrigen Morgen nie so ganz gewöhnen. Das ist ihre Zeit. Auf der Straße rauschen schon die Autos und man hört die Rufe von der Baustelle, aber hier drinnen, da ist ihre Ruhe. Sie buttert den Toast von beiden Seiten, auch wenn das den Teller immer so verschmiert und das meiste daran kleben bleibt, aber sie weiß, irgendetwas davon wird bei Mama ankommen, darum geht es ja. Der Kaffee ist durchgelaufen. Sie gießt ihn in eine der schönen Tassen, die blaue mit den weißen Punkten. Ordnet Tasse, eine Zuckerschachtel und den Teller mit den Toasten auf dem Tablett an, dass es nicht so leicht rutschen kann. Legt noch den kleinen Teelöffel mit Mamas Initialen dazu.
Sie geht langsam, das Tablett balancierend, über den Flur und drückt mit ihrer Hüfte die Klinke runter. Klopfen bringt nichts, das weiß sie schon. Wenn die Flaschen im Flur liegen, ist Mama im Tiefschlaf. Das Zimmer liegt im Dunkeln, doch sie kennt ihren Weg. Die schwere Luft schläft ihr entgegen und sie widersteht dem Drang, sofort das Fenster aufzureißen. Stattdessen stellt sie das Frühstück auf den Nachttisch und knipst das kleine Licht an. Setzt sich auf die Bettkante und sinkt ein. Mama liegt auf der Seite, hat den Kopf in ihre Richtung gedreht. Die langen Haare liegen verdreht und in dicken Strähnen um ihren Kopf, lassen nur ein wenig das Gesicht frei. Selbst jetzt, im Schlaf, sieht sie unendlich müde aus. Tiefe Schatten liegen unter ihren Augen, die Haut wirkt matt, und die Falten treten in der Bewegungslosigkeit nur stärker hervor.
Aber es ist soweit.
Sie schüttelt Mama an der Schulter.
„Mama. Du musst aufstehen.“
Nur ihr Atem scheint aufzuwachen und sich aufzurichten.
„Mama.“ Noch einmal lauter. „Mama!“
Schwer ziehen sich die Lider hoch und geben helle, grüne Augen frei. Sie sehen noch etwas irritiert aus, die Realität ist noch nicht bei ihnen angekommen.
„Es ist Zeit aufzustehen, Mama. Ich hab dir Kaffee gemacht.“ Da zieht ein erstes verschwommenes Lächeln über Mamas Gesicht.
„Oh, Ava, meine Süße. Du hast mir wirklich Kaffee ans Bett gebracht?“ Ihre Stimmt klingt noch ganz heiser und verschlafen.
„Ja, Mama“
„Womit hab ich das nur verdient, hm? Womit hab ich dich Sonnenscheinchen bloß verdient?“
Mama wartet die Antwort gar nicht ab, sondern zieht sie lachend an sich und knufft sie liebevoll in die Seite.
„Komm, jetzt machen wir es uns so richtig gemütlich!“
Sie setzt sich auf und rutscht zur Seite. Ava klettert auf die Matratze und steckt die Beine unter die noch herrlich warme Bettdecke. Sie reicht Mama die heiße Tasse.
„Mhm, noch warm“, lächelt Mama. „Machst du ihn mir noch etwas süßer? Ja, drei Löffel, genau. Ah, perfekt!“
Seufzend nimmt sie einen Schluck, lehnt sich an das Kopfteil des Bettes und schließt die Augen. Eine Weile sagt sie gar nichts mehr und lässt das Koffein wirken. Dann schlägt sie die Augen blitzartig wieder auf und trinkt hastig und in kurzen, pustenden Schlucken den ganzen Kaffee auf einmal aus.
Währenddessen sitzt Ava einfach und spürt Mamas Anwesenheit. Als die Tasse leer ist, nimmt Ava sie aus Mama langen Fingern und tauscht sie geschickt gegen den Teller.
Mama stutzt kurz und lacht dann auf.
„Ha! So früh am Morgen schon Essen? Du willst mich doch mästen!“
Aber sie fängt schon an, die Brote in kleine Stück zu reißen und aufzuessen. Die letzten Bissen kaut sie lange und schluckt sie schwer herunter. Eine Weile blickt sie gedankenverloren an die Wand. Dann wirken ihre Augen plötzlich wacher und sie richtet sich auf.
„So, du Spätzchen, jetzt kümmer ich mich aber mal um dich, was?“
Mit einem Ruck schlägt sie die Bettdecke zur Seite und fegt alle Wärme weg. Sofort schwingt sie sich seitlich aus dem Bett und macht die ersten unsicheren Schritte. Dann aber rauscht sie regelrecht aus dem Zimmer. Einen Augenblick sieht Ava ihr nach. Dann folgt sie langsam. In der Küche hört sie Mama schon geschäftig lärmen. Als sie hineinkommt, sind die Gardinen zugezogen, das etwas zu gelbe Licht brennt und neben der Fensterbank steht eine volle Schale mit Müsli und ein kleines Päckchen Saft.
„Hier“, Mama gibt ihr die Schale mit einem erschöpften Lächeln, „hab's schon fertig für dich.“
Ava löffelt das Müsli an die Theke gelehnt, Mama geht zum Radio und lässt den Sender mit den Liedern ihrer Jugend laufen. Laut, bunt und fröhlich klingt das. Mama sieht jetzt auch etwas fröhlicher aus, wiegt sich hin und her und fängt dabei an, Geschirr in die Spüle zu räumen. Als Ava fertig gegessen und getrunken hat, stellt sie die leere Schale und ab und legt die Packung daneben.
„Ich räum das schon weg, Schätzchen, mach du dich schnell für die Schule fertig,“ sagt Mama über die Schulter.
Ava drückt ihr einen Kuss auf die weiche Wange. „Danke, Mama“
Dann geht sie in ihr Zimmer. Eigentlich ist ihr Rucksack schon gepackt, aber sie überprüft ihn zur Sicherheit noch einmal. Vor allem, weil sie heute ihren Deutschaufsatz abgeben muss, von dem sie sich eine gute Note erhofft. Mama freut sich eigentlich über alles, so lange sie bestanden hat und eine Drei kann ihr schon ein strahlendes Lächeln entlocken. Aber Ava will mehr. Die Schule interessiert es nämlich doch, ob da eine Drei oder eine Eins steht. Es gibt Kurse, in die man nicht einfach so reinkommt. Außerdem hat ihre Deutschlehrerin ihr gesagt, dass sie gut erzählen und mit Worten umgehen kann, auch wenn sie manchmal noch Fehler mit der Rechtschreibung macht. Aber diesmal hat sie sich viel Mühe gegeben und sogar Wörter recherchiert, bei denen sie sich nicht sicher war.
Der Aufsatz liegt gut im Rucksack verstaut und auch sonst scheint alles da zu sein. Noch schnell die Trinkflasche auffüllen, sonst hat sie wieder die ganze Zeit Durst. Ohne das Kleingeld aus dem kleinen Beutel kann sie sich in der Mensa nichts kaufen und aus dem Wasserhahn will sie nichts trinken. Das letzte Mal hat Clara sie schon so komisch angeguckt.
Jetzt hat sie alles.
Sie greift nach dem Rucksack und fühlt sie gleich etwas stärker. Er ist aus dunkelrotem Jeansstoff und ein Geschenk von Mama. Ava hat ihn im Schaufenster gesehen und war sofort begeistert. Sie hat ihn Mama gezeigt, aber nicht danach gefragt. So ein guter Rucksack ist teuer und Ava hat gleich am Preisschild gesehen, wie teuer. Mama und sie gehen eigentlich immer zu H&M oder so, manchmal auch zum Secondhandshop. Dann darf Ava auch mal drei Teile aussuchen. Aber der Rucksack hat mehr gekostet als drei T-Shirts zusammen. Also hat sie nichts gesagt, aber Mama hat gemerkt, dass sie ihn eigentlich haben wollte. Sie hat einen Moment auf den Rucksack gestarrt, dann „Ach, scheiß drauf“, gemurmelt und ist ohne weiter zu fragen mit Ava in den Laden marschiert. Sie hat sich ganz still verhalten, aber als sie ihn dann in der Hand hielt, hat sie Mama ganz stürmisch umarmt. Sie passt gut auf, dass er nicht schmutzig wird oder kaputt geht, denn dann wird es keinen neuen geben. Er ist schöner als die anderen in ihrer Klasse, die oft Pferde oder Sterne oder Autos haben.
Noch zehn Minuten.
Sie geht in den Flur und zieht Schuhe und Jacke an. Das muss so sein, vorher wird Mama nicht aus der Küche kommen.
„Mama, ich bin fertig!“, ruft sie laut. Mama blinzelt durch die Küchentür.
„Schön, mein Schatz. Aber warte mal, Deine Haare sind doch noch nicht fertig. Warte, ich mach das noch ganz schnell!“
Sie eilt ins Bad und erscheint wieder mit der Haarbürste. Mit ein paar Strichen liegen die Haare dick und glatt auf Avas Schultern.
„So! Ging doch ganz schnell“, lächelt Mama. „Früher hat das immer ewig gedauert.“ Sie lacht und gibt Ava einen Kuss auf die Wange.
„Jetzt aber ab, ich muss auch bald los. Tschüss, meine Süße!“ Und sie verschwindet in ihrem Schlafzimmer.
Einen Moment bleibt Ava noch vor dem Spiegel im Flur stehen und streicht sich durch die Spitzen. Mia hat ihr gestern erzählt, dass ihre Mutter ihr immer die Haare schneidet. Sie könnte das auch für Ava machen. Sie hat Mama nichts davon erzählt, aber doch darüber nachgedacht. Ein paar Wochen ist das her. Sie sieht in den Spiegel und stellt es sich vor.
Bald wird sie die Haare abschneiden.
Ganz bestimmt.
- Quellenangaben
- https://nacoa.de/fakten/kinder-von-alkoholikern