Morgensonne
I.
Herr Friedrich war nie ein begnadeter Trinker gewesen, doch an diesem Abend kippte er alles in sich hinein was ihm in den Sinn kam. Schließlich blieb er; nach zwei oder drei Kneipen; bei Whiskey on the rocks hängen, was seiner bescheidenen Meinung nach kein schlechter Drink für diese spezielle Art von Besäufnis war. Seine Brieftasche war prall gefüllt, er musste sich um Geld keine Gedanken machen, und so bestellte er Whiskey um Whiskey.
Doch egal in welcher Art von Etablissement er sich befand, überall wurde er nach kurzer Zeit höflich darum gebeten den Laden zu verlassen, obwohl er nur stumm am Tresen gesessen und getrunken hatte. Niemand nannte ihm einen Grund dafür und er wagte nicht zu fragen. Herr Friedrich dachte sich, dass den Betreibern wahrscheinlich unwohl war bei dem Gedanken, dass da jemand saß, der offensichtlich ein gewaltiges Problem hatte und versuchte es mit Alkohol zu betäuben. Jemand, der Unmengen von Hochprozentigem in sich hineinschüttet, aber dabei stumm, höflich und aufrecht auf seinem Hocker kleben bleibt, so einer musste einfach ein Problem haben. Wahrscheinlich sogar einen ganzen Kopf voller Probleme. Doch er war schließlich nicht der Einzige.
Es wunderte Herr Friedrich ja selbst, dass er nicht betrunkener wurde. Er konnte sich an Gelegenheiten erinnern, bei denen ihm nach zwei oder drei Bier sein Artikulationsvermögen und sein Gleichgewichtsgefühl vollständig abhanden gekommen waren und ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankam, konnte er trinken wie ein russischer Brombeerenpflücker. Also trank er weiter, stundenlang, in etlichen Bars, versuchte die Welt leerzutrinken. Auf einer Welle aus feinstem schottischen und irischen Whiskey versuchte er davonzugleiten.
Weg von der Erinnerung, sich selbst und der Welt die ihn umgab.
II.
Unmöglich zu sagen, wie lange er schon hier hing. Stunden, Tage, völlig gleichgültig. Es spielte für ihn keine Rolle mehr, denn das war das Ende. Gut fünfzig Meter unter ihm, zwischen spitzen, aschgrauen Felsen lauerte es, bereit sich seiner anzunehmen. Alles was zwischen ihm und seinem Ende lag, waren die erwähnten fünfzig Meter und ein undefinierbares Stück Holz, das hinter ihm gut einen Meter aus den Schiefersteinen emporragte. Es hatte seinen Sprung von der Klippe vorzeitig beendet.
Herr Friedrich hatte keine Erinnerung daran, was geschehen war. Er wusste nur, dass er das Kunststück fertiggebracht hatte, mit seinem Hemd, sogar mit seinem Unterhemd, an diesem Stück Holz oder Wurzel hängenzubleiben. Mit seinen über achtzig Kilo Körpergewicht hing er an diesem elend aussehenden Etwas und eine verworrene Ecke seines Verstandes freute sich, dass der Mann, der ihm das Hemd verkauft hatte, bezüglich der Qualität Recht behalten hatte.
Herr Friedrich war gerade wieder zu Bewusstsein gekommen und starrte in den Abgrund unter sich, auf die Felsen, die der Sonnenaufgang in ein fast romantisches Licht getaucht hatte. Er machte ein, trotz der unmöglichen Position in der er sich befand, zufriedenes Gesicht und begann ein Lied von den Doors zu pfeifen. Der Situation, in der er sich befand offenbar nicht recht bewusst.
III.
Zuvor, während der großen Sintflut, die aus Wodka, Tequila und vor allem Whiskey on the rocks bestanden hatte, da hatte es einen Moment gegeben, an dem Herr Friedrich nicht mehr hatte sterben wollte, was ja das eigentliche Ziel seines Besäufnisses dargestellt hatte.
Trotz der Tatsache, dass er völlig desillusioniert war, und ihn alles was er war und was er tat verzweifeln ließ, hatte er plötzlich weiterleben wollen. Da hatte es für ihn auch keine Rolle mehr gespielt, dass seine Frau mit einem US-Soldaten abgehauen war, einem kräftigen Schwarzen obendrein. Kurzzeitig hatte ihm die Vorstellung, dass seine Frau sich von seinem schwarzen Lümmel die Eingeweide rausvögeln ließ, nichts mehr ausgemacht. Auch seine missratene Berufswahl und die totale Verzweiflung die ihn jedes Mal überkam, wenn er die Tür zu seiner Klasse durchschritt, kümmerten ihn in diesem Moment nicht. Für eine kurze Zeit war er glücklich gewesen.
Von dem Moment an, als ihn die Wirkung des Alkohols vollkommen überrollt hatte, war er mit dem Smiling-Faces-Express von Depressivo nach Euphorika gefahren. Als einziger Passagier.
Nachdem er stundenlang nichts anderes gesagt hatte als: "Noch ein Whiskey", wandte er sich auf einmal seinen Nebenleuten zu, und begann sich angeregt zu unterhalten. Egal worüber. Es war ja nicht so, dass er für Smalltalk kein Talent besaß.
Es dauerte jedoch nicht lang und der Schaffner kam, er stolzierte auf langen, schönen Beinen auf ihn zu und sagte:
"Du gefällst mir."
Herr Friedrich musterte das weibliche Geschöpf, das vor ihm stand und gab ihr ein "Du gefällst mir auch" zurück.
Dann fragte die Frau ihn, ob er sie an einem der Tische näher kennenlernen wollte, was Herr Friedrich nur bejahen konnte. Er wollte Halleluja sagen und dem Himmel dafür danken, dass er einer Frau wie ihr gefiel. Sie sah aus wie eine Göttin, doch war definitiv ein Geschöpf der Nacht. Sie hätte Vampirzähne haben und bissig sein können, doch er war bereit dieses Risiko einzugehen. Sie erschien ihm ungezähmt und liebevoll zugleich. Sie hätte das sein können, wonach er schon ewig gesucht hatte, wie das lang verschwundene Teil eines fast kompletten Puzzles.
Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch in diesem trunkenen Moment, als er ihr sein Innerstes offenbarte, sie es dankend entgegennahm um ihm ihres zu geben, da war ihm als gäbe es so etwas wie das Schicksal. Als hätten alle diese Spinner recht, die behaupteten, dass das ganze Leben vorherbestimmt sei, von wem oder was auch immer. Für einen Moment war es ihm, als wäre das Leben wie ein Hollywoodfilm. Einer von den ganz schnulzigen und erfolgreichen.
Sie unterhielten sich und tranken, sie küssten sich und versanken in eine tiefe Vertrautheit. Tiefer als sie innerhalb einer so kurzen Zeit eigentlich hätte sein dürfen. Schließlich schlenderten die Beiden Hand in Hand durch die Dunkelheit. Durch die stern- und neonlichtgetränkte Luft einer trunkenen Nacht. Er spürte ihre Nähe und dass ihr diese Nähe gefiel. Er gab sich ihr mit Leib und Seele hin. Eine Ehre, die er seiner abgehauenen Frau selten, wenn nicht sogar nie, zuteil kommen gelassen hatte.
IV.
Schließlich erwachte Herr Friedrich vor grell erleuchteten Nachtclubs auf dem Bürgersteig. Die Frau, die sich ihm als Josy vorgestellt hatte, war verschwunden.
Er fühlte wie jemand, der etwas unaussprechlich Wichtiges, etwas was er befehligt worden war zu bewachen, aus eigener Schuld verloren hatte. Über eine Stunde lang lag er dort auf dem Bürgersteig, mit offenen, trüben Augen und ließ den Film der vergangenen Stunden in seinen Gedanken noch einmal vorüberziehen.
Schatten zogen an ihm vorbei. Unbedeutende Gestalten die ihn auslachten, anstießen, fragten und bemitleideten. Bis ein Schatten sein Interesse weckte. Es war Josy.
Sie ging in wenigen Metern Entfernung unbedarft an ihm, der auf dem kalten, nassen Asphalt lag, vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Ihre Aufmerksamkeit schien uneingeschränkt dem langhaarigen Mann an ihrer Seite zu gehören. Herr Friedrich wollte sie rufen, doch brachte keinen Ton heraus.
V.
Während er immer noch über dem Abgrund hing, zwischen Leben und Tod, erinnerte sich Herr Friedrich an diese Szene. Wie er mit einem stummen Schrei dieser Frau hinterher rief, sie solle zurückkommen und ihm helfen, und sie ihn ohne jegliche Regung zurückließ. Der Wunsch zu sterben kehrte in ihm mit heftiger Intensität zurück. Mit hilflosem Gezappel versuchte er die Barriere zwischen Leben und Tod zu überwinden, die sich ihm als morsches Stück Holz offenbarte.
Die Nüchternheit kehrte in ihn zurück, wie die Ebbe nach der Flut, und doch war er sich seiner abstrusen Situation noch immer nicht vollkommen bewusst.
Herr Friedrich schüttelte sich, versuchte hinter sich zu greifen um seine Kleidung abzustreifen. Er wollte nur noch fallen, fallen, fallen. Als er feststellte, dass er es nicht schaffen würde, fing er an zu weinen. Eine Träne für alles was jemals in seinem Leben schief gelaufen war. Er vergoss auch eine Träne für Josy, von der er immer noch glaubte, sie hätte wohlmöglich nur in seinem Verstand existiert.
Er fragte sich, was für ein kranker Hollywoodautor sich eine solche Geschichte hätte ausdenken können, doch ihm fiel darauf keine Antwort ein. Er vermutete, dass er selbst es war. Er wollte einfach aufhören zu denken, zu fühlen, zu sein, doch dass Leben hatte ihn noch immer fest im Griff. Es dauerte lange bis seine Tränen nachließen, doch als es vorbei war, ging es ihm trotz der grotesken Situation besser.
Er beschloss; auch weil ihm nichts anders übrig blieb; zu warten. Bis das Schicksal oder Gott, oder irgendein geisteskranker Hollywoodautor, ihn erlösen würde. Er wartete auf das erlösende Geräusch von knackendem Holz, oder reißender Baumwolle. Aber nichts geschah.
Er konnte die Sonne aufgehen sehen, über den Wäldern, die vor, beziehungsweise unter ihm lagen. Er fühlte sich bei diesem Anblick seltsamerweise frei, über den Dingen stehend und das nicht nur wegen der Höhe in der er hing, sondern weil er sich weder zu den Lebenden noch zu den Toten dazugehörig fühlte. Dieser Gedanke setzte eine Kettenreaktion in seinem Geist frei. Könnte er dieses Gefühl in sein echtes Leben hinüberretten, so wäre er endlich und wahrhaftig frei. Das war ihm absolut klar. Nichts könnte ihn dann mehr herunterziehen. Keine Perspektivlosigkeit, keine respektlosen, teils gewalttätigen Schüler, keine falschen Hoffnungen und erst recht keine Frauen, die solche Hoffnungen entstehen lassen. Wenn er diesen Gedanken herüberretten könnte, könnte er zusammengeschlagen, obdachlos und einsam, aber dennoch glücklich, in der Gosse verschimmeln, ohne zu verzweifeln. Dazu müsste er nur überleben.
In diesem Moment setzte etwas ein, was sogar in einem verkümmerten, verweichlichten Menschlein wie ihm die Urzeit überdauert hatte. Sein Überlebensinstinkt. Herr Friedrich atmete tief und langsam. In seinem Kopf entstanden und zerfielen die Optionen, die ihm zum Überleben blieben. Er könnte es schaffen. Er müsste sich nur seiner Kleidung entledigen, dann könnte er sich an dem Ast nach oben hangeln, von wo aus es nur noch zwei, oder drei Meter steiler Fels bis ganz nach oben waren.
Er griff nach hinten, bis er das Holzstück vollkommen umfasst hatte. Es schmerzte in seinen Schultern. Der Ast schien stabil, doch gerade als er sich daran nach oben ziehen wollte, ertönte das Geräusch, auf das er kurz zuvor noch gewartet hatte.
Der Ast brach kurz über seiner Wurzel und bevor Herr Friedrich reagieren konnte, stürzte er stumm in die Tiefe...
VI.
Mit der schizophrenen Gewissheit tot zu sein, öffnete Herr Friedrich die Augen und alles was er sehen konnte war Licht. Kein göttliches Licht, das erwartete er auch nicht, denn dafür waren die Schmerzen in seinen Gliedern und seinen Augen zu irdisch. Es war die gute alte Mutter Sonne, das Gestirn, von dem er einst gehofft hatte es nie wieder sehen zu müssen. Sie schien durch ein Fenster direkt auf seinen Kopf und Saxophonmusik drang gedämpft in seine Ohren. Er erkannte sogar das Lied. Es war What a wonderful world von Louis Armstrong, allerdings von einer Frau gesungen. Eine Version, die er zuvor noch nie gehört hatte.
Er lag zugedeckt und bis auf die Boxershorts ausgezogen in einem Bett, dass definitiv nicht seines war, und ebenso wenig der steinige Untergrund auf dem er seiner Meinung nach hätte liegen müssen. Der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase und weckte in ihm, trotz der angenehmen Assoziationen die er damit verband, ein Gefühl von Übelkeit. Neben ihm öffnete sich die Zimmertür einen Spalt und ein Kopf spähte hinein.
"Oh, du bist wach", sagte eine sanfte, weibliche Stimme.
Obwohl er wusste, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde, war er zu schwach und zu verwirrt um eine zu geben.
"Du warst gestern betrunkener, als ich gedacht habe. Du bist einfach umgekippt, als wir spazieren waren..."
Sie kam jetzt ganz in das Zimmer hinein. Es war die Frau, die sich ihm als Josy ins Gedächtnis gebrannt hatte. Sie war noch hübscher als in seiner Erinnerung. Sie sah ihn skeptisch an, dann lächelte sie.
"Scheiße, weißt du überhaupt noch wer ich bin?"
Herr Friedrich lächelte zurück, breit wie eine Haubitze. Manchmal, so dachte er, ist das Leben wirklich wie ein verdammter Hollywoodfilm.