Morphium
Mein Leben hat abgebremst. Hat sich beruhigend eingeengt, auf eine schäbige Wohnung mit drei Zimmern, in einer durchschnittlich großen Stadt Deutschlands. Unterscheidungen in den Regionen Deutschlands zu machen, ist wohl für jeden belanglos, dessen Augen einmal mit ansehen mussten, was ich gesehen habe. Gut und schlecht gibt es für mich nicht mehr, seit ich einmal in ein Extrem gefallen bin, welches alles vorherige relativiert hat. Ich bin Maximilian Neva. Ehemals Hauptgefreiter Neva. Afghanistan-Veteran. Ich bin einundzwanzig und mein Leben ist im Arsch.
Schwermütig hängen sich meine Blicke an den ruckelnden Bildern auf dem Monitor meines veralteten Computers auf. Meine Ohren vernehmen das gekünstelte Gestöhne der drittklassigen Darstellerin. Und meine rechte Hand waltet ihrem traurigen Handwerk. Ich hatte Recht behalten mit der Vermutung, dass mich der Einsatz verändern würde – er hatte meine verhassten Charaktereigenschaften noch tiefer in mir verankert. Wie Widerhaken hatten sie sich noch fester in das Fleisch meiner Wünsche gegraben, als ich sie mit Gewalt aus mir reißen wollte. Ich dachte, dass einen solche Erlebnisse mutiger machen – oder Widerstandsfähiger. In Wirklichkeit helfen sie einem nur dabei abzustumpfen und sich selbst zu vergessen, während die Probleme hinter der kalten Hülle weiterhin schwelen und nur darauf warten, sich in einer Explosion zu entladen.
Hier sitze ich nun also – Maximilian Neva – knapp mehr als ein Jahr nach meinem Abitur. Und nichts, aber auch überhaupt nichts scheint sich verändert zu haben. Ich habe noch immer Angst vor Menschen – besonders vor weiblichen – schaue mir noch immer billige Pornos an und meine rechte Hand – man muss dazu sagen, dass ich es auch mit links kann - spendet mir noch immer die einzige Form von Zuneigung, die ich wohl jemals kennen werde. Da hat es auch nichts genutzt, dass ich mir über ein Jahr eingeredet habe, ich sei teamfähig, sozial kompetent und stellenweise sogar eine Führungspersönlichkeit. Drauf geschissen – sobald man unter die Schale schaute, war da noch immer ich. Und das ist so erbärmlich, dass es mir die Tränen in die Augen treiben würde, wenn ich das Weinen nicht verlernt hätte.
Nein, da gibt es doch einige Dinge, die sich verändert haben. Es ist zwar so, dass mir dieses Leben vorkommt, wie ein zäher Brei aus zermahlenen Leichenresten, aber es gibt dennoch große Unterschiede, wenn man ein wenig unter der faulenden Oberfläche schabt. Gräbt man weiter nach innen, wird das Blut dickflüssiger und wärmer, die fressenden Käfer zahlreicher und fetter. Und sie beginnen, ihre Eier abzulegen – sich exponentiell zu reproduzieren. Alles in diesem Leben scheint sich für mich stets zu wiederholen. Es setzt lediglich andere Masken auf. Intensität variiert, aber das Prinzip bleibt ewig das gleiche.
Meine Aktionen begreife ich seit Langem nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es meine klaustrophobischen Gefühle geschafft haben, mich doch noch dazu zu veranlassen, meine kleine Zelle zu verlassen und meinen Weg in die Stadt zu nehmen. Als das orangefarbene Licht der massiven Straßenlaternen in meinen müden Augen ein wenig zu verschwimmen beginnt, setzt sich plötzlich ein Prozess in Bewegung. Die alte Straßenbahn mit ihrem einzigen Fahrgast – mir – lässt den Motor aufheulen und immer schneller ziehen die Blocks, Straßen und Scheinwerferpaare der Autos außen vorbei. Es gibt felsige Wüsten, Wüsten, in denen man vornehmlich Kies findet, Sandwüsten und Betonwüsten wie diese – das Prinzip bleibt immer gleich. Unkontrolliert überrollt mich meine Erinnerung. Meine schwarze Lederjacke färbt sich in ein Flecktarnmuster aus alternierenden Tönen von Ocker und Beige. Die glitzernden Perlen aus Wasser werden zu Staub und Sand. Der schwarze Himmel reißt auf und erstrahlt zu einer gleißend hellblauen Halbkugel. Ich sitze in einem offenen Jeep. Die Scheinwerfer wandeln sich zu den strahlenden dunkelhäutigen Gesichtern der Kinder, die aufgeregt darauf warten, dass ich endlich aussteige und Bonbons an sie verteile. Es ist wieder Ende Juni 2006 und es ist mein letzter Tag in Kabul, bevor ich mit einer kleinen Einheit nach Kandahar im Süden des Landes verlege. Der Bundestag hatte im Vorjahr beschlossen, dass deutsche Soldaten ab sofort nicht mehr ausschließlich im Norden Afghanistans agieren sollten. Nach Süden gehen allerdings trotzdem nur sehr wenige von uns. Die Warlords sind aggressiver, je näher man der pakistanischen Grenze im Osten und Südosten kommt. Kandahar gilt nach mehreren Bombenanschlägen in jüngster Zeit als besonders gefährlich. Doch das ist mir egal, denn ich tue etwas Richtiges. Das sagen mir die kleinen dunklen Hände, die sich zu mir empor strecken und die es verdient hätten, dass man eigentlich noch viel mehr hinein legt, als ein paar billige Bonbons. Aber Bonbons sind immerhin besser als alte russische Waffen - und Minen, die man als Spielzeug getarnt hat. Es ist mir egal, welche Flagge ich auf der Schulter trage und es ist mir egal, in welcher Sprache das helle Geschnatter der etlichen Kinderstimmen erklingt. Denn auch sie sind vom Prinzip her nichts anderes als deutsche Kinder. Und die Wichtigkeit meines Lebens wiegt somit federleicht gegen ihres. Das sagen mir meine euphorischen Gedanken dieses Augenblicks. Und ein lachendes Mädchen, das auf Krücken steht, da nur noch eines der zwei kleinen Beine in Gänze unter dem knielangen violetten Gewand zu sehen ist, lässt mich noch einmal fühlen, wie erbärmlich es doch ist, sich in meiner Situation schlecht zu fühlen. Angst um sein unnützes Leben zu haben.
Diese Theorien lasten schwer auf den Schultern eines kleinen Menschen wie mir – besonders wenn man in jeder Sekunde, in der die geblendeten Augen eine hastig agierende Gestalt zwischen den verfallenen oder zerbombten Bauten ausmachen, von zermürbender Todesangst geplagt wird und am liebsten weit weg rennen würde. Aber auch das konnte man nicht, denn früher oder später würde man auf eine Mine oder einen Blindgänger treten, der irgendwo unter dem Sand abseits der Wege verscharrt liegt. Man ist eingesperrt in der sengenden Weite. Ich fühle mich hilflos und ausgeliefert für die Interessen eines Landes kämpfend, das mich längst vergessen hat. Und nebenbei führe ich meinen persönlichen Gewissenskrieg – mit Bonbons und Lächeln. Mit Selbsthass und Angst. Mit dem Wunsch nach einem besseren Leben und der Gewissheit, dass ich dieses weder verdient habe, noch irgendwann bekommen werde.
Die Bahn bremst und unzählige Schritte stürmen auf die geschlossenen Türen zu. Der enge Innenraum ist restlos überfüllt und doch bin ich der einzige Mensch. Die flitzenden Phantome um mich herum scheinen sich auf einer anderen Wellenlänge zu Bewegen. Ihre Gehirnwellen eine niedrigere Frequenz und höhere Amplitude aufzuweisen. Sie erscheinen mir wie in einem kollektiven Traum – des Lebens nicht bewusst, weil sie die Wahrheit nicht ertragen könnten. Gemächlich schlendere ich hinter dem Pulk aus den Türen, bevor das Zischen der Hydraulik wieder einsetzt und den Ausgang hinter mir versperrt. Wie tausend Sonnen, die vergeblich gegen eine undurchdringliche Wand aus Dunkelheit anarbeiten, ziehen die Laternen erneut an mir vorbei. Wie aus Instinkt blicke ich mich jede halbe Minute einmal um. Als es das dritte Mal geschieht, wird die breite Straße zu einem Schotterweg in einem Randgebiet Kabuls.
Ich gehe ganz hinten in der Patrouille und muss darauf achten, dass sich niemand Gefährliches ungesehen nähert. Aber an diesem Abend habe ich keine Angst. Mein G36 hängt rechts an meinem Körper herunter – wir sind deeskalativ operierende Soldaten. Beschützer, keine Besatzer. Und wenn mich jemand umbringen will, so sage ich mir, würde es ihm auch gelingen, wenn ich das Gewehr die ganze Zeit über im Anschlag hätte. Ich ziehe mir den Hut tiefer ins Gesicht, um das blendende orangefarbene Licht abzuwehren, das sich wie Morgentau aus frischem Blut über die weite Wüstenfläche und die mürben Steine der Stadt legt.
Klimpernd biegt ein bunt verzierter LKW um eine Häuserkante direkt vor uns. Etliche Glocken und farbenfrohe Holzstiche sind an seinen Seiten angebracht. Man sieht diese verzierten »Jingle-Trucks« hier häufig. Oft nutzten sie Familien sogar als Wohnungen oder Händler als kleine fahrende Kaufhäuser. Afghanen sind ein seltsames Volk – dennoch auf eine eigene Art und Weise sehr faszinierend. Von der weiten Patrouillenstrecke mitgenommen, blicke ich dem papageienhaften Gefährt noch ein wenig hinterher, als unweit vor mir ein Schuss bricht. Und dann noch drei weitere. Die Zeit hält an und meine Gefühle werden schwarz. Als ich den Schrei des Gruppenführers höre, liege ich bereits flach auf dem Asphalt und krieche auf einen abgesprengten Stein einer Ruine rechts von mir zu. »Stellung!«
Beide meiner Augen sind weit aufgerissen und ich blicke durch das Reflexvisier meines G36, das auf die Straßenkreuzung vor uns gerichtet ist. Der rote Punkt vor meinem Sichtfeld zittert, bis ich mich dazu zwingen kann, das Gewehr ruhig zu halten. Mein Atem geht schwer und fast bemerke ich die wilden Gesten des stellvertretenden Gruppenführers nicht, der unweit vor mir in Stellung liegt. Er deutet mit dem Finger nach hinten und mein Herz macht einen Sprung. Wie konnte ich das vergessen? Der letzte Mann muss nach hinten sichern, verdammt! Ich reiße die Waffe herum und hocke mich in einem verfallenen Hauseingang ab, so dass mein Körper halb verdeckt wird. Angestrengt blicke ich die Straße vor mir hinab und lehne mich ein wenig weiter hinaus. Aus einer engen Seitenstraße lugt noch immer die Ladefläche des bunten »Jingle-Trucks« hervor. Ich kneife die Augen zusammen, um genauer hinsehen zu können. Als ich von einem Mündungsfeuer geblendet werde und aus dem Stein vor mir sandfarbener Staub empor spritzt, springt die Zeit erneut.
Ich liege mit den Händen vor meinem Gesicht auf der Seite und ziehe meine Beine in den Eingang nach, als mehrere Kugeln auf Stein und Asphalt klatschen.
»Schütze zwölf, Feind gesichtet!« Mein Schrei ist erstickt und heiser. »Es ist der scheiß Laster!«
Hämmernde Erleichterung schneidet fast ohne Verzögerung durch die glühende Abendluft. Hauptgefreiter Armenis schleudert eine donnernde Salve nach der Anderen aus dem Maschinengewehr. Das MG3 stößt seinen tosenden Vernichtungsruf aus. Danach drückende Stille. Viele Herzschläge pumpen benebelnde Mengen von Adrenalin in meinen erschöpften Körper. Ein Feuerstoß zerreißt die Spannung. Kalaschnikov, unverkennbar. Ein Schrei. Ein Hilfeschrei! Nein, ich kenne diese Stimme! Sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass ich nicht in einem zersprengten Haus in Kabul liege!
»Überfall von vorn!,« brüllt der Gruppenführer durch den tosenden Lärm. »Den Verletzten in Deckung! Neva, hol' ihn zu dir! MG und hintere Halbgruppe, Sperrfeuer auf Truck – sechs Uhr – Rest, Sperrfeuer auf Jeep – zwölf Uhr! Feuer!«
Am Boden klebend gleite ich in den Feuertanz hinaus, während Armenis Schüsse über mich hinweg fegen. Der stellvertretende Gruppenführer liegt noch immer in seiner alten Deckung. Nach hinten fast vollständig offen. Jetzt bin ich dran, sein Leben zu retten. Als ich ihn berühre, öffnet er die Augen. »Ruhig,« sage ich mit zitternder Stimme. Ich bezweifle, dass er es bei dem Getrommel der Waffen überhaupt versteht.
Aus seiner Schulter, seinem rechten Bein und dem rechten Oberarm färbt Blut aus mehreren Einschusslöchern die sandfarbene Kleidung schwärzlich rot. Der beigefarbene ISAF-Aufnäher am Oberarm hängt in Fetzen herab. In einem Moment der Panik drehe ich den Kopf nach hinten. Armenis muss nachladen! Warum schießt keiner mehr? »Schießt – verdammt, Schießt!« Mein Schreien klingt, als habe jemand meine Kehle durchgeschnitten.
Schon blitzt es wieder und ein Stein hinter mir splittert. Ich reiße die Waffe nach oben, stelle den Sicherungshebel zwei Stufen nach unten und gebe drei kurze Feuerstöße ab. Bitte, lass mich das Schwein erwischt haben! Bitte.
Ich packe den verwundeten Unteroffizier und mir wird klar, dass ich zu langsam bin, wenn ich ihn schleife. Ein Schuss schlägt neben mir ein. Wenn ich ihn schleife, kriegen sie uns beide. Mit dem Bewusstsein, dass es mein letzter sein könnte, nehme ich einen tiefen Atemzug und hieve den Mann auf meine Schultern. Die Schüsse aus dem MG jagen rechts an mir vorbei, als ich, eng an die Hauswand gepresst, auf die Deckung zu hechte. Stürze, und erleichtert in der Sicherheit versinke. Er atmet noch, Gott sei dank, er atmet noch! Ich taste meine rechte Schulter, die vor Blut trieft. Streifschuss. Ich bemerke keinen Schmerz wegen des Schocks. Und als ich erneut den Schrei einer bekannten Stimme vernehme, hält die Zeit ein weiteres Mal an. Ich bemerke nur noch, wie meine Hand ein neues Magazin aus einer Tasche an meinem Tragegestell reißt und es gegen das halb leere in der Waffe tauscht. Was tue ich hier nur? Ich trete die Eingangstür vor mir ein und renne los in das Labyrinth aus Sandstein und Dreck. Krieche durch Fenster und enge Gassen. Grob den Standort des Lkws anpeilen ist mein einziges Ziel.
Mich zu immer neuen Höchstleistungen anspornend, hechte ich über eine Nebenstraße. An den Seiten liegen in blauem Stoff vermummte Frauen und kleine Kinder kauernd in Deckung, oder flüchten wuselnd in die Häuser. Niemand würdigt mich eines Blickes. Es gibt auch keine Schreie. Als würde es mir Sicherheit geben, umklammere ich das Griffstück und den Handschutz des G36 noch fester. Das rhythmische Aufschlagen meiner rennenden Füße auf dem Schotter hypnotisiert mich fast und die Stresshormone bringen mich beinahe um den Verstand. Und dann biege ich um die Kreuzung und sehe den gottverdammten Truck direkt vor mir. Der rote Punkt des Reflexvisiers tastet die Scheibe des Fahrerhauses ab. Kein Fahrer, sie müssen alle auf der Ladefläche sein! Kugeln schlagen auf das Gefährt und ich vernehme einen metallischen Klang. Sie müssen das Ding gepanzert haben!
Dann taucht doch eine Gestalt mit weißem Turban hinter dem Lenkrad auf. Eine Pistole liegt in seiner Hand und der rote Punkt meines Reflexvisiers ruht auf seiner Stirn. Er ist zu langsam, obwohl er mich bemerkt.
Ohne zu zögern krümmt mein Finger ab und der bärtige Mann sinkt getroffen in sich zusammen. Ich stürme an den Truck heran und reiße die Tür an dem verzierten Griff auf. Die Häuser stehen so eng zusammen, dass ich sie nicht vollends öffnen kann. Voller Schrecken spüre ich, wie mein Herz aufhören möchte zu schlagen. In der linken Hand der Leiche liegt eine Handgranate, deren schwarzes Metall mit einigen feinen Blutspritzern gesprenkelt ist. Für Bruchteile einer Sekunde bin ich paralysiert und stelle mich darauf ein zu sterben. Es ist vorbei. Mein Leben endet. Ich schließe meine Augen, weil ich die Angst nicht ertragen kann. Noch ein kurzes Blinzeln. Der Ring steckt noch! Jede Ader in meinem Körper entspannt sich, als ich erleichtert ausatme. Ich klettere zu dem Toten hinauf und schubse den Körper angewidert um. Entschlossen packe ich zu.
Fremdländische Stimmen dringen von der Ladefläche zu mir durch. Eine Salve unseres Maschinengewehres rüttelt donnernd am Laster. Ich sehe eine Luke, die sich aufziehen lässt und nach hinten führt. Ich atme einmal tief durch, um meine zitternden Glieder unter Kontrolle zu bringen. Nur noch ein Moment Konzentration! Bitte, lass mich die Besinnung behalten. Ich ziehe den Ring der Granate und presse den Bügel fest an das Metall. Meine Finger sind fast blutleer. Noch einmal atmen. Ich reiße die hölzerne Luke auf und erkenne prompt zwei Gestalten, die ihre Gewehre durch enge Schießscharten gesteckt haben. Blitzschnell versenke ich die Granate und höre noch, wie der Bügel abspringt. Im Hinausstürzen ziehe ich die Luke wieder zu. Meine Stiefel berühren den rissigen Asphalt und ich hechte hinter die nächste Biegung. Presse mich ganz fest gegen eine schmutzige Wand. Die verkrampften Hände legen sich an meine Ohren. Danach nur noch eine Explosion, die alles um mich herum hinweg fegt. Mein Geist fliegt mit ihr ins Nichts hinaus.
Und schwimmend findet sich die nahende Nacht hinter meinen tränenden Augen erneut zusammen. Das Gewehr hängt haltlos am Trageriemen an mir herab; meine Hände heften sich an den pochenden Schädel, der vor tobenden Gedanken fast berstet. Ich ruhe heulend auf meinen Knien. Ich habe getötet. Ich wäre fast selbst tot. Die Schulter schmerzt so entsetzlich, verströmt klebrig flüssige Wärme auf der ganzen Körperhälfte. Und alles bremst ab und wird wieder erdrückend leer. Deutschlands Regen rinnt über meine Wangen und die Gestalten der anstürmenden Kameraden werden zu Unbekannten. Zu Personen, die ersetzbar sind, wie mathematische Variablen in einem Meer pervers präziser Gleichungssysteme, das wir Realität nennen. Das Blut an meiner Schulter wird zu eisigem Wasser.
Ich fließe durch ein Heer von Geistern. Niemand dieser betäubten Zombies scheint sich des Todes jemals bewusst gewesen zu sein. Man verleugnet, ihn zu sehen, wie er jede Sekunde des Lebens jagt und nur darauf wartet, endlich zuzuschlagen. Das bedeutet Leben. Lebensqualität. Und ich wünsche mich ganz tief in diese verblendete Narkose hinein. Aber ich kann es nicht. Wer einmal überleben musste, kommt mit dem einfachen Leben nur schwer zurecht. Aber das war bei mir wohl schon immer der Fall gewesen.
Stumpf dringt der Klang einer nahen Diskothek an mein Ohr. Die tiefen Bässe sind wie ein Mantra. Wie ein Bote aus scheinbar längst vergangenen Zeiten. Ich möchte in meiner Vergangenheit wühlen und ganz tief ins Vergessen stürzen. In der Ferne erkenne ich das blonde Mädchen aus Kandahar, wie es mir zuwinkt, um die nächste Biegung zu treten und der Schar junger Erwachsener zu folgen, die um mich her schwirren.
Dieser Abend ist anders als die Vorherigen. »Die Verletzung ist nicht schlimm,« hatte der Stabsarzt zu der Wunde an meiner Schulter bemerkt. »In spätestens drei Tagen spüren sie gar nichts mehr, Hauptgefreiter.«
Man musste sich mit diesen Dingen zufrieden geben. Ärzte bei der Bundeswehr pflegen Salben zu geben, wenn man einen Bänderriss vorzuweisen hat und bei Rückenschmerzen gilt man so lange als Simulant, bis einen die Schmerzen – oder das zertrennte Rückenmark - fällen. Ich danke dem Schicksal, dass ich in meiner Dienstzeit noch nie mit stärkeren Verletzungen oder Krankheiten zu kämpfen hatte. Schwermütig denke ich an den angeschossenen Unteroffizier. Man wird ihm Ruhezeit gönnen, ihn wieder auf die Beine bringen. Aber von seinem Schicksal wird doch niemals jemand erfahren. Es ist lachhaft, wie wenig Ereignisse an die Medien dringen. Vielleicht lässt es die Regierung nicht zu – vielleicht möchte das Volk aber im Moment auch einfach keine Artikel über verwundete Soldaten lesen und man muss sich das Einkommen mit marktfreundlicheren Themen sichern. Die denken noch immer, Afghanistan sei relativ ruhig. Für mich jedenfalls war das heute schon das dritte Feuergefecht in dieser Woche – wenn auch das schlimmste bisher. Der erste Hinterhalt, den ich erlebt habe.
Aber ich bin Fallschirmjäger – und ich habe das abzukönnen. Bla, bla, bla. Mit großer Hoffnung, einmal eine Nacht zu überstehen, ohne von Projektilen geweckt zu werden, die an die Außenwand der Unterkunft prallen, falle ich in einen unruhigen Schlaf. Und meine Hoffnung wird nicht erfüllt. Weil ich nicht schlafen kann, nehme ich mir eines meiner Bücher über Psychologie aus meinem Marschrucksack. Ich lese über soziale Phobien, wie sie entstehen und wie man sie therapiert. Ein wenig unnütze Intellektualität, die einen in eine Welt reißt, in der man sich mit scheinbaren Nichtigkeiten herum schlägt. Aber besser eine solche Welt, als Kabul. Als ich einige Kapitel gelesen habe, nehme ich mir ein anderes Buch über Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie. Ein Kapitel über imaginär kreierte Personen weckt mein Interesse. Mein persönlicher Krieg geht weiter, während hinter den Metallwänden ein realer zu eskalieren beginnt.
Zwei Mädchen stellen sich neben mir an die Bar und ich möchte einen großen Schluck aus meinem Glas mit Whiskey-Cola nehmen. Kalter Schweiß bricht aus meinen Handflächen und meine Finger werden zu dünnen Zweigen, die im Wind zappeln. Ich schaffe es einigermaßen, doch ein feiner schwarzer Bach rinnt mein Kinn hinab. Gerade so stoppt ihn meine andere Hand und wischt ihn fort, ehe er mein weißes Shirt erreicht.
Voller Panik blicke ich in die Runde. Gott sei dank, niemand hat es bemerkt. Eines der Mädchen hat glattes schwarzes Haar, das bläulich glänzt und die andere trägt schulterlange Kastanienbraune Locken. Ihre Hautengen weißen Oberteile geben unmissverständliche Hinweise auf das, was unter ihnen liegt. Und ich komme mir vor wie ein Perverser, wenn ich sie so mit meinen flüchtigen Blicken anstarre. Sie stehen auf und schlendern hinüber zur Tanzfläche. Wegen mir? Bin ich schuld? Ich stürze das widerwärtige schwarze Gesöff meine Kehle hinab und bestelle gleich noch einen. Ich möchte meinen Kopf heben und den Mädchen nachsehen, aber ich habe zu viel Angst.
Schließlich traue ich mich doch und fahre zusammen. Das blonde Mädchen aus Afghanistan sitzt an einem Tisch auf der anderen Seite des großen dunklen Saales, den nur die tanzenden bunten Lichter erhellen. Wie damals in meiner letzten Nacht in Kabul kann ich sie nur ganz flüchtig ausmachen.
Sie macht mir Angst und ich klappe das Buch zu. Ich möchte mich wieder hinlegen, oder irgendetwas tun. Ich weiß, dass ich den Verstand verliere. Wie soll ich nur die nächsten sechs Wochen dieses Einsatzes durchstehen? Ich schwitze, obwohl ich mich längst an die Hitze gewöhnt haben sollte. Ich habe immer geglaubt, an dieser Erfahrung zu wachsen, aber mehr und mehr wird mir klar, dass Krieg einen niemals wachsen lässt. Er ist zerstörerisch bis in die letzte Kapillare des Körpers. Und morgen geht es nach Kandahar.
Der Tod ist zu einer unausweichlichen Option geworden. Aber ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass dies schon immer so war und dass ich vielleicht gerade jetzt mit meinem Auto gegen einen Baum fahren könnte, wenn ich in Deutschland geblieben wäre. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass diese momentan noch relativ ermunternde Erkenntnis niemals mehr von mir gehen wird – auch wenn ich überlebe. Ich bin kein lebender Mensch mehr. Das Leben ist auf ewig anders für mich – von jetzt an. Ich habe getötet. Und ich habe etwas in mir zerschnitten. Alles fühlt sich so leer an – nur noch weiter existieren. Nur noch weiter leben – das ist alles, was jetzt zählt. Was sind Träume und Wünsche? Was Ziele und Anforderungen an einen selbst, wenn der Tod ausholt, um einen zu packen? Mein altes Leben treibt fort ins Nichts – zusammen mit Kunst, Träumen und Zukunft. Es ist nur noch der animalische Teil hier, der den Laster mit den Anhängern des Warlords ausgeräumt hat, um nicht selbst zu verrecken. Diese Kopfschmerzen, sie bringen mich fast um!
Als ich schlaflos durch das Lager streife, spüre ich, wie sie mir nachgeht. Sie versteckt sich bei den Unterkünften. Es macht mir Angst, dass sie beginnt, mich nervös zu machen. Das denkbar Schlechteste in einer solchen Situation ist es, Kontakt mit den imaginären Personen aufzunehmen. Sie noch realer werden zu lassen. Das sagten zumindest die Bücher. Sie existiert nicht, sage ich immer wieder in Gedanken. Sie existiert nicht. Sie ist nicht real. Waren das Schritte dort hinten in der Dunkelheit? Nein, es gibt sie nicht. Versteckt sich dort jemand am Zaun? Sie ist nicht da. Sie ist nicht real. »Sie ist nicht real,« flüstere ich schließlich und fahre dabei zusammen, weil ich spüre, wie es durch meine Stimme immer mehr an Kraft gewinnt.
»Schön, dass du auch sprechen kannst,« sagt eine weiche Mädchenstimme hinter mir.
Als ich herum fahre, stolpere ich vor Schreck über die eigenen Füße und stürze fast. Doch sie hält mich an den Armen. Ich ersticke einen Schrei, weil sie die Wunde berührt, die der Streifschuss verursacht hat.
So viele Eindrücke. Ihre blonden Locken wehen im Abendwind und tragen mir den Geruch ihres Haarwaschmittels zu. Kokos. Ich weiche zurück, als sie mein Gesicht berühren will und ziehe meine Hand aus ihrem sanften Griff. In ihren wässrigen blauen Augen liegt ein trauriger Blick.
»Warum hast du mich weg geschickt?,« fragt sie und möchte wieder auf mich zu treten.
Aus Reflex möchte ich sie zurück halten, doch meine Hände zucken vor der Berührung zurück. Nervös beginne ich zu stammeln: »Halt die Klappe, du existierst nicht. Geh weg! Hau ab!«
Die letzten Worte hätte ich beinahe geschrien, wenn nicht noch ein letzter Rest Selbstbeherrschung in mir gewesen wäre.
»Aber wohin?,« fragt sie. »Ich gehöre doch hier hin. An deine Seite.«
Ich halte meine Augen zu und genieße für einige Sekunden die Schwärze. Mit Entsetzen muss ich feststellen, wie ihre weichen Finger an meine Hände greifen und meine Augen entblößen. Die Angst wird immer größer. Tränen fließen über meine glühenden Wangen. »Du gehörst nirgendwo hin. Du bist nur die Ausgeburt meiner kranken Phan ... « Ihre Hand erstickt meine Worte.
»Shhh,« flüstert sie. »Ehe uns noch die Wache hört.«
Ich bin unfähig, mich zu bewegen. Von den Stellen, an denen sie mich berührt, geht eine lähmende heiße Kraft aus. Ich bemerke, wie sie durch meinen Körper kriecht, in Herz, Bauchmuskeln, Arme und Beine, Finger und Zehen. Nur vor meinem Gehirn scheint es halt zu machen. Plötzlich formen sich ihre vollen Lippen zu einem Lächeln.
»Ich helfe dir. Bitte schick mich dieses Mal nicht wieder weg,« sagt sie. Meine Panik steigt in ungeahnte Höhen. Es ist, als würde ich an einem rissigen Seil aus dem oberen Stock eines Wolkenkratzers hängen. Der Schwindel lässt mich fast Ohnmächtig werden. Der Boden rast auf mich zu, als ihr Kopf immer näher an meinen rückt. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um mein Gesicht zu erreichen. Ihre spüre ihre festen Brüste an meinem Oberkörper. Und ihren Herzschlag, der sich auf seltsame Weise an meinen angleicht. Wie eine synchronisation. Sie atmet schwer. Ihre Haare scheinen mich zu umklammern, als ich die flüchtige Berührung ihrer weichen Lippen spüre. Und dann ist sie spurlos verschwunden.
In der rechten Hälfte meines Kopfes entlädt sich eine Explosion elektrisierender unfassbarer Gedankenströme. Die Tränen fließen immer schneller. Es ist, als habe ein Nervengas meine Tränendrüsen zur Überreaktion gebracht. Haben Terroristen das Zeug hier rein geschossen? Nein, Unsinn! Was geschieht nur mit mir? Hastig suche ich die beißend stinkenden Toilettenhäuser und schließe mich in eine der Kabinen ein. Wimmernd stütze ich beide Arme an die engen klebrigen Wände, um nicht zusammen zu sacken. Und ich weine so sehr, dass mir das T-Shirt bald wie durchnässt vorkommt. Ich bin unfähig, den Fluss zu stoppen. Es fühlt sich fast so an, wie das Erbrechen nach zu viel Alkohol. Die Tränen kommen mir schwarz vor. Schwarz und zäh. Ein wenig wie Scheiße, die man mit kaltem Blut und Fett vermischt hat. Der Körper presst auch den letzten Rest der salzigen Flüssigkeit heraus, ehe er mich endlich Ruhe finden lässt.
Ich atme noch immer schnell, aber beruhige mich mehr und mehr. Mit zögernden Schritten gehe ich hinaus in die Nacht und lausche dem Wind. Sehe zu den Sternen und bekomme Lust, einmal wieder ein Gedicht zu schreiben. Oder sowas in der Art. Meine Kopfschmerzen sind verschwunden und obwohl ich noch immer das entfernte Donnern von Schüssen höre, kriecht erleichternde Müdigkeit an mir empor. So fühlt es sich also an, wenn man langsam durchdreht. Meine Schritte kommen mir fast schwebend vor, als ich zu den Unterkünften zurück gehe.
Ich schlendere hinüber zur Tanzfläche und gliedere mich in den Pulk vergnügter Leute ein. Der Alkohol hält meine Angst nieder, so lange ich die Augen die meiste Zeit über geschlossen halte. Die Technobeats heben mich in eine Trance, die mich wieder die Zeit vergessen lässt. Ich scheine eins mit dem Jungen zu sein, der vor etwas mehr als einem Jahr zur Armee gegangen ist. Es fühlt sich an, wie in einem Traum zu schweben. Warum ist das alles nur so unecht? Mir ist es egal, so lange diese verdammte Angst weg bleibt. Ich muss handeln.
Während ich versuche, in meinen Bewegungen den Takt aufzugreifen, lasse ich meinen Blick um mich herum schweifen. Setze ein Lächeln auf. Ich spüre einen glühenden Griff an meiner rechten Hand und reiße verschreckt den Kopf herum. »Genau so. So funktioniert es.« Das blonde Mädchen entblößt die perfekten weißen Zähne. Sie verblasst, als sich ihre Lider schließen. Doch ein Echohall dröhnt in meinem Kopf nach. »Es ist nicht so wie damals. Ich verstehe dich.«
Ich bemerke fast nicht, wie die grünen Augen eines dunkelhaarigen Mädchens meinen Blick aufgreifen, der noch immer nach rechts ausschweift. Sie sieht mich an! Prickelnd explodiert das Adrenalin unter meinem Brustkorb. Doch ich schaffe es, zurück zu lächeln. Ich habe alles Unter Kontrolle. Nur warum? Das Technolied erreicht eine ruhige Stelle und die Tanzfläche wird von hellen Scheinwerfern erleuchtet.
Meine Augenlider kneifen sich wegen des blendenden Lichtes zusammen. Ich sitze auf einer weiten Ebene, deren staubiger Boden nur vereinzelt mit trockenem Gras bewachsen ist. In der Ferne zeichnen sich Berge ab. Alles hier trägt den gleichen gräulich-weißen Farbton. Hinter mir erklingt das Lachen einiger scherzender Kameraden. Die Meisten von uns nutzen jedoch die Gelegenheit, einmal zu entspannen und für sich allein zu sein. Wir sind auf einer Langstreckenpatrouille in die Berge unterwegs – machen gerade eine Pause. Unsere Fahrzeuge stehen unweit hinter uns auf einem Schotterweg, der sich nur schwer als Straße bezeichnen lässt. Es sind zwei normale offene Jeeps und ein Gepanzerter. Zwei Wölfe, ein Dingo. Ich bin froh, in dem Dingo mitfahren zu dürfen, da er Schutz gegen Projektile und sogar Minen bieten soll – obwohl ich dies auch nicht gerne testen würde. Sie sind über und über mit ISAF-Abzeichen beklebt und ein kleines Schwarz-Rot-Goldenes Fähnchen wurde an einer langen dünnen Stange auf jedes Fahrzeug geschraubt. Wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass einen die rivalisierenden Gruppen nicht aus versehen für ihre Feinde hielten. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob man hier nicht genau die Gegenteilige Wirkung erzielt. Aber ich werde sowieso sterben – so oder so.
»Hey Neva,« ruft mir mein Gruppenführer, Fähnrich Schäfer, von hinten her zu. »Was liest du da eigentlich die ganze Zeit?«
»Geht um analytische Psychologie von Carl Gustav Jung,« brülle ich zurück.
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Hört hört, ein Akademiker. Nicht schlecht. Sonst alles in Ordnung?«
Ich werfe ein flüchtiges Lächeln über meine Schulter. »Mir könnte es nicht besser gehen.« Mir ist klar, dass er die Ironie versteht. Aber es ist gemein, etwas so zweideutiges zu einem Gruppenführer zu sagen, der seine Sache halbwegs gut machen möchte. Also lege ich in ersterem Ton nach: »Mach dir lieber Sorgen um andere Dinge. Ich bin OK.«
Ich lese das Kapitel in dem abgegriffenen Buch nun bereits zum dritten Mal. Da muss irgendetwas dran sein. Es geht um die so genannte Anima. Jung sieht sie als den weiblichen Teil in einer männlichen Persönlichkeit. Oft die musische und künstlerische Seite. Aber es muss noch viel mehr umfassen. In Träumen wird sie oft personifiziert, als ein ...
Das blonde Mädchen sitzt neben mir. »Du versuchst mich zu verstehen, was?« Plötzlich wirkt sie sehr nachdenklich. Ihre kleine Hand huscht zu ihrem Gesicht, um eine der blonden Strähnen hinaus zu streichen. »Versuch es nicht, ich bin zu umfassend für deinen Verstand.« Ein träumerisches Lächeln geht über ihre Züge.
»Aber dich verstehe ich,« sagt sie ruhig und blickt in die Ferne hinaus. Sie erscheint, wie die einsamste Person auf Erden. »Ich verstehe jetzt, warum du das tust. Mich abtrennst. Es ist die Angst, die du nicht erträgst.«
Sie dreht ihren Kopf und ihr Blick scheint mich aufzuspießen. »Aber das wird nicht ewig so gehen können. Du musst mich wieder zu dir lassen, oder du bist so gut wie tot. Es gehört zu dir, wie dein Herzschlag. Du kannst nicht das Eine zurück lassen und das Andere behalten.«
Eine silberne Träne rinnt über ihre linke Wange. »Aber so viel wirst du sicherlich auch schon verstanden haben.« Noch einmal springt ihre Sehnsucht auf mich über, als sie mich ansieht. »Hoffentlich.« Und sie verschwindet im weiten Blau.
Ich stehe auf und strecke die Arme weit von mir. Atme tief ein. Es ist gut, dass sie mich nicht schon wieder angefasst hat. Ich betrachte, wie der Fähnrich mit unserem Begleiter aus der Afghanischen Armee redet. Der Mann ist Nachrichtenoffizier – hat gestern mein kaputtes GPS-Gerät repariert. Wir haben ihn – Muadh – mit uns genommen, um einen Sprachkompetenten unter uns zu haben. Außerdem sagte er, dass er die Berge gut kenne. Ich habe bis jetzt nicht viel mit ihm geredet, aber sein Wesen erscheint mir als äußerst warmherzig. Es ist gut, nicht ganz auf sich gestellt zu sein. So allein in dieser Leere voller Gefahr. Ganz so, wie die Leere in meinem Kopf, meinem Herzen.
Ich drehe mich um und schaue für einen kurzen Moment direkt in die Sonne, so dass es leicht in meinen Augen sticht.
Die Energie ihres Blickes droht meine Augen zu verbrennen. Jedes Mal, wenn das Mädchen erneut aufsieht, scheint mich ein elektrisierender Blitz zu durchzucken. Es ist die selbe Wärme, wie die des blonden Mädchens. Ihre Gestalt tanzt zwischen den bunten Lichtern umher, wie eine Giftschlange, die sich suchenden Augen entziehen möchte. Nein! Ich muss damit aufhören. Ich muss diese verdammte Angst besiegen. Sie ist keine ... keine Schlange! Das ist so absurd! So unfair.
Die Leere in mir weicht der Aufregung, als sie näher an mich heran kommt. Mein Herzschlag beginnt den Takt zu überholen und schlägt bald doppelt so schnell. Mit jedem Centimeter, den sie näher kommt, scheint sie die Voltzahl der an mir angeschlossenen Hochspannungsleitung weiter zu erhöhen. Meine Beine werden instabiler, meine Arme hängen nur noch verkrampft an meinen Seiten herab. Sie sieht mich an. Das geheimnisvolle in ihren dunkelgrünen Pupillen lässt mich in ein schwarzes Loch stürzen. Sie lächelt. Für einen Moment drohe ich, in eine Lähmung zu verfallen, bis ich schließlich das Lächeln erwidern kann. Die Angst sprengt meine Rippen fast auseinander. Das blonde Mädchen ruft von irgendwo her: »Nein! Tu das nicht! Nicht hier!«
Aber es ist zu spät. Schon verschwimmen meine Bewegungen in den gedehnten Sekunden. Da ist nur noch ein Meer von tanzenden Farben, das in einem bodenlosen Strudel versinkt. Blackout.
»Neva,« dröhnt es durch die matte Stille des ausgehenden Schlafes. »Hey, Neva!«
Ich reiße meine Augen auf und muss mich erst einmal orientieren. Ich bin nun schon so lange Soldat, aber wenn man aufwacht, glaubt man noch immer so oft, einfach das vertraute Zimmer aus der Jugendzeit vor sich zu sehen. An Stelle dessen schmettert einen das NATO-oliv gleich umso heftiger wieder nieder. Fähnrich Schäfer steht an der Tür des Panzerfahrzeugs. Alle Anderen sind bereits ausgestiegen.
Verschlafen hechte ich aus dem Dingo und erkenne die bedrohliche Idylle eines kleinen Afghanischen Bergdorfes. Die Umgebung erscheint ungewöhnlich. Das Dorf liegt in einem weiten Tal, das von allen Seiten von Spitzen Bergen eingezäunt scheint. Als ich angestrengt den Spuren der Fahrzeuge folge, erkenne ich den kleinen Pfad, auf dem die Kolonne wohl in die Schlucht gekommen sein muss.
Die Dorfbewohner treten mit herzlichen Begrüßungen an uns heran, doch viele verschwinden genau so schnell wieder, da sie sehen, dass wir nichts für sie mitgebracht haben. Unser Auftrag besteht darin, die Bevölkerung mehrerer Dörfer danach zu befragen, ob ihnen in jüngerer Zeit bewaffnete Kräfte unter die Augen gekommen sind. Truppen des Warlords Sherzai – oder namenlose Splittergruppen. Mich kümmert da jedenfalls keine Unterscheidung.
Wir nehmen weiteren Kontakt auf und scheinen einiges Aufsehen zu erregen. Schließlich lädt uns der Dorfälteste dazu ein, mit ihm und seinen Leuten zu essen. Diese Art von Einladungen sind üblich – ein Ausbilder erzählte mir einmal, dass man im Kosovo sogar oft zum Trinken von selbst gebranntem Schnaps eingeladen wurde und als unhöflich galt, wenn man ablehnte. Und man trank angeblich viel in diesen Breiten ...
Afghanisches Essen ist jedenfalls eine Wohltat; nicht nur verglichen mit dem Fraß der Bundeswehr. Gefüllte Teigtaschen und Datteln sind eine angenehme Abwechslung, wenn man sich darauf eingestellt hatte, die ganze Patrouille über aus Ein-Mann-Paketen – genannt EPA – zu fressen. Ich beobachte und lausche der Konversation zwischen Fähnrich Schäfer und dem Dorfältesten, der sich als Amin vorgestellt hatte. Den Dolmetscher spielt Muadh, der überraschend gut englisch spricht und nur an wenigen Stellen stockt.
Bis zum Ende des Essens bringt der Fähnrich die Standorte zweier Dörfer in Erfahrung, die relativ nahe liegen. Das Problem an afghanischen Bergdörfern ist, dass sie sich öfter einmal bewegen, da sie meist von Nomaden bevölkert werden. Muadh konnte deshalb vorher keine präzisen Angaben machen. Ich blicke auf die zerklüfteten Berglandschaften und mir kommt alles so seltsam friedlich vor. Gleichzeitig fühle ich, dass ich hier nicht willkommen bin. Tausend Augen scheinen auf uns gerichtet zu sein. Ob das die Anderen wohl auch bemerken? Ich möchte nicht noch weiter in die Berge. Die gesetzten Ziele sind vergessen und das Essen droht mir im Hals stecken zu bleiben. Kann ich überhaupt wieder zurück?
Nein, ich kann nicht mehr zurück. So liebend gern würde ich jetzt einfach wieder nach Hause. In die Stille oder an meinen Computer. Die enge Toilettenkabine spendet mir ein wenig süße Klaustrophobie, wie ich sie gewohnt bin. Hier kann ich ganz ruhig atmen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre in das weiße Neonlicht. Wie bin ich hier hin gekommen? Hoffentlich habe ich mich nicht blöd verhalten. Ich höre, wie die Bässe aus dem Tanzsaal nebenan immer lauter werden, wenn die Tür sich kurz öffnet und jemand den Raum vor der Kabine betritt. Ich kann dieses Mal nicht einfach wieder zurück nach Hause. Früher hätte ich es vielleicht gekonnt. Damals, als man mir das weglaufen noch nicht aberzogen hatte.
Es gibt kein Weglaufen mehr. Ich bin es gewohnt, direkt ins Feuer zu rennen. Und hindurch – auch wenn man Gefahr läuft, zu stolpern und zu verbrennen. Deshalb bin ich wohl auch in diese Kabine und nicht direkt nach draußen geflüchtet. Wenn man die Hitze oft genug gespürt hatte, bildete sich ein Narbengewebe auf der Haut und auf den Gedanken, das nichts mehr hindurch lies. Man nahm es einfach nicht mehr wahr, was geschah. Die Zeit wurde nichtig und irgendwann wachte man wieder auf, wenn es vorbei war. Oft kam das ausgeblendete in den Träumen oder in stillen Momenten zurück – aber das war immerhin besser, als von seiner Angst abgelenkt und erschossen zu werden. Damals hatte ich oft Angst verspürt, vielleicht irgendwann einmal nicht mehr aufzuwachen, aber man gewöhnt sich auch daran.
Benebelt von Stresshormonen und dem Alkohol trete ich wieder hinaus in das Treiben. Ich schlängele mich an den Leuten vorbei, die mich überhaupt nicht zu bemerken scheinen. Plötzlich schlägt mein Herz schneller, als würde ich etwas ahnen. Hinter mir zerspringt ein Glas auf dem Boden und ich fahre vor Schreck zusammen. Das Klirren wird tiefer und multipliziert sich über einander, bis es zu einem brausenden Getöse wird.
Ich werde von der Explosion fast von den Füßen gerissen und werfe mich instinktiv auf den sandigen Boden. Der Körper vor mir wird ein wenig durch die Luft gewirbelt, bis er klatschend auf dem Boden aufschlägt. Ein endloser Moment der Stille und dann das Geschrei. Nicht aus Schmerz – der Cocktail aus körpereigenen Betäubungsmitteln lässt so schnell nichts durch – aber aus Entsetzen. Kamerad Müller liegt auf einem kleinen geraden Plateau vor mir. Der Dingo verschwindet mit heulendem Motor auf einem Bergpfad hinter der weiten Fläche.
Ich bin wie gelähmt vor Unbgreifen, als ich den verwundeten Kameraden betrachte, der schreiend vor mir liegt. Es müssen ein wenig mehr als zehn Meter sein. Die zerfetzten Reste seiner Beine liegen quer um ihn herum verteilt und vereinzelte Gedärme quellen aus seinem geöffnetem Abdomen. Ein Fetzen aus Blut getränktem Stoff liegt ganz nahe vor mir.
Ich versuche mich zusammen zu reißen – den Fall zu rekonstruieren. Der Mann – Kamerad Müller – hat die Fahrzeuge bewacht, als wir in einem Nomadendorf nach Informationen gesucht haben. Muadh muss mit dem Dingo abgehauen sein. Müller wollte ihm folgen und ist dabei auf eine Mine getreten. Nein – es müssen zwei übereinander gelegte Minen gewesen sein. Eine einzige Schützenabwehrmine trennt höchstens ein halbes Bein ab. Muadh muss gewusst haben, wo die Dinger liegen – die Spuren des Dingos zeigen einen weiten und mehrmals geschlängelten Bogen.
Fähnrich Schäfer grölt unaufhörlich Instruktionen. Jemand versucht einen der beiden Wölfe zu starten, aber aus der geöffneten Motorhaube dringt Rauch. »Er hat die Motoren Manipuliert,« ruft jemand. Afghanische Stimmen brüllen unverständlichen Kauderwelsch. Ich ziehe stark die Luft ein und versuche mich zu finden. Renne zu einem der Wölfe.
Wir haben nur ein Minensuchgerät. Und das war im Dingo. Ich greife eine rostige Kiste. Diese Dinger müssen es auch tun. Krank vor Angst renne ich auf den Spuren des Dingos entlang, so dass ich näher an den Verletzten komme. Es sind noch immer mehr als fünf Meter. Die untergehende Sonne sticht auf meine vor Schweiß triefende Stirn, als ich beginne, mit der Minensuchnadel im Boden zu stochern.
Die ganze Zeit über muss ich mich zusammen reißen, nicht einfach auf den schreienden Verletzten zuzurennen. Ein Quadrat ist fertig! Ich setze meinen Fuß in die kleine Fläche, die ich akribisch mit der Nadel ausgestochen habe. Das Schreien wird immer unregelmäßiger. Eine breite rote Lache hat sich bereits um den zersprengten Körper gebildet.
Weitere Soldaten gehen vorsichtig an mir vorbei; sichern das Gebiet in alle Richtungen. Der Fähnrich scheint ein wenig von der Kontrolle zurück erlangt zu haben. Es dauert viel zu lange! Ich zwinge mich dazu, schneller zu stechen. Der Einstichwinklel muss bei dreißig Grad liegen, bloß nicht zu steil einstechen. Schneller, schneller! Wieder und wieder schraubt meine Hand das Metall in den sandigen Boden. Plötzlich etwas festes. Metallisch. Ich sehe meine Arme in Gedanken weg fliegen. Meine Finger zerfetzen, wie nasses Papier im Sturm. Mein Herz macht einen Sprung. Verflucht!
Ich befestige ein rotes Fähnchen an der Nadel und steche sie in einiger Entfernung vor der Mine in den Boden. Fange ein neues Quadrat an. Schneller! Es muss schneller gehen! Brennender Schweiß läuft mir in die Augen.
Plötzlich bäumt sich der Verletzte auf, schreit so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren drücken möchte. Ein verzerrtes »Hilfe,« ist aus dem schrillen Geschrei heraus zu hören.
»Bleib ruhig!,« brülle ich zurück und weiß selbst, wie lächerlich das eigentlich ist. »Ich schaff dich da raus! Bleib ruhig liegen.«
Schneller stechen! Ich muss es einfach schaffen. Ein Schrei bleibt in meinem Hals stecken, als ich erneut auf eine Mine im Boden stoße. Und das gerade, als das Quadrat fast fertig war!
Ich bin nicht einmal einen Meter voran gekommen und steche nun schon gute zwanzig Minuten.
»Neva!,« kreischt der Verletzte. »Hör a ... « Blut quillt zwischen seinen Zähnen hervor. »I ... komm zurück. Ne ... a, ich schaffe es.«
Rudernd versuchen seine Arme einen Halt auf dem Boden zu finden. Ich kneife die Augen zusammen, als seine Handflächen auf von den von Blut durchschwemmten Boden klopfen.
»Müller, nicht bewegen! Scheiße, bleib liegen!«
Die Lautstärke des Geschreis steigt noch einmal an, als sein Gewicht vollständig auf dem aufgetrennten Unterkörper lastet. Schließlich begibt er sich in eine robbende Position. Er ist vielleicht drei Jahre älter als ich. Ich halte den Atem an, als sich seine Hände aufstützen. Von seinem Gesicht fließt eine Mischung aus Blut und Tränen ab. Er viel zu jung, um zu sterben.
»Neva,« wimmert er. Seine Augen glitzern. So lebendig.
Eine Gestalt tritt hinter mich und ich höre gar nicht, wie der Spannhebel des G36 nach vorn schnellt. Der Sicherungshebel klickt. »Liegen bleiben!« Die Stimme des Fähnrichs ist überraschend entschlossen.
»Mann, bleib liegen,« sage ich und bin mir nicht sicher, ob er mich versteht. Meine Hände sind hilflos vor dem Körper aufgespannt. »Bitte, bleib liegen, Müller.«
Langsam beginne ich, meine Arbeit fortzusetzen. Ein Stich, zwei Stiche. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir ja nur die Hüte tragen und außer der Splitterschutzweste keinerlei Schutz vor umher fliegenden Teilen besitzen. Der Fähnrich wird gezwungen sein, ihn zu erschießen, wenn er sich weiter bewegt. Wer weiß, ob die Sprengsätze nicht mit Nägeln oder Metallsplittern gespickt sind.
»Neva,« sagt der Verletzte so leise, dass ich es kaum verstehe.
Ich blicke auf und versuche etwas anständiges zu sagen. Aber mehr als ein, »Müller, bitte bleib ruhig,« schaffe ich auch nicht.
»Neva, der will mich umbringen.«
»Nicht bewegen! Niemand will di ...«
»Das Schwein will mich umbringen!« Ich fahre unter dem Gebrüll zusammen. Fürchte, dass selbst dadurch eine Mine ausgelöst werden könnte. Schneller stechen! Gut, ein neues Quadrat ist fertig. Ich setze einen Fuß nach vorne. Ich schaffe es! Wieder und wieder versenke ich die Nadel in der Erde.
Ein Knall scheint mein Trommelfell zu zerreißen. Erschrocken reiße ich den Kopf nach oben. Müllers Stirn ist dunkelrot verfärbt, der geschundene Körper fällt in sich zusammen. In meine Nase steigt der vertraute Geruch der explodierten Treibladung einer Patrone. Ein Windhauch weht mir den Rauch aus dem G36 ins Gesicht. Für einen Moment starre ich nur den leblosen Körper vor mir an. Dann lasse ich die Nadel los. Er muss noch leben! Er muss einfach noch leben. Ich schreie auf, springe auf meine Füße und möchte los rennen. Ihn endlich bergen. Gleich vier Arme ziehen mich zurück. Ich schlage hart mit dem Hinterkopf auf den Boden und merke unter einem Griff wieder das schmerzende Pochen des Streifschusses. Unzählige Hände drücken mich nieder.
Ich versuche den Fähnrich mit meinen Blicken zu erwürgen. Unkontrolliert schreie ich, versuche um mich zu treten. Zu schlagen. Meine Hand trifft ein Gesicht, ehe sie wieder unten gehalten wird. Wut, unzügelbare Wut.
»Mörder,« speie ich aus. »Du scheiß Mörder!«
Ich ertrage es nicht mehr. Warum schlägt mich niemand bewusstlos? Warum erschießt mich niemand? Warum lassen sie mich solche Sachen sagen? Hinter den aufgeregten Gesichtern erkenne ich das blonde Mädchen. Sie weint und nickt mir zu. Und dann wendet sie sich ab und läuft geradewegs ins Minenfeld. Erleichternde umnachtende Schwärze hüllt mich ein. Ich spüre nichts, gar nichts mehr.
»Wenn nur noch dein rationaler Verstand bleibt,« sagt sie, »dann ist da auch kein Bewusstsein mehr.«
»Und keine Angst,« ergänze ich.
»Ja, aber auch kein Leben.«
War es pures Überleben wert, dass man überhaupt noch lebte? Ich nippe an meinem Drink und starre die überfüllte Tanzfläche an. Es ist weder Spaß, noch Vergnügen. Es ist eine Schlacht, die ich hier schlage. Eine Schlacht um mein verlorenes Leben. Ich bin erschrocken über die tanzenden Massen aus lachendem Fleisch. Sie befinden sich in einer kollektiven abgeschlossenen Ekstase. Ihr stetiger Zustand des Glücks wird finanziert vom Schmerz der Schwachen dieser Welt. Manchmal schauen sie sie an – im Fernsehen oder anderen Medien. Ja, manchmal beobachten sie sie, als seien es Tiere im Zoo. Lustige dunkelhäutige Äffchen. Dann trifft sie ein Funke an Schuld und sie schmeißen einen schlechten Krumen nach unten in den Dreck, während sie selbst den Kuchen verputzen. Und das reicht, um das Gewissen für viele Jahre zu beruhigen.
Warum wünsche ich mir nur so sehr, einer von ihnen zu sein? Endlich wieder zurückkehren zu können, in meinen kleinen Morphiumtraum. Und plötzlich weiß ich, warum ich diese Angst empfinde. Sie widern mich an und ich habe einfach Panik davor, mich anzustecken. Und ich weiß, dass sie ansteckend sind. Sie machen sehr schnell abhängig. So schnell, dass sich meine Füße wie von selbst in Bewegung setzen und auf die Tanzfläche zugehen.
Ich sehe den Pulk aus Leuten vor mir. Sie bewegen sich, aber sie scheinen doch still zu sein. Die Ziele in ihrem Leben stehen fest, sie werden niemals mehr etwas verändern. Nie mehr ihr »Glück« verlassen. Sie sind tot. Ein Haufen Leichen.
Die fahlen Augen eines jungen Mädchens starren durch mich hindurch. Sie haben die Bewohner nach der Exekution in der Mitte des Dorfes aufgehäuft. Die Häuser sind ausgebrannt, total zerstört. Ein Schild ist in den Leichenberg gerammt. Man hat in unsauberer Schrift darauf gekritzelt: »Never come back, german scum.«
Kommt nie mehr wieder, deutscher Abschaum. In drei Blechtonnen, die um den Berg herum stehen, hat man zerhackte Leichen angezündet, die einen süßlichen Gestank verströmen. Die Toten sind illuminiert von brennendem Blut. Auf die Stirn des Mädchens wurde mit einem Messer das Wort »Traitor« - Verräter – geritzt. Ebenso wie auf die Köpfe der Anderen. Amin, der Dorfälteste, liegt nackt vor seinen Leuten. Sein Bauch und seine Kehle sind aufgeschlitzt. Man hat ihm die Augen heraus geschnitten. Auf seiner Brust prangt ebenfalls das Wort. Man hat so tief eingeschnitten, dass man vereinzelt die hellen Rippenknochen sieht. Zwei meiner Kameraden übergeben sich hinter nahe stehenden Häusern. Fähnrich Schäfer und ich stehen wortlos neben einander, während uns der Qualm einhüllt. Es gibt kein Wasser und zu anderen Löschversuchen fehlt jedem die Kraft.
»Wir müssen sie begraben,« sage ich, um überhaupt etwas zu sagen.
»Geht nicht,« erwidert Schäfer. »Siehst du den Draht?« Er deutet mit seinem Finger auf das Fußgelenk des Mädchens. Tatsächlich.
Voller Unglauben muss ich realisieren, dass es wirklich so ist. Sie haben versteckte Sprengladungen an den Leichen angebracht. Meine Knie werden weich und zusammen mit dem Fähnrich sinke ich gen Boden. Erkenne ein paar Meter weiter die Spuren einiger Fahrzeuge. Und die unverkennbaren Abdrücke unseres Dingos. Er wird jetzt irgendwo in den Bergen sein. Muadh, diese verfluchte Drecksau. Ich möchte meine Waffe spannen und auf irgendetwas schießen. Ich bin so eingeengt. Und die Sterne über mir scheinen weiter, als sei nichts gewesen. Es macht mich krank.
»Hey, Neva,« flüstert der Fähnrich und ich wende meinen Kopf nach links. Auch Schäfer ist kaum zwei Jahre älter als ich. Wir gehören nicht hier her. Aber wer sonst, wenn nicht wir? »Das mit der Trittspursuche vorhin war verdammt mutig. Danke. Wenn du es nicht gemacht hättest, hätte ich nieman ... «
Ich hebe meine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er soll bloß damit aufhören, meine Gedanken mit neuen Bildern weiter zu beschleunigen. Er versucht, mir die Verantwortung und den Schmerz abzunehmen. Aber wir alle tragen es. Vielleicht auf ewig. Ich nicke nur und vergrabe meinen Kopf in den Händen. Ich möchte heulen, aber meine Gefühle sind hinter einer dicken Wand verschlossen.
»Schaffst du es?,« fragt er.
Ich wende meine Augen nach links. »Was?«
»Damit fertig zu werden. Packst du es?« Seine Worte scheinen vollkommen ohne Ausdruck.
Ich verliere mich in den Augen des Mädchens. Sage nichts.
Doch er redet weiter. »Denn ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Tränen fließen über sein Gesicht, das nur vom schwach flackernden Schein des Feuers erleuchtet wird. »Niemand wird jemals davon erfahren, was hier passiert ist. Man wird es vertuschen – und sonst interessiert es die Leute sowieso einen Dreck. Und morgen wird man uns wieder irgendwo hin schicken.«
Ich bin zu schwach, um etwas zu erwidern. Bin mit der Situation überfordert.
»Neva, ich kann es nicht mehr. Ich ertrage es nicht mehr. Ich möchte nicht hier sein, aber ich kann nie mehr zurück.«
Das blonde Mädchen möchte mir die Hände auf die Schultern legen. Ich flehe sie an, von mir weg zu bleiben. Einfach weg zu bleiben, bis es endlich vorüber ist.
Ein Schuss bricht, aber ich erschrecke mich nicht mehr davor. Alles schließt sich von mir ab. Würde ich es hindurch lassen, wäre ich tot – so viel war sicher. Einer meiner Kameraden kippt zur Seite und fällt regungslos auf die trostlose Erde. Die Hülsenauswurföffnung seines G36 dampft weiß und sein Schädel ist auf der Hinterseite auseinander geplatzt. Der Rauch vermischt sich mit dem Qualm aus den Tonnen. Pulsierend pumpt das Herz ein paar letzte Male Blut aus der Wunde. Es erscheint in der Dunkelheit ganz schwarz. Einige von uns sitzen zusammen gekauert an den Resten der Hauswände. Der Fähnrich steht auf und nickt ein paar Männern zu, die sich langsamen Schrittes um ihn sammeln. Er spannt seine Waffe und deutet auf den hinteren Teil des Platzes. Scheppernd werden weitere Waffen fertig geladen.
»Neva, kommst du auch mit?,« fragt er teilnahmslos. »Ich übernehme es für dich, wenn du es nicht kannst. Auch wenn ich es bei mir dann selbst tun muss.«
Wieder sage ich nichts. Wende schließlich meinen Kopf ab. Und die Gruppe entfernt sich.
Mein Blick fällt auf eine alte russische Pistole, die neben Amins Körper im Dreck liegt. Hinter dem Haufen habe ich vorhin noch eine gesehen. Wahrscheinlich haben sie die Menschen mit diesen Dingern abgeknallt und sie dann einfach hier hin geschmissen. Meine zitternden Finger greifen nach dem Metall, das eine Todeskälte zu verströmen scheint. Und bald darauf scheine ich selbst mit dieser Kälte zu strahlen. Wird es mich je wieder los lassen?
Flüchten sie alle vor mir, weil sie diese Kälte spüren? Oder bilde ich mir nur ein, dass sie vor mir abhauen wollen? Die Menschen auf der Tanzfläche nehmen mich nicht mehr wahr. Ich bin wie unsichtbar. Wahrscheinlich bin ich für sie der Geist. Sie sehen mich nicht, aber wenn ich ihnen zu nahe komme, übermannt sie ein fremdweltliches Schaudern, das ihnen die Freude aus den Knochen treibt. Ich bin so anders, so unendlich weit weg. So allein.
Resignierend stelle ich meine Bewegungen ein und gehe zurück zur Bar. Noch ein Drink, um den Abend abzuschließen und dann gute Nacht. Auf einen weiteren Tag in diesem sinnlosen Treiben. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte das Angebot des Fähnrichs angenommen. Ich bin viel zu feige, um mich umzubringen – außerdem würde es meinem Wesen widersprechen. Warum gehe ich nur immer weiter? Warum muss ich mutig sein, wenn Feigheit doch eigentlich die logischere Wahl wäre? Schwarz glänzt das Getränk in der Dunkelheit. Schwarz ist eine so seltsame Farbe. Es scheint die Lichter zu verschlucken.
Nur den Schein des Feuers reflektiert der schwarze Stahl in mattem orange. Mein G36 liegt vor mir und ich lehne an einer kaputten Eingangstür. Bei meinem toten Kameraden habe ich eine Schachtel Zigaretten gefunden. Ich nehme den letzten Zug und werfe den noch brennenden Rest einfach weg. Die russische Pistole ist noch immer Schussbereit. Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl sein würde. Dass es so unspektakulär ist, hätte ich wahrlich nicht gedacht. Mein Herz schlägt noch immer ganz ruhig weiter, als der Lauf in meinen Mund gleitet. Kalt stößt die Mündung an meinem Gaumen. Und in mir wird es ganz still.
Hätte es etwas geändert, wenn wir nicht in dieses Dorf zurück gekehrt wären? Die Hubschrauber flogen für diesen Einsatz nicht hoch in die Berge hinauf, deshalb hatte man uns an diese Stelle zurück beordert. Kamerad Müllers lebloser Körper liegt mitten auf dem Platz. Ruht auf einer Behelfstrage, die wir aus Feldjacken und rostigen Stangen gebaut haben. Ich reiße den Klettverschluss meiner Splitterschutzweste auf und streife das Kleidungsstück ab. Diese Dinger werden immer ziemlich schwer, wenn sie erst einmal vom Schweiß durchnässt sind. Kalt streichelt mich der Abendwind und mein rechter Daumen berührt den Abzug.
Ein Feuerwerk aus sieben Schüssen bricht im hinteren Teil des Platzes los, bis es auf immer verstummt. Sie haben es getan. Bleiben mit mir noch vier Mann aus der Gruppe. Aus der Entfernung dringt das schraubende Geräusch von Rotoren. Ich erkenne am Klang, dass es vier Hubschrauber sind. Zwei größere Transporthubschrauber und zwei Kleine als Geleitschutz. Die Zeit wird ganz zäh, als mein Daumen den Abzug ein Stück nach hinten schieben möchte.
Das Flackern des Feuers beschleunigt sich, die Sterne scheinen über mir zu tanzen. Plötzlich scheint das tote Dorf von einem Sturm erfüllt. Sand und Staub rast durch die Luft. Der Hut wird von meinem Kopf geweht. Das blonde Mädchen hechtet auf mich zu. Ich bin ganz durchgefroren und habe jedes Gefühl in den Fingerspitzen verloren. Sie kickt das G36 zur Seite, bevor sie sich vor mich hockt. Ihre Haare wehen vor ihrem Gesicht umher. Kitzeln meine Wangenknochen. Vorsichtig zieht sie meine Daumen vom Abzug. Jagt brennendes Leben in mich hinein. »Bleib ganz ruhig,« sagt sie flüsternd.
Ihre Gestalt verschwimmt und wird größer. Viel, viel kräftiger. Aus dem Mädchen wird ein Soldat, der eine schwarze Sturmhaube trägt. Er hat kein Namensschild und trägt keinerlei Dienstgradabzeichen. Die Männer, die den Platz erstürmen sind vom KSK – den Kommando-Spezialkräften. »Junge, mach jetzt nur keinen Scheiß.«
Er nimmt die Pistole, entreißt ihr das Magazin und lädt sie noch einmal durch, so dass die Patrone im Lager ebenfalls heraus fällt, als er die Waffe umdreht. Plötzlich erwache ich aus meiner Starre und zwinkere mehrere Male heftig mit den Augen. Blicke mich verstört um. Zwei Kampfhubschrauber kreisen über dem Dorf und die Größeren haben in der Mitte des Platzes aufgesetzt. Zwei Männer schleppen Müller – noch immer mit der improvisierten Trage – über die Luke in den Laderaum. Die Hand des Soldaten vor mir umklammert meinen Unterarm. »Wir müssen hier weg – kannst du selbst gehen?«
Für endlose Sekunden starre ich einfach nur in die Leere. »Alles in Ordnung?,« fragt das Mädchen. Es ist das Mädchen, vor dem ich vorhin davon gerannt bin. Ihre grünen Augen versuchen mein Innerstes freizulegen. Wie ist das möglich? Wie kann sie einfach zu mir kommen? Ich zwinge mich zu einem Lächeln, um mich nicht lächerlich zu machen. »Ja, danke der Nachfrage.«
Sie scheint ein wenig schüchtern zu sein und dieses Verhalten rührt mich fast zu Tränen. »Ich ... ich bin Amelie. Du warst vorhin so schnell weg.« Plötzlich blickt sie nach unten und ihr Gesichtsausdruck wird ganz finster. »Sorry, ich will dir nicht auf den Geist gehen. Ich gehe jetzt besser.«
»Aber ..., « stammele ich. Zum Glück! Sie dreht sich noch einmal um. »Du nervst mich doch nicht. Es ist toll, dass du hier bist. Ich bin Maximilian, aber ..., « Ich stocke, weil ich selbst fast darüber lachen muss. »Aber meine Freunde nennen mich Maxi. Oder Max, wenn du willst.«
Ich sehe die Erleichterung auf ihrem Gesicht.
Wir bissen beide nicht, was wir sagen sollen, bs sie schließlich das Wort ergreift. »Bist du ganz allein hier?«
Es tut gut, einmal wieder mit einem Menschen zu reden. »Ja, ich bin noch nicht lange in der Stadt. Fange am ersten Oktober an zu studieren. Psychologie.«
Sie lehnt sich an den Tisch. »Cool, was hast du vorher gemacht?«
Es trifft mich wie ein Schlag. Mit viel Mühe schaffe ich es, den Schatten auf meinem Gesicht vor ihr zu verbergen. Nein, das tust du jetzt nicht, sage ich zu mir. Ich setze ein breites Grinsen auf. »Ich hab Abi gemacht und dann Zivi als Hausmeistergehilfe. War jeden Tag um zwei fertig und hab fast nur Parties gefeiert.«
Falls sie jemals in meine Wohnung kommen sollte, muss ich mir überlegen, wie ich ihr das Tapferkeitsabzeichen und die Fotos an meiner Wand erkläre. Und wie ich ihr erkläre, dass man mich aufgrund psychischer Probleme vor sechs Wochen aus der Armee entlassen hat. Aber am besten wäre es, wenn ich das Zeug einfach abhängen und verbrennen würde.
Im weiteren Verlauf des Gespräches ergibt sich, dass wir zwar nicht die gleiche Musik hören, aber zumindest ähnliche Hobbys haben – die Hobbys, die ich während meiner Schulzeit hatte. Sie studiert Biochemie und ist ein wenig künstlerisch aktiv.
Mit jeder zögerlichen Geste wird sie mir sympathischer. In manchen Momenten erscheint mir das Grün um ihre Pupillen herum fast als Blau und für Bruchteile von Sekunden leuchten ihre braunen Haare in hellem Blond auf. Ich habe Angst und mein Herz springt mir fast aus der Brust, als sie meine Hand ergreifen will. Aber ich lege es darauf an. Ich möchte so viel Angst haben, wie ich mein ganzes Leben zuvor noch nicht erfahren habe. Vielleicht geht es ihr ähnlich.
Unser Zittern kombiniert sich, als wir die Hände in einander legen. Für kurze Zeit steigt es um einen weiteren Faktor an, bis es schließlich ganz verschwindet. Es wird noch lange dauern, diese Phobie abzubauen – aber es fühlt sich zumindest nach einem Anfang an. Sie versteht, glaube ich. Jedenfalls verstehe ich.
Kandahar, Kabul und die Armee verschwinden in einem schwarzen Loch, um welches meine Gedanken kreisen. Ich versuche eine Brücke zu dem Menschen zu bauen, der ich vorher war. Plötzlich erscheint er mir viel näher.
Die abgefahrenen Reifen des Busses hechten rumpelnd über die kaputte Straße. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Links neben mir sitzt Armenis – der MG-Schütze, der mir an meinem letzten Tag in Kabul Deckung gegeben hat. Auch er war mit mir auf der Patrouille gewesen. Ich bin froh, dass er noch lebt. Wir kennen uns seit der Grundausbildung – vielleicht einer der wenigen Freunde, die mir bis hier hin geblieben sind. Er muss nicht so viel reden – das gefällt mir am meisten. Wenn er etwas sagt, dann kann man davon ausgehen, dass es auch wichtig ist. Ich schaue durch das dreckige Fenster und beobachte die Kinder auf der Straße, als wir an einer Kreuzung kurz halten. Sie spielen lachend und kreischend auf dem sandigen asphalt – ein Junge trägt am Fuß einen fast durchgebluteten Verband. Wieso haben sie keine Angst? Wie können sie dort so unbeschwert spielen? So sorglos leben. Leben.
Die Fahrt des Busses wird ruhiger, die Geräusche von Draußen immer stiller. Und der Himmel verfinstert sich. Amelie lehnt an meiner Brust und hat die Augen geschlossen. Unaufhörlich prasselt der Regen auf das Dach und gegen die Scheiben. Sie atmet ganz ruhig. Der Spätbus ist auf dem Weg in den westlichen Teil der Stadt. Meine Wohnung liegt am anderen Ende, aber ich habe darauf bestanden, sie nach Hause zu begleiten. Ich bin das Laufen gewohnt, habe ich ihr gesagt. Schließlich komme ich aus den Bergen. Meine Finger streichen durch ihr Haar und sie seufzt leise. Sie hat ja keine Ahnung. Aber das erleichtert mich. Schläfrig öffnet sie kurz die Augen und lächelt mich an, bevor sie sich in eine etwas bequemere Lage bringt.
Ich frage mich so sehr, warum sie mich gern hat. Vielleicht spürt sie, dass man mir vertrauen kann. Vielleicht spürt sie meinen Schmerz. Der Moment ist so wertvoll, dass ich ihn in mich einsauge; jede Sekunde zu einer Stunde machen möchte. Auf dass er komprimiert und leuchtend meine Erinnerungen erhellen soll.
Unser Kuss vermischt sich mit den Massen aus Regenwasser, die auf uns nieder stürzen. Sie legt ihre Hand um meinen Kopf und zieht mein Ohr ganz nah an ihrem Mund heran. Flüstert.
»Möchtest du noch kurz mit hoch kommen?«
Das Adrenalin scheint meinen Solarplexus mit leuchtender Energie aufzuhellen. Eine Stimme in mir sagt, dass ich das nicht tun kann. Ich küsse sie noch einmal und lehne ab, obwohl in mir ein Kampf tobt, der noch nicht verloren scheint.
Ich bleibe mitten auf der Straße stehen, während sie die Tür des kleinen Blocks aufschließt, in welchem ihre Wohnung liegt. Als der Eingang geöffnet ist, blickt sie sich noch kurz nach mir um. Lächelnd winken wir uns zu, ehe sie die Tür leise hinter sich schließt.
Ein Teil von mir möchte resignierend nach Osten gehen und die Melancholie der Nacht genießen. Doch etwas Anderes starrt ungebrochen auf die Klingelknöpfe. Ich möchte es doch; warum kann ich es nicht tun? Das Prasseln des Regens verändert sich. Hinter mir tritt plötzlich ein neues Geräusch hinzu. Tropfen, die auf eine Oberfläche aus wasserabweisendem Stoff treffen.
Das blonde Mädchen tritt neben mich. Sie trägt einen schneeweißen Regenmantel. Die Kapuze ist nicht aufgesetzt, aber das Wasser verdampft kurz über ihrem Kopf. »Fülle das Loch in dir nicht mit Vergangenheit, sondern mit Leben,« sagt sie. »Du kannst nicht in dieser Wechselwelt existieren. Sei im Jetzt.«
»Aber ich habe solche Angst – undes ist so unecht,« flüstere ich, während meine Stimmbänder vor Kälte beben.
Sie ergreift meine Hand. Zusammen gehen wir auf den Hauseingang zu. Jede Stufe ist wie ein neuer Berg, den ich erklimme. Und dann stehe ich oben und starre auf das undurchsichtige Glas der Eingangstür. Mein Finger bewegt sich unendlich Langsam zu einem der Klingelknöpfe, auf dem ich ihren Vornamen erkenne. Ich muss mir jedoch nicht die Mühe machen, ihn zu betätigen.
Die Warmen Finger des blonden Mädchens verschwinden und sie strömt wie ein Fluss brodelnder Gefühle in mich, als plötzlich ein knacken im Türschloss zu vernehmen ist. Amelie reißt die Tür auf und packt meine Handgelenke. Sie umarmt mich, als wolle sie mich nie mehr los lassen. Sie wirft die Tür so hart ins Schloss zurück, dass ich glaube, die Scheiben würden im nächsten Moment heraus fliegen. In einem spontanen Anflug heftigen Lachens stürmen wir die Treppen hinauf.