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Much im Frühling

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14.08.2012
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Much im Frühling

Herbst, vorgestern

Angefangen hatte alles mit Henniger. Also eigentlich mit Leo, der dem Henniger eine Dachwohnung geplant hatte und irgendwann im Sommer Much anrief. Er habe einen Goldfisch an der Angel, sagte Leo, und ob nicht er, Much, und so weiter … das Übliche unter Freunden, und er würde ihm Pläne und Fotos von der Terrasse schicken.
Deshalb, und nur deshalb, fuhr Much an einem ungewöhnlich warmen Herbsttag, noch dazu um die Mittagszeit, zu einer Besprechung mit dem Henniger in die Innenstadt. Zum Glück mit dem Fahrrad, weil er spät dran war, und da er keine Zeit zum Umziehen gehabt hatte, in einigermaßen, nun ja, salopper Aufmachung. Der Fahrtwind blies durch die Löcher der Arbeitshose, das offene Hemd flatterte, und Much genoss die warme Luft. Die Haare hatte er in der Werkstatt lediglich nass gemacht und hinter die Ohren gestrichen und seit einer Woche hatte er sich nicht rasiert. Es war sein neunundvierzigster Geburtstag und er fühlte sich gut.
Doch schon nach den ersten zwei Minuten seines Besuchs ahnte er, dass die folgende Stunde zu den vergeudeten seines Lebens zählen würde. Henniger, ein korpulenter Mittdreißiger, hatte ihm in Morgenmantel und Socken geöffnet und sich grinsend für seinen Aufzug entschuldigt. Er sei bis vier Uhr morgens im Puff gewesen und noch immer fix und fertig, erzählte er ungefragt, er hätte sich die Seele aus dem Leib gevögelt, es diesen Schlampen so richtig besorgt und sein Dings fühle sich an, als sei es in einen Gartenhäcksler geraten. Er schlug Much auf die Schulter und bellte ein dreckiges Lachen. Kaffee bot er ihm nicht an, stattdessen füllte er zwei Gläser mit Whisky, auch das ungefragt.
Die Aussicht von seiner Dachterrasse allerdings war atemberaubend. Mit einer gönnerhaften Geste wies Henniger auf die Kuppel der Pasolinikirche, dann hinüber zum Émile-Pouget-Turm, als hätte er sie selbst erbaut. Sein anderer Arm lag dabei die ganze Zeit auf Muchs Schulter. Er paffte ihm Zigarrenrauch ins Gesicht und schwadronierte das Blaue vom Himmel herunter, von High-Risk-Fonds, AONs, Futures, Effizienzmarkthypothese. Much verstand kein Wort.
„Sehen Sie sich die fleißigen Ameisen da unten an, Pander, wie sie brav zur Arbeit rennen, diese Versager. Lauter Loser. Scheißlemminge.“
Als sie zurück ins Wohnzimmer gingen, ließ Much die Sonnenbrille auf der Nase, die Einrichtung war ein einziger Alptraum.
Der ganze Henniger war ein Alptraum, der Alptraum jedes aufrechten Werktätigen. Lustlos präsentierte ihm Much die Entwürfe und je länger er redete und je dämlicher Hennigers Fragen wurden, umso leerer fühlte er sich. Er warf Perlen vor die Säue, das war ihm klar, er wollte nur noch raus und diesen Kotzbrocken nie mehr sehen müssen. Spontan beschloss er, Henniger die besten Skizzen vorzuenthalten, und als es schließlich um die Kosten ging, verzehnfachte er im Kopf kurzerhand sein Angebot und addierte aus purem Schalk zusätzlich die ursprüngliche Summe. Dann räusperte er sich, zog an der Zigarette, blickte Henniger fest in die Augen und nannte einen derart absurden Preis, dass Henniger ihn auf der Stelle hochkant rausschmeißen müsste. So ihn nicht vorher der Schlag träfe, diesen Fettwanst.
„Heiliger Dow Jones, ganz schön happig für einen Haufen Alteisen.“ Henniger lachte dröhnend, schlug Much aufs Knie und schenkte ihm vom Glennfiddich nach.
„Junge, Junge! Dreiunddreißigtausend … Na ja, klingt aber fair. Echt reell, definitiv. Ist ja immerhin Kunst. Wird ja wohl mehr wert mit der Zeit. Hähä. Will ich zumindest hoffen.“ Und wieder schüttelte ihn dieses vulgäre Lachen und dazu stieß er Much den Ellbogen in die Rippen.
„Ist gekauft, mein lieber Pander, nullo Problemo. Sind in Wahrheit Peanuts, hähä. Noch einen Schluck?“

Much trat aus dem Haus, steuerte den nächsten Mülleimer an und schmiss die Handvoll Cohibas weg, die ihm Henniger bei der Verabschiedung in die Hemdtasche gesteckt hatte. Was für ein erbärmlicher Wichser!
Es war sinnlos, jetzt in die Werkstatt zurückzufahren, er hatte vier Whisky im Kopf, einen bizarr überteuerten Auftrag in der Tasche und brauchte jetzt erst mal ein kaltes Bier und ein wenig Zeit zum Nachdenken. Das Fahrrad ließ er abgesperrt am May-Picqueray-Platz zurück und schlenderte in das enge Gassengewirr hinter dem Dom. Hier irgendwo, versteckt in einem Souterraingewölbe, war einst das legendäre Anteo Zamboni gewesen, erinnerte er sich. Er wusste noch, wie herrlich kühl es im Sommer da drin immer gewesen war. Mal sehen, ob es das noch gab.
Es war heiß wie in Spanien, er knöpfte sich das Hemd wieder auf und versuchte, im Schatten zu bleiben. Gleichzeitig bemühte er sich, nur an das Bier zu denken, und noch nicht daran, dass er wieder einmal im Begriffe stand, seine Seele zu verkaufen, seine Ideale zu verraten, all die großartigen Ansprüche an sich mit Füßen zu treten. Wieder einmal …
Und wenn schon. Er war schließlich keine zwanzig mehr.

Mit zwanzig hatte er sich hier in diesem Viertel der Stadt, wo sich jetzt Boutique an Café, Café an Bar reihte, nächtelang herumgetrieben, war im Anteo herumgehangen oder im Sacco & Vanzetti, ein paar Gassen weiter, nie alleine, aber immer auf der Suche nach etwas, nach irgendetwas, etwas Großem, etwas, das wichtiger war als Rita, als Marlene, als Mona, und wie sie alle hießen, diese allnächtlichen Mädchen, mit denen er unterwegs gewesen war, eines schöner und verrückter als das andere, und alle genauso auf der Suche nach etwas Großartigem, nach dem wirklichen Leben. Nächtelang diskutierten sie, erträumten Utopien, entwarfen Strategien, erschufen in ihren Köpfen die Welt neu und waren überzeugt, die einzigen vernünftigen Menschen in diesem Land zu sein, die einzig wahren Guten. Sie benahmen sich, als wären die Nächte die Generalprobe für den nächsten Tag, in Wahrheit reihte sich einfach Nacht an Nacht, und die Tage dazwischen waren dann entweder unerträglich heiß, oder es regnete, oder es war windig und kalt und sonst gar nichts. Im besten Fall hatte er auf dem Heimweg eine Sprühdose bei sich und eine Bankfiliale musste daran glauben, oder die Windschutzscheibe eines geparkten Polizeiautos. Öfter jedoch wurde er mittags vom Virnich, seinem Nachbarn, dem in Würde gealterten SA-Mann, aus dem Bett geläutet, weil er nachts beim Nachhausekommen wieder einmal dessen Philodendron im Stiegenhaus umgeschmissen, umgerempelt, beschimpft hatte. Sofern er überhaupt nach Hause gekommen war. Oder er wurde gar von zwei Polizisten wachgeklingelt, die ihn emotionslos aufforderten, sich auszuweisen, seine Zahnbürste einzustecken und mitzukommen - um halb sechs Uhr morgens - und er absolut keine Ahnung hatte, worum es überhaupt ging, er dann natürlich blöd zurückgeredet hatte, frech geworden war, weil er obendrein drei Tage zuvor Brazil im Kino gesehen hatte, in der Nachtvorstellung, mit Isa oder Mona, er wusste es nicht mehr, betrunken jedenfalls war er gewesen, oder bekifft, vermutlich beides, aber der Film geisterte noch durch seinen Kopf und Worte wie Faschistenpack, Büttel, Folterknechte kamen ihm damals leicht über die Lippen, weit leichter, als Moni oder Rita oder Isa zu sagen, dass er sie vermutlich nicht heiraten werde, aber sie lieben, sie lieben, das täte er, das wolle er tun, das hat er ihnen aber nie gesagt, und sie hätten es wohl auch nicht hören wollen, nicht die Moni, nicht die Marlene, nicht die Kathi, die wollten doch auch nur ihren Spaß haben, Nacht für Nacht, und darüber hinaus für die Weltrevolution sterben. Lieber Himmel, was waren sie jung damals, so jung und unsterblich. Jedenfalls war es nicht gerade schlau gewesen, Polizisten zu beschimpfen, schon gar nicht, wenn die in der Überzahl waren, zwei gegen einen, und dieser eine, einzige, er, Much Pander, obendrein furchtbar verkatert war, gemartert von Kopfschmerzen, gequält von Brechreiz, zerrissen von Liebesleid, vom Nichtverstehen der Welt, vom schieren Unverständnis von allem. Schlussendlich hatte er kapituliert, die halbherzigen Schläge der Polizisten grinsend hingenommen, ertragen, kaum gespürt eigentlich. An den alten Virnich konnte er sich noch erinnern, seinen Nachbarn, wie er durch die halboffene Tür herausgespäht hatte, im Pyjama, und ihn, Much, hämisch angrinste und dann, als er, Much, schließlich aufgab, endgültig kapitulierte, sich verloren gab, sich totstellte, er, Much Pander, gestorben, zumindest sich so fühlend, und er, der alte Virnich, den Polizisten nachher womöglich, wahrscheinlich, ziemlich sicher, garantiert Kaffee und Kuchen angeboten hatte, der alte Haudegen mit dem Blut Unschuldiger an seinen Händen, ihm, Much Pander, zu Fleiß …

Much lehnte an einer Hausmauer. Ihm war schwindlig, er verspürte Übelkeit und leichte Kopfschmerzen und verfluchte Henniger, verfluchte den Glennfiddich, verfluchte die Hitze, verfluchte sich selbst, lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und fühlte sich erschöpft und, ja, seltsam niedergeschlagen. An diesem heißen Tag in dieser Stadt, in diesem Stadtviertel, in dem er so lange nicht mehr gewesen war und in dem er sich jetzt verlaufen hatte. Das war doch ein Witz. Er stieß sich von der Mauer ab, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, strich sich die Haare aus der Stirne und wünschte sich, ein Tourist zu sein.
Die Einheimischen waren ausgesprochen freundlich, schickten ihn da entlang, zeigten dorthin, ließen ihn um diese Ecke biegen, wiesen ihn um jene. Und plötzlich stand er in der winzigen Majakowskijgasse und sah den Eingang zum Anteo Zamboni. Das gab es also tatsächlich noch. Das Sacco war vor Jahren schon geschlossen worden, nach unzähligen Anrainerbeschwerden, das hatte er irgendwann noch mitbekommen.
Als Much das kühle Gewölbe betrat, war ihm, als käme er in eine andere Welt. Aber was ihm wirklich kurz den Atem verschlug, war der Geruch. Es roch so wohlbekannt und unverändert, als wäre er in ein Zeitloch gefallen.
Eine Handvoll Gäste saß an den Tischchen, Nachtvögel mit bleichen Gesichtern, unmöglichen Frisuren und wachen Augen, und an der Bar lehnte ein junger Mann, auch er wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, mit ausgebleichtem T-Shirt, Schlabberhose und Jesussandalen. Er nickte Much freundlich zu und hielt ihm eine Selbstgedrehte hin.
„Willst? Ist ziemlich geiles Zeug.“
Die junge Sinéad O’Connor kam aus der Küche und Much spürte, wie sich seine Nackenhärchen sträubten, nein, natürlich war sie es nicht, es war einfach ein hinreißend schönes Mädchen mit kurzgeschorenem Haar und in seinem silbernen Ohrschmuck spiegelten sich die bunten Lämpchen des Flaschenregals und funkelten wie Lametta.
Much bestellte zwei Bier.
„Much … auf dich.“ Er hob sein Glas.
„Cool, Much. Danke. Ich bin der Brad. So wie Brad Pitt. Also Brad Estinato … Dichter.“ Der Typ kicherte wie ein Schulbub und die Kellnerin lächelte wie ein Engel.
„Alles Gute zum Geburtstag, Much.“ Sie strahlte ihn an.
„Hä? Woher weißt du, dass ich heute Geburtstag hab?“
„Ach, die spinnt“, sagte Brad und grinste, „das sagt sie zu beinahe jedem neuen Gast. Und manchmal landet sie halt einen Glückstreffer.“
„Und heute bist du das Glückskind.“ Das Mädchen beugte sich über die Bar, zog Muchs Kopf zu sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Much bestellte drei Tequila.


Winter, gestern

So war das gewesen im Herbst, so hatte er damals den Brad kennengelernt und Thiota, Brads bezaubernde Freundin. Immer öfter traf er die beiden, mindestens zweimal die Woche, meistens im Anteo und sie redeten und redeten und nach jedem Mal fühlte sich Much ein wenig mehr verstanden, ein wenig klüger und ein wenig jünger. Ein Schulterklopfen von Brad zählte fünf Minuten, ein Lächeln von Thiota eine Stunde, eine Umarmung von ihr einen Tag und ein paar von Brad auf eine Serviette gekritzelte Zeilen eine Woche.
Brad vertrödelte seine Tage vorwiegend auf der Kunstakademie, aber in Wahrheit war er Dichter. Genau so hatte er sich vorgestellt, Dichter, nicht Literat oder Schriftsteller. Als ihn Much einmal fragte, ob es ein Buch von ihm gäbe, schaute ihn Brad verständnislos an und schüttelte den Kopf. Er schriebe doch für Thiota, sagte er.
Ende Dezember gab er Much erstmals ein paar seiner Gedichte zu lesen, endlich, im Anteo, wo sonst, und Much schrieb sie sich noch in derselben Nacht in sein Notizbuch ab, kaum eines länger als zehn, zwölf, höchstens fünfzehn Zeilen, und trank dann bis zur Sperrstunde mit Brad Bier und Mescal.
Am nächsten Tag ließ er die Werkstatt kurzerhand Werkstatt sein und fuhr raus aufs Land. Er lief stundenlang durch einen tiefverschneiten Wald und lernte die Gedichte auswendig. Welch vollkommene Poesie, dachte er, so rein, so erhaben, so in sich ruhend wie der Winterwald.
Much stapfte durch die Gegend wie ein Irrer. Er stapfte durch den knietiefen Schnee, sprach, flüsterte, rief die Verse in den eisigen Himmel, rang um Atem, lehnte sich an Baumstämme, blätterte in seinem Büchlein und der Schweiß rann ihm über die Stirn und gefror in seinen Augenbrauen zu glitzernden Perlen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, fühlte sich an irgendetwas erinnert, gemahnt an Gedanken und Ideen, kaum festzuhalten, die er vor dreißig Jahren weniger gedacht, als vielmehr geahnt und nie in Worte hatte fassen können. War dies das Große, das er damals gesucht, aber nicht zu benennen gewusst hatte?
Wie konnte ein Zweiundzwanzigjähriger so etwas schreiben? Woher hatte der solche Worte, solch eine Wut und solch eine Weisheit? Wusste er etwas, das Much nicht wusste? Nie erfahren hatte? Die Sätze waren so klirrend kalt, so bitter, so scharf. So glasschneidend hart. So klar und zart und gleichzeitig tonnenschwer. Much ahnte, dass da in zwölf Zeilen womöglich mehr drinnen steckte, als er in seinem ganzen Leben zustande gebracht hatte. Er schriebe nur für Thiota, hatte Brad gemeint, dieser Träumer.
Much hatte eiskalte Zehen und fröstelte. Was wusste dieser kleine Scheißkerl mit den bunten Glasperlen und den Wollfäden im Haar, die ihm Thiota in die Zöpfchen hineinflocht? Was wussten die zwei, was Much nicht wusste? Welches Geheimnis loderte in den beiden? Und könnte er, Much, die Reste seiner eigenen Glut noch einmal anfachen? Konnte nicht ein Funken einen ganzen Wald in Brand setzen?
Herr im Himmel, er war doch noch nicht alt.

Es war längst dunkel, als er in die Stadt zurückfuhr, nass, verschwitzt und frierend. In der Eckkneipe neben der alten Schraubenfabrik trank er Tee mit Rum, ließ sich von Chomsky einen Sechserpack Bier geben und stiefelte dann über den verschneiten Hof zur Werkstatt. Er riss eine Dose auf, lehnte sich an das Stahltor, rauchte und starrte minutenlang in den Nachthimmel. Castor und Pollux, Prokyon, Beteigeuze und Bellatrix, Almilam, Saiph und Rigel, alle waren sie da. Nur Sirius schien hinter einem Schornstein hängen geblieben zu sein. Much warf die Kippe in den Schnee und schloss das Tor auf.
Er riss die Seiten mit den Gedichten aus seinem Buch und heftete sie an die Wand über der Werkbank, dann setzte er sich mit dem Skizzenblock davor und begann zu zeichnen. Kurz vor Mitternacht machte er sich schließlich an die Arbeit. Er malträtierte sich und das Werkzeug und erst recht den Stahl, er schnitt, hämmerte, schweißte, verbog, schlug, haute und drosch. Er verbeulte, begradigte, fräste, schliff, verwarf, begann von Neuem. Er kämpfte wie ein Berserker. Er fühlte sich großartig.
Im Morgengrauen hatte Estinatos erstes Gedicht Gestalt angenommen.
Um zehn Uhr vormittags fuhr Much nach Hause und lag anschließend zwei Tage im Bett, mit Fieber und mit zerschundenen Händen. Am Abend des dritten Tages tauchten Brad und Thiota mit einem Topf Hühnersuppe auf, machten ihm heißen Grog und verschleppten ihn anschließend ins Anteo. Thiota hatte Geburtstag.

Brad Estinato. Der Name war Much nie ungewöhnlich erschienen, er wusste ja, dass Brads Vater Spanier gewesen war. Señor Bradorico Estinato. An dem Abend, als Brad Much von seiner Kindheit in Cartagena erzählte, lachte er dabei die meiste Zeit, grinste, gestikulierte wie ein Straßenhändler, schnitt Grimassen und starrte dann wieder minutenlang stumm in sein Bierglas. Sein Vater sei ein wohlhabender Mann gewesen, Besitzer eines Varietés, obendrein ein verdammter Mujeriego, ein Weiberheld, der die Frauen behandelt habe wie Putzfetzen, erzählte er, wie den letzten Dreck. Seine gesamte Kindheit hindurch war Brads größter Wunsch gewesen, einen anderen Vater zu haben, doch bevor er alt genug war, Bradorico Senior umzubringen, traf den der Schlag. Er starb während seiner Lieblingsbeschäftigung, als er schwitzend und rammelnd auf einer Dienstmagd oder einer Nutte, einem Esel oder einem Schaf zugange war, egal, war ja eins wie’s andere für diesen Hijo de la Chingada, und dann war er tot, mausetot. Der alte Hurenbock hatte sich schlicht zu Tode gefickt. Am selben Abend noch, er war gerade mal sechzehn, hatte Brad mit zwei Sparbüchern seines Vaters in der Tasche Spanien verlassen, war in die Heimatstadt seiner Mutter gefahren und nannte sich seit damals Brad. Brad Estinato. Ein wohlklingender Name, sonst nichts.


März, heute

Erst Pia stieß ihn mit der Nase darauf, immerhin hatte sie Latein gehabt in der Schule, nicht er. Das war zwar mehr als fünfunddreißig Jahre her, aber sie war eben ein schlaues Mädchen.
„Was soll das heißen, es gibt keine Zufälle?“ Much schüttelte genervt den Kopf. „Das ganze Leben ist eine Reihe von Zufällen. Und ich meine jetzt nicht nur mein Leben oder dein Leben, sondern das Leben an sich.“
„Ach Much, du bist so schrecklich fantasielos.“ Pia griff nach ihren Zigaretten, ohne die Tarotkarten aus den Augen zu lassen. Eine nach der anderen nahm sie vom Stapel und legte sie offen auf den Tisch, schob sie hierhin und dahin, ordnete sie nach einem rätselhaften Plan.
„Was wäre das denn für ein trostloses Leben, wenn in allem überhaupt kein Sinn steckt? Dass alles nur zufällig passiert. Nein, Much, das wäre echt traurig.“
So sehr Much seine Schwester liebte, mit ihr zu diskutieren, egal worüber, brachte ihn regelmäßig auf die Palme. Pia war klug, witzig, charmant, obendrein ungemein attraktiv, aber sie hatte eindeutig einen Dachschaden.
„Wieso traurig? Warum soll ein Wunder weniger wert sein, nur weil es nicht geplant geschieht, sondern zufällig? Ich meine, schau dir doch zum Beispiel nur mal dieses ganze Evolutionsdings an. Das ist eine einzige Aneinanderreihung von Zufällen. Also von zufälligen Fehlern halt. Und was dabei alles rausgekommen ist. Wahnsinn. Ist das etwa kein faszinierendes Wunder? Du liest die falschen Bücher, meine Liebe. Du solltest dir mal den Dawkins vornehmen.“
Was stritt er sich überhaupt mit ihr? Es war doch sowieso zwecklos. Er hätte ihr von der Sache gar nicht erst erzählen sollen, er hätte doch wissen müssen, dass sie ihm sofort wieder mit ihrem Hokuspokus käme. Mit Kraftlinien, Schwingungen, Arthur Köstler, Zahlenmagie. Es war immer dasselbe mit ihr. Herr im Himmel, diese Irre war tatsächlich seine leibliche Schwester? Blut von seinem Blute, Fleisch von seinem Fleische? Das durfte ja nicht wahr sein.
„Sag bloß, du findest nach wie vor nichts dabei, dass der Typ so einen seltsamen Namen hat. Sowas nennst du Zufall? Also wenn ich dich richtig verstehe, hat mit diesem Brad doch der ganze Schlamassel überhaupt erst angefangen.“
Sie lehnte sich im Sofa zurück und schaute ihren Bruder nachdenklich an.
„Ich sag’s dir jetzt noch einmal, Much: Brad Estinato – praedestinatus. Meinst du etwa, ich hab mir das ausgedacht? Kannst ja selbst im Pons nachschauen. Und dieser Typ läuft dir ausgerechnet im Zamboni über den Weg, wo du fünfundzwanzig Jahre lang nicht warst. Und nicht, was weiß ich, beim alten Chomsky zum Beispiel. Noch dazu an deinem Geburtstag. Das kommt dir nicht eigenartig vor?“
„Ein witziger Zufall halt.“
„Sei nicht so stur, ach was sag ich, sei nicht so dämlich. Nur weil du fünf Jahre jünger bist, brauchst du dich nicht benehmen wie ein Fünfjähriger.“
„Pia, bitte.“
„Gib mir mal das große Papier dort und einen Bleistift. Und den roten Filzschreiber.“ Sie schob die Karten zusammen und steckte sich noch eine Zigarette an.
„Du rauchst wie ein Schlot. Pia. Furchtbar.“
„Na und, du ja auch. Setz dich her.“ Sie schnappte sich den Bleistift und strich sich damit eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Also, nur damit ich das jetzt richtig verstehe: Im Herbst verschafft dir der Leo diesen Auftrag beim Henniger.“ Sie malte zwei Kreise aufs Papier, schrieb in den einen ein L, in den daneben ein H.
„Dann entpuppt sich der Henniger als unsympathischer Banause und du willst eigentlich gar nichts mit ihm zu tun haben. Und um sozusagen den Kopf aus der Schlinge zu kriegen, verlangst du diesen aberwitzigen Preis. Du vervielfachst einfach dein ursprüngliches Angebot, richtig? Und um wie viel?“
„Hab ich dir eh gesagt. Ich hab’s mit elf multipliziert.“
„Genau, mit der Elf, der kleinsten zweistelligen Primzahl.“ Pia schrieb eine fette rote Elf in die Mitte des Blattes und darunter ein seltsames Symbol.
„Weißt du, wie die alten Sumerer die Elf nannten?“
„Pia, ich bitte dich.“
„Die Sumerer rechneten mit einem Duodezimalsystem und die Elf betrachteten sie als eine Art retardierendes Moment. Die Zahl des Orion hieß sie bei ihnen, nach den elf hellsten Sternen des Himmelsjägers.“
„Mir reicht’s langsam.“
„Du hältst jetzt den Mund, kleiner Michi. Wie viele Whisky hast du mit dem Henniger damals getrunken?“
„Keine Ahnung. Vier oder fünf.“
„Wahrscheinlich fünf, auch eine Primzahl. Jedenfalls genug, dass du angeduselt warst. Noch dazu bei der Hitze an dem Tag. Und dann bist du besoffen durch die Altstadt gelatscht und prompt über das Anteo gestolpert. Bring mir mal den Brockhaus mit M. Und die Buntstifte.“
Much ging zum Bücherregal und machte auf dem Rückweg einen Abstecher in die Küche, um sich noch eine Flasche zu holen. Pia machte ihn schier verrückt.
„Ma, Maf, Mag … Majakowskij. Da haben wir ihn ja schon. … Na bitte. Ich hab’s ja gewusst. Neunzehnhundertdreißig hat sich der Vladimir aus der Welt terminiert. Das darfst du jetzt selbst ausrechnen, Brüderchen.“
„Was zum Teufel soll ich ausrechnen?“
„Na die Quersumme von Tausendneunhundertdreißig, Dummi.“
„Alles okay mit dir, Pia? Oder brauchst du einen Arzt?“
„Werd nicht frech, Kleiner.“ Sie strubbelte ihm die Haare. „Mein kleiner, zynischer Intellektueller. Hach, ich mag dich einfach.“ Sie schrieb eine Dreizehn aufs Papier, darunter neuerlich ein fremdartiges Zeichen, zog Linien, kritzelte da ein paar Wörter, dort ein paar Zahlen hin.
„Herr im Himmel, Pia, du hast echt eine Schraube locker.“
„Klappe, Much. … So, wo waren wir? Im Anteo lernst du also diesen Tagedieb kennen, diesen kleinen Hippie mit seinem närrischen Flittchen. Die beiden verdrehen dir den Kopf, dann hängst du bald nur mehr im Anteo herum. Gehst kaum mehr in die Werkstatt, benimmst dich wie ein bescheuerter Achtzehnjähriger. Midlifecrisis, oder was? Dann kommt eines Abends der Henniger zu dir, im November, richtig? Verschleppt dich ins Chez Orion, säuft dich unter den Tisch und gibt dir schließlich Zwanzigtausend bar auf die Hand, als Anzahlung, sagt er. Bis dahin hast du aber noch keinen einzigen Handgriff gemacht an dem Ding, sagst du. Und am nächsten Morgen haut’s den Henniger von seiner Dachterrasse runter. Siebenter Stock, stimmt’s? Heiliger Bimbam! Und weil das vermutlich Schwarzgeld vom Henniger war, weiß kein Mensch von dem Haufen Geld. Ist wie ein Lottotreffer. Michi, Michi.“
Während Pia sprach, hatte sie immer wieder auf dem Papier gekritzelt, weitere Kreise gezeichnet, rätselhafte Symbole gemalt, ein schwarzes Kreuz neben das H gemacht, Linien von hier nach dort, von dort nach da gezogen, gerechnet, durchgestrichen, radiert, überschrieben, übermalt. Das Blatt sah mittlerweile aus wie ein früher Basquiat. Sie blickte Much ernst an.
„Ja, mein kleiner Liebling, scheint so, als hättest du dich gehörig in die Bredouille geritten.“
„Komm, Pia, ich bitte dich, lass es gut sein. Echt. Das ist doch alles vollkommener Unsinn. Ich wollte mich doch nur ein wenig unterhalten mit dir. … So von Bruder zu Schwester. Weil ich momentan echt nimmer weiß, wo mir der Kopf steht.“
„Und das wundert dich? Seit Monaten baust du keine vernünftigen Dinge mehr, verkaufst nichts, verkriechst dich in deiner Werkstatt. Weiß der Teufel, was du dort machst. Oder treibst dich im Anteo herum. … Sag mal, Much, bist du etwa verknallt in die Kleine? Schläfst du gar mit der?“
„Machst du Witze?“
„Ich mach mir einfach Sorgen um dich. Seit gut drei Monaten lässt du mich nicht mehr in die Werkstatt. Findest du das etwa normal? Ich will dir doch nur helfen, mein kleiner Michael.“
„Verdammt, Pia, ich bin nicht mehr der kleine Michael. Ich bin kein Schulbub mehr.“
„Ist schon gut, Much. Wir schweifen ab ... praedestinatus heißt auf Deutsch vorherbestimmt, das weißt du ja jetzt. Denk mal drüber nach. Dieser Brad und das Mädchen tun dir einfach nicht gut. Das seh ich auch alles da in dem Diagramm.“
Diagramm? Ich lach mich schief. … Herrgott, Pia, das ist doch nur sinnloses Gekritzel. Und was sind schon Namen? Mein Nachbar heißt Resnik, das kommt vom tschechischen řezník, Metzger, und der Typ ist Tänzer. Und im vierten Stock wohnt ein Herr Lama, kein Witz.“
„Ja, mach dich nur lustig. Warum kommst du dann überhaupt angetanzt und jammerst mir die Ohren voll?“
„Ich wollte dich halt einfach sehen. Muss dann eh wieder weg. Muss noch in die Werkstatt.“
„Wann darf ich dich besuchen, Much? … In der Werkstatt. Ich mein’s ernst.“
„Hm, bald. … Mal sehen.“ Er beugte sich zu Pia und küsste sie.
„Mach’s gut, große Schwester. Ich liebe dich.“
Pia strich ihm zärtlich durchs Haar.
„Pass auf dich auf, Michi.“
In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen.


Frühling, morgen

Seit im Februar in der Gino-Lucetti-Straße die alte Fabrik abgerissen worden war, hatte Much morgens für ein paar Minuten Sonnenstrahlen in der Werkstatt. Als er das zum ersten Mal erlebt hatte, war es ihm wie ein Wunder vorgekommen. Die Maschinen, bis dahin nur von Neonröhren beleuchtet, glänzten im goldenen Licht, die Stahlsäulen warfen nie gesehene Schatten und die Staubteilchen zeichneten Striche in die Luft.
Much hatte sich beim alten Chomsky einen Kaffee geholt und als er zurückkam, erlebte er genau diesen magischen Augenblick. Auch heute ließ ihn das Schauspiel nicht kalt. Die ölige Dreckschicht auf der Metora-Säge sah aus wie ein lebender Schimmelpilz, die Kette des Flaschenzuges schleuderte Blitze und die Eisernen Gedichte schienen sich zu bewegen, schienen zu tanzen wie Derwische. Much ging langsam um sie herum und mit jedem seiner Schritte veränderten sie ihre Gestalt, ihre zerschrammten, zerrissenen, geflämmten, verbogenen, verzogenen, verdrehten Oberflächen schillerten in allen Farben, flüsterten Worte ins Sonnenlicht, sprachen zu ihm, Much, von Sonne, von Wald, von längst Vergessenem, von Schnee, von Blut, von Ozeanen, von Träumen. Von Spanien, von Pia, von Thiota. Und als die Sonne weiterwanderte und ihre letzten Strahlen die großen Acetylengasflaschen streiften, dann immer kürzer wurden, sich zurückzogen auf den Hof, zurückkehrten in ihre helle Welt draußen, verstummten die Gedichte nicht, sondern sprachen weiter. Leise raunten sie Much zu, kaum hörbar. Much aber verstand jedes Wort. Thiota, Pia, Isa, Mona, Kathi. Anteo, May, Sophie, Hans, Emiliano, Rosa. So viele Leben, so viele Hoffnungen. So viel Mut und so viel Leid.
So viel Unbeugsamkeit und Optimismus.
Much trank den Kaffee aus und suchte Werkzeug zusammen. Er stopfte es in eine Umhängetasche, verlängerte zu guter Letzt die Schläuche des Schneidbrenners und schleppte alles in den Hof. Dreimal musste er schwer bepackt die Feuerleiter hochsteigen, um den Kram auf das Blechdach zu schaffen, dann machte er sich an die Arbeit.
Am späten Nachmittag war er wieder unten in der Werkstatt, trank Bier, rauchte und grinste durch die großen Öffnungen im Dach hinauf in den Frühlingshimmel. Schließlich ging er zum alten Chomsky hinüber, um den Glaserer anzurufen.
Und danach Pia.

 
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Dass du, lieber Friedel,

ob der Namenskonstruktion eher müde gelächelt
hast, kann ich dir natürlich nicht verdenken, genauso wenig wie du mir verdenken darfst, dass ich, wäre ich noch der rotzfreche, achtzehnjährige Bengel von einst, dich nach deinem Kommentar vermutlich fragen täte: “Alter, ey, was rauchst du für Zeug, Mann, ey?“
Da ich ein solcher aber seit gut sechsunddreißig Jahren nicht mehr bin, will ich es etwas gelassener angehen, und mich einfach darüber wundern freuen, was einer wie du so alles in meine Geschichte hinein- bzw. aus ihr herauszulesen imstande ist, sofern er es darauf anlegt und über das entsprechende Maß an sprachhistorischen Kenntnissen, Bildung, Schalk im Nacken und unnützem Wissen verfügt.
Natürlich könnte ich auch sagen, du unterstellst mir, dem Autor, Fähigkeiten bzw. Absichten, die mir in Wahrheit und wahrhaftig fernliegen. Weil: Nie käme es mir z.B. in den Sinn, über die Herleitung der Namen meiner Protagonisten aus dem Mittelhochdeutschen, dem Althochdeutschen, dem Ostflämischen, dem was weiß ich was mir den Kopf zu zerbrechen. Dafür bin ich einfach zu wenig schlau und/oder zu faul. Ich verlasse mich da lieber auf mein intuitives Gefallenfinden am Wohlklang von Wörtern. Oder, ich will‘s mal so sagen, du scheinst mir bisweilen einfach die Intentionen der Autoren falsch einzuschätzen oder/und in deinem Drang zu assoziativen Amokläufen weit übers Ziel hinauszuschießen. (Wobei ja der Weg bekanntermaßen allemal das Ziel sein kann.)
Ich sag‘s mal ganz offshore-untypisch kleinlaut: Ich fühle mich von deinen Kommentaren bisweilen arg überfordert und komme mir schon ganz großartig vor, wenn ich deine Zitate richtig zuordnen kann. Was in diesem Fall ja nicht so schwer war, kann doch einer wie ich den gesamten Faust auswendig.
Nein, kann ich natürlich nicht. Wenn ich, offshore, etwas gut kann, und ich meine so wirklich richtig und ungemein gut, dann sind das nur drei Sachen: mein Broterwerbshandwerk perfekt zu beherrschen, herzzerreißend schöne Liebesbriefe zu schreiben und mich ziel- und hemmungslos mit vollkommen hirnbefreitem Nonsens (siehe meine Antwort auf deinen letzten Kommentar) zu vergnügen. Hab ich was vergessen?
Was ich sagen will: wir unterhalten uns von vollkommen verschiedenen Ebenen aus. Hier der sprachwissenschaftlich beschlagene, geistige Kapriolen schlagende Theoretiker Friedel, da der unernste Quatschkopf offshore.
Dass ich dir mit meiner Geschichte trotzdem so viel Stoff zum Nachdenken bieten kann, freut mich natürlich.
Und apropos natürlich: Natürlich werde ich den von dir fälschlich als Komperativ interpretierten Begriff des Glaserers nicht durch Glaser ersetzen, aus demselben Grund nicht, aus dem ich nie z.B. ab und an statt ab und zu sagen, geschweige denn schreiben werde, oder Sahne statt Obers oder Blumenkohl statt Karfiol, einfach weil ich Österreicher bin, mit Leib und Seele und vor allem mit Zunge.

offshore

 

Dass ich dir mit meiner Geschichte trotzdem so viel Stoff zum Nachdenken bieten kann, freut mich natürlich.
Und apropos natürlich: Natürlich werde ich den von dir fälschlich als Komperativ interpretierten Begriff des Glaserers nicht durch Glaser ersetzen, aus demselben Grund nicht, aus dem ich nie z.B. ab und an statt ab und zu sagen, geschweige denn schreiben werde, oder Sahne statt Obers oder Blumenkohl statt Karfiol, einfach weil ich Österreicher bin, mit Leib und Seele und vor allem mit Zunge.
So isset jut undsoll't auch sein, saacht'e

Friedel,
demet jefällt!

 

Heute hat der Zufall zugeschlagen (eingentlich schon gestern),

lieber ernst!

Wer oder was ist Komparativ vom Glaser?
zur Passage
Schließlich ging er zum alten Chomsky hinüber, um den Glaserer anzurufen.

Der Zufall heißt Florian Kessler, der in der Literaturbeilage zur aktuellen Zeit über „Schwätzen und Schlachten“ der Verena Roßbacher schreibt („Es schwätzt sich schlecht allein“, Zeit Literatur Nr. 12, März 2014, S. 16), wenn darin – im Roman (von 640 Seiten) und der Rezension) ein »Österreichflüchtling« namens „Stanjic […] und Glaser, eine Art Medienkünstler“ auftauchen, von denen zumindest der zuerst genannte bereits im Debüt der Frau Roßbacher („Verlangen nach Drachen“) wirkte. Neben Dauerdampfplauderei in Berlin mit unergründlichem Humor z. B. wird über die „Töpfer- und Kunstbedingungen in DDR und [BRD Erwägungen] angestellt […] Was zugleich zur Schnapsidee einer Berliner Mauer aus Töpferton führt, um sodann das politische Konzept von »Töpferstaaten« zu umkreisen.“

Was natürlich meiner armen Seele nach mehr hungern lässt - Roßbacher & offshore natürlich!

Schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

offshore goes offtopic

Friedel schrieb:
Heute hat der Zufall zugeschlagen (eingentlich schon gestern),

Wie’s der Zufall will, hat selbiger quasi doppelt zugeschlagen.
Just am Abend vor deinem Posting, in dem du, Friedrichard, Glaser, eine Art Medienkünstler in Verena Roßbachers Buch erwähnst, kramte ich aus meinem Bücherregal den Roman Gourrama von Friedrich Glauser, um einen Satz nachzuschlagen, den ich dann eh nicht fand.
Die akzidentelle Komponente dieses Aufeinandertreffens war allerdings ganz nach meinem Geschmack. Oder, um es mit Napoleon Bonaparte zu sagen: Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.

Gruß von offshore

PS
Eigentlich schreibt man eigentlich nur mit einem n.

 

Richtig!

Auch ich bin fehlbar - ich hoff, dass Du nicht sonderlich überrascht bist,

lieber Ernst.

Gruß aus'm vernieselten Pott vom

Friedel

 

Hallo!

Ich vermute auf diesen drei Seiten Postings finden sich schon genug Vorschläge in jede Richtung, aber ich glaube aber an das quantitative Prinzip in der Literaturkritik, vielleicht ziehst du also auch noch ein wenig Nutzen aus meinen Anmerkungen. Ich konzentriere mich der Einfachheit halber auf Dinge, die mir nicht so gut gefallen haben, möchte aber vorab anmerken, dass die Sprache durchgehend sehr angenehm dahinfließt, der Ton passt wunderbar zur Geschichte.

„Ist gekauft, mein lieber Pander, nullo Problemo, ich hab’s ja. Sind Peanuts, hähä. Noch einen Schluck?“

Dieser Satz nur pars pro toto für die Charakterisierung Henningers. Vielleicht hast du bei diesem Drecksack eine Spur zu dick aufgetragen. Dadurch fällt er aber in sich zusammen, wird zu einer Comicsfigur, und es entsteht ein wenig der Eindruck einer Hybridproduktion (Falsches Spiel mit Roger Rabbit). Ein Hinweis: Solche Leute buhlen oft ernsthaft um die Zuneigung der Künstler, die sie fördern, sie haben meistens auch eine hohe soziale Intelligenz (wie sollten sie sonst erfolgreich Leute ausnehmen?). Das finde ich bei diesem Henninger nicht. Muss vielleicht auch nicht sein, aber ich würde die Figur sicher in diese Richtung entwickeln. Vielleicht hätte der Tod dann auch mehr Gewicht. So wird er ja ausgeknipst wie ein unnötiges Insekt. Vielleicht wäre auch der Selbsthass von Much begründeter, wenn er sich ein wenig von seinem Auftraggeber um den Finger hätte wickeln lassen. Weißt du, Much kommt bei dir ja eigentlich sehr sauber/unbefleckt aus diesem ersten Teil der Story raus. Die Selbstzweifel stehen dann in keinem plausiblen Verhältnis dazu.

Später: Als retardierendes Moment würde ich den Henniger mal anrufen lassen, durchblicken lassen, dass es nicht der erste Anruf ist. Hinhaltetaktik von Much, der sich lieber mit dem Bohème-Pärchen und den Gedichten beschäftigt. Auch damit diese Figur nicht völlig im Hintergrund verstaubt.

Hier irgendwo, versteckt in einem Souterraingewölbe, war einst das legendäre Anteo Zamboni gewesen, erinnerte er sich.

„erinnerte er sich“ weg? Auch weil du dann gleich mit „Er wusste noch“ weiter machst.
Also darstellende Rede – der Leser ergänzt sich das im Kopf problemlos.


Es war heiß wie in Spanien, er knöpfte sich das Hemd wieder auf und versuchte, im Schatten zu bleiben. Gleichzeitig bemühte er sich,

das "bemühen" und "versuchen" ist hier vielleicht gar nicht nötig. Eines von beiden kann auf jeden Fall weg.

Aber wie würde Henninger sagen? Das sind Peanuts!

Schönes aber rätselhaftes Finale. Vielleicht eine Spur zu rätselhaft? Auch vorher die Funktion der Schwester ist nicht ganz klar, obschon sich die Eso-Passage gut liest. Überhaupt dieses Gefühl, dass man irgendwie "weitergereicht" wird von einer Figur zur nächsten, Hauptfiguren zurückgestuft werden, das hat etwas Herausforderndes.

 

Servus baronsamedi,

… vielleicht ziehst du also auch noch ein wenig Nutzen aus meinen Anmerkungen. Ich konzentriere mich der Einfachheit halber auf Dinge, die mir nicht so gut gefallen haben, möchte aber vorab anmerken, dass die Sprache durchgehend sehr angenehm dahinfließt, der Ton passt wunderbar zur Geschichte.
Es ist immer wieder interessant für mich zu beobachten, wie sich mit der Zeit mein Verhältnis zu meinen Geschichten wandelt. Wie die anfängliche Überzeugung, nicht ein einziges Komma anders setzen, nicht eine einzige der mit Herzblut geschriebenen Formulierungen verbessern zu können, eben diese Euphorie (Selbstüberschätzung?) über den Text schön langsam einer realistischen, nüchterneren Sichtweise weicht. Und wenn dann Monate nach dem Verfassen ein Leser dieses beanstandet und jenes vorschlägt, frage ich mich dann bisweilen, verdammt, wieso bin ich da nicht selbst draufgekommen?
Gerade was die Figur des Hennigers betrifft, hast du vollkommen recht, der böte über die reine Karikatur hinaus ja wirklich noch einiges an Entwicklungspotential. Aber für mich war der halt nicht mehr als eine (wenn auch nicht unwichtige) Nebenfigur. Ebenso vertrüge auch Much selbst noch eine stärkere Charakterisierung, vielleicht in die Richtung, dass seine Entwicklung vom idealistischen, rebellischen Jugendlichen zum desillusionierten, von der Midlifecrisis gebeutelten Nostalgiker zumindest in groben Zügen etwas deutlicher gezeichnet wird.
Mir ist schon klar, dass die Geschichte bei vielem nur in Andeutungen verbleibt, aber, na ja, mit beinahe viereinhalbtausend Wörtern ist sie meine bislang längste Kurzgeschichte. Ob ich sie mir nocheinmal vornehme und gehörig erweitere? Mal sehen. Momentan ringe ich ohnehin schon wieder mit einer neuen Geschichte, die thematisch ganz woanders angesiedelt ist. (Eine radikale Antithese zur klassischen Bergliteratur.)

Vielen Dank für Lesen und für deinen Kommentar, baronsamedi.

offshore

 

Mahlzeit und guten Abend!

Der Schatten des Windes, kennst Du das? Ein außerordentlich poetisches Buch. Spielt im Barcelona der 40er und 50er Jahre.

Ich habe Much gelesen. Und es erinnert mich an das o.a. Buch. Aber ... Much ist unvollständig. Das ist mir schon ein paar Mal aufgefallen bei deinen Texten. Sie sind unvollständig. Ich sehe die Romane dahinter. Die Worte sind deutlich zu spüren. Warum lässt du sie nicht raus? Du bist ein Romancier. Zweifellos. Kurzgeschichten zwischendurch sind so was wie Schreibübungen.

Okay, ich wollte meinen ersten Roman auch in meinen 20ern schreiben, aber ich war ein grüner Apfel, sauer und unreif. Als ich im Urlaub im Erzgebirge war, schrieb ich ne Kurzgeschichte und schrieb plötzlich immer weiter, weiter und weiter. Nach 3 Monaten und 450 Seiten war ich dann fertig. Und jetzt, beim 2ten Roman, ist diese Mauer überwunden. Es geht viel einfacher, es läuft locker.

Ich jedenfalls, sehe deutlich die Romane in diesen Geschichten. Auf geht's.

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Morphin schrieb:
Much ist unvollständig. Das ist mir schon ein paar Mal aufgefallen bei deinen Texten. Sie sind unvollständig. Ich sehe die Romane dahinter. Die Worte sind deutlich zu spüren. Warum lässt du sie nicht raus? Du bist ein Romancier. Zweifellos. Kurzgeschichten zwischendurch sind so was wie Schreibübungen.

Tja, Heiko, den Vorwurf, dass manche meiner Geschichten eher wie Entwürfe oder gar nur wie Anfänge zu etwas Größerem wirken, habe ich mir schon öfters anhören müssen. Und obwohl ich die Vorwürfe nachvollziehen kann, weiß ich nicht recht, wie ich mit ihnen umgehen soll. Weil sie entkräften zu können, hieße ja nichts anderes, als dass ich über meinen Schatten springen, meine ganze Einstellung zum Schreiben in Frage stellen müsste. Ich will nicht kämpfen wollen mit den Worten, ich will mit ihnen spielen. Mir fehlt schlicht die Zeit, mich auf was Größeres einzulassen, und so begnüge ich mich momentan halt damit, mich als einen stilverliebten Schwadroneur zu sehen, und nicht als seriösen Erzähler.
Na ja, mal sehen. Vielleicht packt mich ja wirklich irgendwann doch noch der Ehrgeiz.

Danke für deine netten Worte, Heiko.

offshore

PS
Sollte sich wer über die absurd hohen Zugriffszahlen dieser Geschichte wundern: Das ist Quinns Schuld. Er hat in einem Kommentar zur Geschichte die Formulierung „Brüste der Prinzessin“ verwendet, kein Witz. Und da drehen offenbar die Suchmaschinen-Algorithmen durch. Diese Keywords sind wohl sowas wie ein Pawlowscher Schlüsselreiz für die.

 
Zuletzt bearbeitet:

Bea Milana schrieb:
Dennoch MUSS ich dir jetzt einfach mal sagen, wie sehr mich deine Geschichten hier im Forum ganz besonders wegen ihrer Erzählstimme beeindrucken.
Das ist ein wunderschönes Kompliment, Bea, ganz lieben Dank, und dass du ausgerechnet die Much-Geschichte hervorkramst, um mir das zu sagen, freut mich umso mehr. Immerhin hat diese Geschichte – auch wenn ich sie längst nicht mehr zu meinen besten zähle – nach wie vor einen ganz besonderen Stellenwert für mich. Die Art und Weise nämlich, wie und vor allem von wem sie bei ihrer Veröffentlichung (als Maskenballtext) wahrgenommen und rezipiert wurde, empfand ich damals als beinahe so was wie einen literarischen Ritterschlag. War für mich so was wie meine ganz persönliche Initiation bei den im Dezember 2013 sich gerade neu formierten „Wortkriegern“.
Und ich mag die Geschichte ja nach wie vor. Nur, wenn ich sie heute lese … na ja, da denk ich mir, ist halt so ein typischer offshore-Text. Sprachlich, stilistisch nahezu alle Kritiker beeindruckend, aber darüber hinaus? Mal ehrlich, Bea, müsstest du jemandem in drei Sätzen den Inhalt, den Plot(!) erzählen, äh … was käme denn da raus?

"Much im Frühling" ist für mich ein farbenprächtiges, beinah epochales Gemälde
… sagst du, und damit bringst du es ja im Grunde schön auf den Punkt.

… anmutig, sprachgewaltig und vielschichtig
Genau. Aber darüber hinaus? Ist es eine Geschichte im Sinne von Geschichte?
Oder nicht doch nur lediglich eine Aneinanderreihung von schönen Sätzen und Sprachbildern?
(Wobei ich mich jetzt ja nicht einmal rechtfertigen müsste, immerhin hab ich schon mehrmals in Kommentaren eingestanden[sup](Beleg erforderlich)[/sup], dass ich mich, was das Schreiben betrifft, in Wahrheit für einen Scharlatan halte. Ich tu halt so, als ob …
Aber nach wie vor sind mir in meinem Leben so unendlich viele Sachen so unendlich viel wichtiger als das Schreiben, dass ich mir sag, drauf geschissen, bin ich halt ein Scharlatan, der sich in Wahrheit keine tollen Plots ausdenken kann. Na und?)


Aber apropos Stilistik:

Hier fragte ich mich, warum du den Konjunktiv gewählt hast
Das frag ich mich nach dreieinhalb Jahren auch. Pff, echt keine Ahnung, Bea. (Hab ihn jetzt durch den Konj. I ersetzt.)
Und auch die zwei anderen Kleinigkeiten, die du angemerkt hast, werde ich vermutlich ändern. (Ihre Änderung zumindest in Betracht ziehen … :Pfeif:)
Diese Stelle allerdings eher nicht:

Kann man so machen, doch ich finde, dies ist der einzige Satz, der holpert und den so herrlich leichten, dahinfliegenden Sprachfluss / Lesefluss etwas unterbricht und ohne dramaturgischen Grund hakt (besonders beim laut Lesen). Da würde ich nochmal schleifen und Eleganz reinbringen und dieses geschwätzige "womöglich, wahrscheinlich, ziemlich sicher, garantiert" ... naja ich weiß nicht, das find ich unschön, in diesem Kontext unangebracht unentschieden und unpassend (auch zum Rest des Textes).
Das lass ich jetzt einfach mal so stehen, weil exakt zu diesem von dir zitierten Satz gibt es auch andere Eindrücke:

M. Glass schrieb:
Das ist überhaupt einer der geilsten Sätze in dem Text! Über das "als ob" ließe sich streiten, aber dieses Kapitulieren wird hier wahnsinnig gut beschrieben, wie das auch immer ein Prozess ist und wie man das am besten macht, wie es sich auch anfühlt, wie du dich sprachlich präzise an den Kern einer Sache tastest - "wahrscheinlich, ziemlich sicher, garantiert" - und dann am Ende das Spiel mit "das Blut Unschuldiger an seinen Händen" - doch, echt gut! (Dieses sprachliche Tasten sehe ich beim Inhalt auch, wobei es hier mehr zu tasten gibt und auch wenn die Hände das ganze Objekt zu fassen kriegen, sind sie doch zu kurz, um jeden Fleck mit ihrer Haut zu bedecken, zu begreifen.)

Und fizzy (oh Gott, wie ich sie vermisse! :heul:) schrieb zu ebenjenem Satz das:

feirefiz schrieb:
… und an solchen Kleinigkeiten wird es dann ganz greifbar, wie saugut dieser Text gemacht ist.

Und das lass ich jetzt auch einfach mal so stehen:

Yep. Eine feine Geschichte für die Ewigkeit.
(Auch wenn ich mir’s kaum verkneifen kann zu sagen: Jetzt lass aber mal schön die Kirche im Dorf, liebe Bea.)

Vielen Dank, Bea.

offshore

 
Zuletzt bearbeitet:

Bea Milana schrieb:
Ja, natürlich ist das eine Geschichte, was meinst du denn, was es sei? Es ist sogar eine großartige Geschichte, die über die reine Handlungsebene hinausgeht.
Da werden ja Fragen (die Bedeutung nach dem Sinn) verhandelt, aufgeworfen, nicht beantwortet und beantwortet.
Auf der reinen Handlungsebene steckt die klassische Heldenreise dahinter. [...] Auslöser einer Krise, Tiefpunkt der Krise, Auferstehung aus der Krise bis zur Erleuchtung (das Schaffen im Licht).
Das Thema (Meta-Ebene oder tieferer Zusammenhalt) ganz klar: Existentielle Fragen des künstlerischen Schaffens und Seins.

Vielen Dank, Bea, für deine zusätzlichen Überlegungen. Die haben mich jetzt noch einmal ein bisschen über meine Geschichte nachdenken lassen und tatsächlich erscheint sie mir nun wieder in milderem Licht als noch vor ein paar Tagen. Offenbar lassen sich da wirklich mehr Dinge drin finden, als ich wissentlich hineingeschrieben habe.

... vielleicht ist es auch eine Attitüde des Understatements, die aus einer Art Klassenbewusstsein rührt
Auch darin muss ich dir rechtgeben. Hin und wieder kann ich‘s einfach nicht lassen, den Working Class Hero raushängen zu lassen.
Ob das nun angemessen ist oder nicht, können wir ja im Mai in Siegburg diskutieren. :D

Danke, Bea.

offshore

 

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