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Muchs Himmelfahrt
Zittrig rasierte er sich vor dem beschlagenen Spiegel. Das gestern war eindeutig zu viel gewesen. Zu viel in jeder Hinsicht. Zu viel Alkohol, zu viel Koks, zu viel Frauen, zu viel Streit mit Mona, zu viel Unwesentliches. Wann sollte er jemals wieder einen klaren Kopf bekommen, um etwas Vernünftiges zu produzieren? Er bekam Sehnsucht nach einem schlichten Raum mit einem Sessel, einem Tisch, einem Bett. Nach einem weißen Blatt mit nur einer, allerdings perfekten, schwarzen Linie, nach dem kalten, blauen Himmel, nach reiner Liebe, die nur ein Hauch von einem schönen Bild war, schwerelos und vor allem fern.
Und warum, verdammt, stank es hier auf einmal so? Furzte er schon, ohne dass er es selbst merkte? Als er sich vom Spiegel wegdrehte, um das Fenster zu öffnen, war da plötzlich noch jemand im Raum. Der Bocksbeinige saß auf dem Klo wie auf einem Thron. Muchs Knie gaben nach und er taumelte.
"Sie sind hiermit in meinen Klauen, zwischen meinen Bocksbeinen, in meinem Maul. Sie sind demzufolge mir verhaftet. Ich habe Sie im Visier, Sie sind mein auserwähltes Mittel, um Böses zu vollbringen. Sie haben das Recht zu schweigen, zu reden oder sonst was zu tun. So wahr Ihnen Gott nicht helfen wird!"
Much kniete auf dem Boden, er hatte das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Hier unten war der Gestank unerträglich.
"Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie das Subjekt namens Much sind, Künstler, 38 Jahre alt, wohnhaft in Ihrem eigenen Dreck?"
"Ich ... ", Much würgte.
"Ja? Sprechen Sie frei, nehmen Sie Ihr Herz in den Mund und spucken Sie es aus! Ich nehme es Ihnen ab, von Amts wegen wird dann allenthalben überprüft, ob noch Seele daran hängt. Ob hier anwesendes Subjekt überhaupt wert befunden wird, ihm auf den falschen Weg zu helfen."
Much wagte einen zweiten Blick auf den Teufel. Bis auf die Hufe und die gedrehten Hörner sah er eigentlich ganz normal aus. Allerdings war er nackt, wenn auch so dicht behaart, dass sein riesiges Geschlechtsteil aussah wie ein Aal in braunem Seegras. Ein Fellkostüm, Silikonteile und ein bisschen Schwefelwasserstoff und er, Much, fiel sofort auf dieses ganze Theater herein. Er straffte sich.
"Wer sind Sie wirklich, wie sind Sie hier hereingekommen und was wollen Sie? Ich glaube, ich werde gleich die Polizei rufen!" Er konnte sich nicht erinnern, wo er sein Handy hingelegt hatte.
"Um 9 Uhr 38 hiesiger Ortszeit ging in der Hochnotpeinlichen B. & B. Zentralanstalt für Ewige Feuerdynamik ein Notruf ein." Luzifer stand auf, ging auf Much zu, der spürte etwas Intensives, Hitze und Kälte, Anziehung und Abstoßung zugleich, er ließ sich hineinfallen wie in ein weiches Bett, in dem ein scharfes Messer steckt.
„Gute Feen gibt es nicht mehr, dank Incubus-Invasion Numero 497666.“ Dabei tätschelte der Teufel den blauen, nun halbsteifen Aal. Und der Teufel lachte. Nein, er lachte nicht, er sagte: „Hehehehehehehe.“
„Derowegen bin nun ich unrechtlich befugt, in meiner Eigenschaft als der verkommene, verfickte, verräterische Versucher, Ihnen zu helfen.“ Er stemmte eine Hand in die Hüfte, streckte seinen Hintern raus, sah Much mit einem verführerischen Augenaufschlag an und piepste mit hoher Stimme:
„Sä häben änän Wänsch fräh! Sä wärdän där gräßte Känstlär ällär Zätän, Sä wärdän däs änfässbärste, vällkämmänstä Känstwärk schäffän, zä däm jä än Mänsch fähäg wär!“
Dann beugte er sich zu Much hinunter und packte ihn an der Kehle.
„Dafür müssen Sie das Wertvollste opfern, das Sie besitzen. Sie werden sich kraft meiner allmächtigen Vollmacht an nichts mehr erinnern, aber Sie werden sich entscheiden!“
Der Teufel drückte fester zu und Much verlor das Bewusstsein.
Gut gelaunt öffnete Much seinen Gästen. Alle kamen sie gerne, arme Künstlerkollegen, die gutes Essen und reichlich alkoholische Getränke zu schätzen wussten, junge, schöne Frauen, unwiderstehlich angezogen von dem Glauben, sich hier im Zentrum von irgendwas zu befinden, und von der Möglichkeit, ein schlimmes Mädchen sein zu können. Leute wie Henniger, die Geld hatten, Geld, dem sie gerne die Kunstmasche umbanden. Mona, sein Schätzchen, sein Zeitvertreib, seine Folter. Und schließlich, tatsächlich als Letzter, ein junger Mann, den Much noch nicht kannte, der aber auf den ersten Blick erkennen ließ, dass er das nötige Aussehen und genug Arroganz besaß, um romantisches Unglück zu verbreiten. Much warf Henniger einen Blick zu, der nickte verstohlen.
„Willkommen, Sie müssen Manuel sein. Fühlen Sie sich wie zuhause!“ Henniger kam zu ihnen und zog den neuen Gast mit sich fort.
Much setzte sich auf die Couch, seine gute Laune war verflogen. Er würde heute viel Alkohol brauchen, aber es würde das letzte Mal sein. Um ihn herum standen Grüppchen von Leuten, die lebhaft redeten. Worüber zur Hölle konnten die sich bloß alle so angeregt unterhalten? Es gab doch gar nicht so viele Dinge, die es wert waren, so viele Worte darüber zu verlieren. Und er hielt Sprache sowieso für überschätzt, dieser ganze konzeptionelle Kunstscheiß – er hing ihm zum Hals raus, er wollte etwas schaffen, das für sich sprach, zu dem man keine seitenlangen Erklärungen brauchte, etwas unmittelbar Sinnfälliges. Diese ganze heuchlerische, überhitzte Kunstblase wollte er mit nur einem einzigen Werk zum Platzen bringen!
Mona warf sich zu ihm auf die Couch. Da war es schon, das vollkommene Kunstwerk, aber er hatte sie nicht zu dem gemacht, was sie war. Sie war ihm fertig in den Schoß gefallen.
„Was willst du?“
„Ich bin deine Freundin, schon vergessen?“
„Hab gedacht, du willst mich verlassen?“
„Ich bin nicht mehr sauer auf dich. Du brauchst mich … die Tussi da letztes Mal, ich wette, du weißt nicht mal mehr, wie die hieß.“
„Sylvie.“
„Ja ja, sie hatte deinen Schwanz im Mund … was soll´s. Kann passieren!“ Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
Was war das denn jetzt wieder? Letztens hatte sie die Furie gespielt und heute gab sie den verständnisvollen Kumpel. Ihre Hauptbeschäftigung war, ihn zu beschäftigen! Er kam zu nichts mehr, er hechelte seinem Eichhörnchen wie ein dummer Hund hinterher, ohne Aussicht, es je zu erwischen. Und warum? Weil er so vernarrt war in ihr wie mit Tusche gezeichnetes Gesicht, in ihren satten Geruch und nicht zuletzt und vor allem in ihre pneumatische Muschi.
„Schon mal so einen alten Ritterroman gelesen?“
„Weiß nicht, vielleicht. Warum?“
„Da gab es den Begriff des „Verliegens“. Wenn Ritter in ihre Frauen so verliebt waren, dass sie keine Lust mehr hatten, in die Welt zu ziehen und Abenteuer zu bestehen. Ich verliege mich bei dir.“
„Du bist in mich verliebt?“ Sie hatte das einzig für sie Wesentliche bei seiner Botschaft verstanden. Und sie wurde rot vor Freude.
„Ich muss auch mal was anderes machen, als mich um deine Launen zu kümmern.“
„Du willst Geld von Typen wie Henniger nehmen und es den Armen geben? Witwen und Waisen beschützen? Mir einen Keuschheitsgürtel anlegen?“ Sie kicherte und kuschelte sich an ihn. Es fühlte sich so gut an, brauchte er wirklich mehr als das? Weich, warm, warm, sie lullte ihn ein, machte ihn willenlos, träge Blasen aus Glück blubberten in ihm.
Aber die Pistole lag bereits auf dem Tisch und wartete darauf, abgefeuert zu werden.
Much und Mona tanzten, sie tranken, sie schnupften weißes Pulver, sie liebten sich. Alle Schranken schienen aufgehoben, nichts trennte sie voneinander, nichts trennte sie von irgendwas oder irgendwem, nichts konnte sie aufhalten, nichts war falsch, sie waren so übervoll mit Allem, dass sie jedem geben konnten …
Und so fand sich Much schließlich auf seinem Bett mit drei nackten Frauen, von denen keine Mona war. Die glatten Körper erschienen ihm wie sich windende Schlangen, die ihn bald erdrücken würden. Er schob sie weg und stand auf. Noch ein Blick zurück, auf seinem Bett wogte es weiter, niemand vermisste ihn. Er wollte zu Mona.
Die sitzt noch immer auf der Couch, allerdings nackt. Zwischen ihren weit gespreizten Beinen steht ein junger Gott und wiegt sich in Sicherheit. Aber neben ihrem Kopf steht auch ein hässlicher alter Faun mit Fassbauch. Manuel fickt sie und Henniger drückt seinen Schwanz in ihr präraffaelitisches Madonnengesicht. Much rastet aus. Manuel schlägt er von hinten mit der Faust auf den Kopf, Henniger mit der anderen so fest er kann in den Wanst. Fassungslos nimmt er gleichzeitig wahr: Mona ist nicht so weggetreten, wie er es gerne hätte. Es passiert nicht viel, keiner tut sich weh, nur die Stimmung kippt gehörig.
„Alter, stell dich nicht so an. Ob jetzt einer oder zwei was mit ihr machen, ist doch egal.“ Hennigers Erregung nimmt nicht ab.
Mona reißt die Augen auf.
Manuel sagt auch was: „Ich hab doch genau das getan, was ich tun sollte.“
„Du gehst einfach! Raus hier!“ Much zittert am ganzen Körper.
Manuel verzieht sein schönes Gesicht. „Was ist mit meinem Geld?“
Mona sieht Much an. „Was für ein Geld? Much, ich versteh nicht, ich wollte nicht … du hast doch auch … Much, was meint er mit dem Geld?"
Henniger schiebt endlich sein Ding in eine Hose. „Schon gut, Manuel, ich mach das dann schon, geh jetzt!“ Manuel geht relativ unarrogant ab.
„Was macht er dann schon?“ Monas Stimme kippt. Sie steht auf und stellt sich vor Much. „Was ist hier eigentlich los? Sag doch endlich, ich kapier das alles nicht!“
Much dreht sich weg, hin zu Henniger, und schreit:
„Und du musst sofort jede Gelegenheit nutzen, um deinen Schwanz irgendwo hinzustecken, oder? Sie ist meine Freundin, schon vergessen? Du rubbelst dir auf dem Gesicht meiner Freundin einen ab, hast du sie noch alle?“
„Du wolltest sie doch loswerden, oder? Du hast doch gesagt: Ich muss ihren Bann brechen, sonst kann ich nicht mehr arbeiten.“ Den letzten Satz säuselt Henniger affektiert. „Ob sie jetzt nur von Manuel gevögelt wird oder ich auch noch ein bisschen auf meine Kosten komm dabei, was soll´s?“
„Und weiter? Ich will´s jetzt wissen, was hier eigentlich vorgeht!“ Mona ist eine Marmorsäule, starr, glatt und farblos.
In Much geht das Licht aus, als er merkt: Henniger legt erst richtig los.
„Er wollte, dass ich jemanden anheuere, um dich zu vögeln. Jemanden, der unwiderstehlich ist.“ Henniger sieht irgendwie zufrieden dabei aus, Much entgeht das nicht.
„Mona, das war doch nur, weil wir uns gestritten haben.“
„Du bezahlst also jemanden, damit er mich vögelt, damit du mich dabei erwischst, damit es leichter für dich wird, mich loszuwerden? Damit du frei bist für deine Scheiß-Kunst? Ist das so richtig?“
Jetzt ist sie ein weiß glühender Stein.
„Und du? Lässt jeden an dich ran, der dich haben will! Sogar Henniger, diesen alten Hurenbeutel!“
„Henni, bringst du mich nach Hause? Ich hab hier nix mehr vor.“
„Du lässt dich von dem nach Hause bringen? Merkst du nicht, wie großen Spaß es ihm macht, uns auseinanderzubringen? Willst ihn wahrscheinlich nochmal drüberlassen.“
Mona zieht sich schweigend an, bei der Tür, die Henniger ihr aufhält, dreht sie sich um. Sie sieht so traurig aus. Das hat sie also auch drauf?
„Besser wär gewesen, du hättest mich gleich richtig gekillt.“
Es war vollbracht. Much breitete die Arme aus, drehte sich einmal um die eigene Achse, ließ sich von allen Seiten mit Licht überfluten. Wochenlang hatte er geschuftet, geschwitzt, geweint, verworfen, neu angefangen. Hatte alles hier raufgeschleppt, weil er dem Himmel nah sein wollte. Hatte Regen, Hitze und Wind getrotzt. Hatte alles andere vergessen.
Nun stand es fertig vor ihm. Oder besser gesagt, an das Geländer der Dachterrasse geschraubt. Das obere Ende stieß ins Blau des Himmels.
Das ultimative Kunstwerk. Sein Werk. Seinem Innersten entsprungen. Wahr, echt, ausdrucksvoll, für sich selbst sprechend. Das Irdische überschreitend, sein Weg in ein höheres Sein. Für alle ein Weg in ein höheres Sein. Es würde die Kunst revolutionieren. Weil es in seiner Transzendenz den tiefsten Sinn der Kunst unmittelbar zeigte. Für alle sichtbar.
Es war --- eine Leiter. Hie und da mit glitzernder Goldfarbe beschmiert.
Much fühlte sich leicht wie eine Feder, als er den Fuß auf die erste Sprosse setzte. Höher und höher ging es, er jauchzte. Dem Licht immer näher. Eine Sprosse brach, er verlor das Gleichgewicht und fiel.
Und Much lachte, nein, er lachte nicht, er schrie: Hehehehehehehe.