Mutter
Munroe schlug den Mantelkragen hoch und überquerte die Straße.
Es war Ende April und er trug noch immer lange Unterhosen. Im Radio redeten sie seit Tagen von milderen Temperaturen, aber für sein Empfinden war es saukalt. Er hustete seit einiger Zeit und die Blase spürte er auch. Wenn man ihn fragte, würde der Winter das ganze Jahr über andauern. Aber man fragte ihn ja nicht.
Als er morgens aus dem Fenster geschaut hatte, war dicker Nebel durch die Straßen gewabert, der sich den ganzen Tag nicht verzogen hatte. Jetzt in der Dunkelheit wirkte die Straßenbeleuchtung noch armseliger als sie es den Tag über getan hatte. Das gelbe Licht der Natriumlampen war kaum mehr als ein Schimmer.
Munroe ging dicht an den Häuserwänden entlang, um der Kälte nicht ganz ungeschützt ausgesetzt zu sein. Er fluchte leise. Er hasste dieses Wetter - an Tagen wie diesem spürte er immer seine Gelenke.
Er wusste, dass er bald sterben würde, auch wenn ihm die Ärzte etwas anderes vorheuchelten. Sein Körper war eine Ruine, aber sie behandelten ihn wie ein hysterisches Weib. Oh, wie er es hasste, wenn sie ihn mit süßlicher Stimme einzulullen versuchten - „Aber nein, Mr. Munroe, Sie werden nicht sterben. Ihre Knochen sind etwas abgenutzt, aber das ist völlig normal in Ihrem Alter. Ansonsten sind Sie absolut gesund.“ – verdummendes Gewäsch. Aber ihm würden sie nichts vormachen. Er wusste, was los war. Ihm war nicht mehr zu helfen - da konnten sie reden wie sie wollten.
Aus diesem Grund hatte er vor einiger Zeit einen Notar aufgesucht und alles geregelt. Viel gab es ohnehin nicht zu regeln, da er bis auf seine Mutter ohne Anhang war. Er hatte mit Frauengeschichten nie viel zu schaffen gehabt und war nicht verheiratet. Und so war sie diejenige, die seine Ersparnisse erben würde, wenn es soweit war. Er hatte Monat für Monat, Jahr für Jahr einen kleinen Teil seines Buchhalter-Gehaltes beiseite gelegt, um gerüstet zu sein für schwerere Zeiten.
Nun, die schweren Zeiten waren ausgeblieben und so hatte sich im Laufe der Zeit das hübsche Sümmchen von 200 £ angehäuft. Nicht, dass er seiner Mutter das Geld von Herzen gönnte, aber da er weder eine wohltätige Ader noch eine Familie besaß, wusste er nicht, wohin sonst mit dem Geld.
Munroe hasste das Leben. Aber mehr noch als das Leben hasste er die Menschen. Wie egoistisch sie waren. Wie hochmütig. Wer von ihnen umgab sich schon mit einem kleinen Buchalter? Wer von ihnen wollte schon etwas wissen von ihm und seinem Leben? Sie interessierten sich nicht für seine Verbitterung und seinen bevorstehenden Tod.
Selbst bei der Arbeit in seinem Buchhalter-Büro in der großen Firma übersahen sie ihn. Sie wollten nur etwas wissen über Automobile, über Aktien und über Geld. Über Waren, Verkaufskurse und Rechnungen. Für sie war wichtig, wie viel man ihnen in Übersee für den Rotz, den sie verkauften, bezahlen würde. Er passte da nicht hinein. Er war ja nur ein kleines Zahnrad mit seiner Buchhalter-Weste und seiner Buchhalter-Brille. Er musste funktionieren und niemand fragte, wie er sich dabei fühlte.
Aber schließlich hatte er ihnen ebenso den Rücken gekehrt wie sie ihm und er hatte sich gut gefühlt dabei - auch, wenn das niemanden interessierte. Von da an hatte er im Büro andere Seiten aufgezogen. Hatte sie mit eisiger Nichtachtung gestraft, hatte die Höflichkeiten auf ein Minimum reduziert, hatte sie spüren lassen, was er von ihnen hielt. Da hatten sie schon ein wenig gestutzt, denn so hatten sie ihn noch nicht kennen gelernt. Ja, ihm erschien es sogar, dass sie ihm jetzt mehr Respekt entgegenbrachten. Und den verdiente er auch. Schließlich war er ein anständiger Mann mit traditionellen Gedanken, der alles, was er anpackte, gründlich erledigte. Niemand hatte Grund, sich zu beklagen, wenn er ihn mit einer Arbeit betrug. Er war sparsam, ehrlich und penibel. Und das war seiner Ansicht nach einigen Respekt wert.
Er rümpfte die Nase und stopfte die Hände tiefer in die Manteltaschen. Seine Finger fühlten sich taub an. Scheiß-Wetter!
Auf der anderen Straßenseite lief ein schwarzer Junge mit der Zeitung von morgen und schrie lauthals die jüngsten Meldungen heraus. Es war schon spät und der Junge hätte eigentlich längst im Bett sein müssen, aber Munroe kannte kein Mitleid. Wenn es nach ihm ginge, brauchte niemand geschont zu werden, der alt genug zum Arbeiten war. Und dieser kleine Affe war alt genug.
Er wechselte wieder die Straßenseite, um dem Kind eine Zeitung abzukaufen. Er wollte sogleich einen Blick in das Blatt werfen, wurde aber von dem Jungen daran erinnert, daß er noch nicht bezahlt hatte. „Entschuldigung, Sir, das kostet zwei Pence“, sagte der Junge zaghaft und hielt Munroe zitternd seine Hand hin. Dieser ließ das Geld hineinfallen und achtete sorgsam darauf, den Wilden nicht zu berühren. Dann schlug er die Zeitung auf, um zu sehen, was es Neues gab. Da hatte sich eine Schauspielerin zu Tode gesoffen, irgendwelche Aktien waren in den Keller gefallen und in irgendeinem Krieg gab es soundsoviele tote Soldaten zu beklagen. Die Nachrichten waren allesamt langweilig oder deprimierend. Munroe warf die Zeitung in den nächstbesten Mülleimer, fischte sie jedoch gleich wieder heraus, um sie daheim zum Heizen zu verwenden.
Ein Automobil fuhr an ihm vorbei und dabei durch eine große Pfütze, so dass seine Hosenaufschläge besudelt wurden. Er schüttelte die geschlossene Faust in Richtung des Wagens, doch es kam keine Reaktion. Vor Wut stampfte er mit dem Fuß auf und stieß einen Fluch aus.
Es gab einfach Tage, an denen man besser im Bett blieb und ein solcher schien heute zu sein. Aber was sollte er jammern? Er konnte ja doch nichts dagegen tun.
Verdrossen setzte er seinen Spaziergang fort und kam zwei Straßen weiter an einer Kneipe vorbei. Er blieb stehen, um durch die Fenster hineinzuschauen.
In der Regel mied er solche Menschenansammlungen - hier stank es immer nach Zigarren und schlechten Gedanken. Außerdem waren solche Häuser voller Huren. Nicht, dass er eigene Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte, aber seine Mutter hatte ihm Schlimmes über sie erzählt. Sie hatte gesagt, daß alle Frauen, die man in solchen Örtlichkeiten antraf, Huren seien und daß er sich vor ihnen hüten solle, weil sie einem das Geld stahlen und verderbt seien. Und zum Trinken hatte er sich seit seiner Jugend nicht mehr in solche Häuser begeben. Und auch damals hatte er es nur getan, weil seine Freunde ihn dazu überredet hatten. Aber im Grunde waren das keine Freunde, die einen zu Prasserei und Sittenlosigkeit verleiteten. Alkohol war eine reine Geldverschwendung und er gestattete sich nur bei besonderen Anlässen den Genuss desselben. Weihnachten zum Beispiel, wenn er mit seiner Mutter vor dem Radio saß, die Weihnachtsmesse anhörte und ein Glas Portwein trank.
Er seufzte und ging weiter.
Munroe folgte den düsteren Gassen und durchquerte alle fünfzig Meter den schwachen Lichtkreis einer Laterne. Er kannte die Straßen nicht, war er doch zum ersten Mal in diesem Teil von London.
Das Viertel lag direkt am Hafen und er konnte von Zeit zu Zeit die Nebelhörner der großen Frachter hören. Die Luft roch hier ganz anders als bei ihm zuhause. Hier hingen Maschinenöl und Salz in der Luft. Der Geruch gefiel ihm; er hatte etwas an sich, das Munroe nicht kannte und das wohl der Duft der weiten Welt war.
Normalerweise suchte er nicht gerade die Nähe des Wassers; er konnte nicht schwimmen und war zudem wasserscheu. Deshalb lenkte er für gewöhnlich seinen allabendlichen Spaziergang in Richtung Hide-Park oder er blieb auf den großen Einkaufsstraßen. Heute jedoch hatte ihn irgendetwas hierher verschlagen.
Vielleicht war es die dunkle Abgeschiedenheit des Viertels oder das Wissen, dass er hier ungestört seinen Gedanken nachgehen konnte. Jetzt jedenfalls war er hier und damit weit entfernt von all den arroganten Lackaffen.
Er bog um eine Ecke und entdeckte eine Frau, die an einer Laterne lehnte und eine Melodie summte. Munroe klemmte seinen Kopf tiefer zwischen die Schultern und wollte sie passieren. Er war in etwa auf gleicher Höhe mit ihr als sie auf ihn zu trat und ihn mit unbeteiligter Miene ansprach.
„Na, Süßer, so allein? Brauchst Du noch ein Bett heut' nacht?“
Munroe wich etwas von ihr zurück und blickte sie konsterniert an. Die Frau war dick und alt, er schätzte sie auf Anfang Fünfzig. Ihre Kleidung war nachlässig und schien nicht so recht zu passen. Der Rock war fleckig und das Leder der Schuhe abgenutzt und schäbig. Das Haar war zu einem fahrigen Knoten aufgesteckt, der sich jede Sekunde lösen konnte. Beim Sprechen entblößte sie eine große Zahnlücke an der Stelle, wo die oberen Schneidezähne gesessen hatten. Sie nahm seine Hand und schlang ihren Arm um seinen Nacken. Die Worte seiner Mutter im Kopf, wollte Munroe sie angewidert wegstoßen, aber ihre Hand war sanft und als sie sich an ihn drückte, spürte er ihren weichen Busen. In ihrem Gesicht spielte ein Lächeln, das Munroe an seine Mutter erinnerte. Er ging mit ihr.
Sie wohnte in einem winzigen, zugigen Zimmer, das kaum Platz für sie beide bot. Die Frau nahm seine Hand und steckte sie unter ihre Jacke. Er spürte einen Busen, der unglaublich voluminös war. Nachgiebiges Fleisch, das sich in mehreren weichen Rundungen über den Bund ihres Rockes legte. Ganz anders als vorhin sprach sie auf einmal mit sanfter, einlullender Stimme zu ihm und er fühlte sich wie ein kleines Kind. Er gab jede innere Gegenwehr auf und ließ sich forttragen von ihren kundigen Händen. Sie küsste ihn auf den Mund und er spürte mit seiner Zunge die glatte, kahle Stelle Zahnfleisch in ihrem Oberkiefer. Er schmeckte Alkohol auf ihrer Zunge. Sie zog sich den Rock aus und lockerte ihr Korsett. Dann legte sie sich auf das schmale Bett und sah ihn mit fast mütterlichem Blick an. Er öffnete seine Hose und legte sich zu ihr.
Als er fertig war, ordnete er seine Kleidung und legte einige Münzen auf den kleinen Nachttisch. Dann verließ er hastig die heruntergekommene Herberge. Als er auf das Trottoir trat, sah er sich nach Passanten um und ging, als niemand zu sehen war, mit hochgeschlagenem Kragen in Richtung der großen Einkaufsstraße.
Der Nebel hatte sich etwas aufgeklart und ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Munroe schaute auf seine Taschenuhr, es war elf durch. Seine Mutter würde sicher noch wach sein, wenn er nach Hause kam. Sie wartete immer, bis er wieder zu Hause war. Er beschloss, sich auf den Heimweg zu machen.
Doch plötzlich kam ihm ein beklemmender Gedanke - was nun, wenn seine Mutter bemerkte, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war? Zumal mit einer Dirne! Was nun, wenn er nach dieser Frau roch - nach ihr oder nach dem, was er mit ihr getan hatte? Er hatte sich nicht gewaschen, nachdem er fertig war und seine Kleidung hatte er achtlos auf den Boden fallen lassen.
Mit einer fahrigen, eiligen Bewegung zog er die Jacke aus und begann, daran herumzuschnüffeln. Ein Pärchen auf der anderen Straßenseite schaute verwundert zu ihm herüber, doch er bemerkte ihre neugierigen Blicke kaum. Er beschnupperte die Jacke von oben bis unten, damit ihm auch nicht der kleinste Hauch eines Parfums oder der muffigen Herbergsluft entging. Er konnte nichts riechen, aber sie - sie würde es merken. Seiner Mutter blieb niemals etwas Sündiges verborgen.
Munroes Hemd wurde von dem unbarmherzigen Regen völlig durchweicht und er wusste, dass er seiner Mutter auch das nicht würde erklären können. Er zog die Jacke wieder an und bemerkte fluchend, dass ein Ärmelaufschlag nass und dreckig war; er war wohl in eine Pfütze gefallen, als Munroe die Jacke ausgezogen hatte. Beinahe panisch rieb er an den Flecken herum, aber das machte es nur noch schlimmer. Er fluchte und seine Stimme klang fast weinerlich dabei. Nein - die Jacke war beschmutzt und er konnte nichts mehr dagegen tun.
Er begann zu schwitzen. Hektisch rieb er sich die Stirn und überlegte, was er tun konnte. Sollte er seine Mutter belügen, wenn sie nach dem nassen Hemd und der dreckigen Jacke fragte? Sollte er sagen, er sei irgendwo ausgerutscht und hingefallen? Das würde zwar den dreckigen Ärmel erklären, nicht aber sein nasses Hemd. Sollte er sagen, er sei überfallen worden? Aber dann würde sie zur Polizei laufen wollen und die würden eine Geschichte hören wollen. Das ging nicht, er musste einen anderen Weg finden.
Gehetzt sah er sich um; fast meinte er, seine Mutter würde in der nächsten Sekunde in den Lichtkegel der Laterne treten und er fing an zu laufen. Er wusste zwar nicht, wohin er lief, aber stehen bleiben konnte er nicht. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, musste versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Warum nur hatte er überhaupt einen Fuß in dieses verfluchte Viertel gesetzt? Wäre er doch nur wie jeden Abend durch den ruhigen Park spaziert! Dort wäre ihm sicher keine Hure begegnet und er hätte auch sicher nicht ein solches Problem am Hals wie jetzt.
So sehr Munroe auch grübelte - er wurde immer kopfloser. Er war fast hysterisch, achtete nicht auf seinen Weg, lief ein paar Schritte hierhin, ein paar Schritte dorthin. Er merkte nicht, dass er sich längst in den vielen kleinen Straßen verlaufen hatte. Und er merkte auch nicht, dass das Geräusch der gelegentlichen Nebelhörner mittlerweile viel lauter war, als früher am Abend.
Kurz darauf stolperte Edwin Munroe in seiner Verwirrung und fiel in das große Hafenbecken. Die Wellen schlugen mit ohrenbetäubendem Lärm über ihm zusammen und er war überrascht, dass er sich überhaupt so nah am Wasser befunden hatte. Bevor die Kraft des Wassers ihn für immer nach unten zog, dachte er mit Unbehagen daran, dass er seiner Mutter mächtig viele Fragen würde beantworten müssen.