"Mutter!"
“Schmeckt dir der Kuchen nicht, Mutter?”, fragte Sören mit gespielter Gleichgültigkeit und griff sich demonstrativ ein weiteres Stück vom Beistelltisch.
“Ist doch lecker, der Kuchen! Oder etwa nicht. Mutter?”
Er stieß ein gequältes Lachen aus, die Kuchengabel in seiner Rechten zitterte. Mutter schwieg.
Nein, so hatte er sich das große Wiedersehen nicht vorgestellt! Nach all den Jahren, die Sören gebraucht hatte, um mit sich und seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen, um an sich zu arbeiten, um zu verdrängen und zu vergessen, war Mutter doch ganz die alte geblieben. So als wäre es erst Tage her, seit sie im Streit auseinander gegangen waren.
Enorme Überwindung hatte es Sören abverlangt, wieder Kontakt zu Mutter aufzunehmen. Sie zu sich einzuladen. Um die Geister loszuwerden. Und nun saß sie da, vor einem unberührten Stück Kuchen und einer dampfenden Tasse Kaffee - und schwieg. Nicht, dass sich Mutter und Sohn jemals viel zu sagen gehabt hätten. Doch nun schien es beinahe, als wunderte sie sich selbst, wie sehr sie ihren Sohn noch immer verachtete.
„Hmm! Lecker!“, keuchte Sören, der sich hastig ein Kuchenstück nach dem anderen in den Mund schob. Er konnte Mutters Blick auf seiner Stirn spüren und es fühlte sich an, als würde dieser ein großes, qualmendes Loch in seinen Schädel brennen! An ihrem halb mitleidigen, halb angewiderten Starren war die Zeit offenbar völlig spurlos vorüber gegangen. Dieses Mal jedoch wollte Sören widerstehen.
Entschlossen würgte er den letzten Bissen hinunter, hob den Kopf, und begegnete Mutters Blicken in stummer Kampfansage. Ihm war sofort klar, dass er verlieren würde. Brutal und unanfechtbar starrten ihre Augen über den Esstisch, hinein in seine Seele, wo verängstigt noch immer das kleine Kind kauerte. Sören sah entmutigt ein, dass er ihr noch immer nichts entgegenzusetzen hatte.
Und doch: War da nicht auch eine gänzlich neue Nuance in Mutters Augen? Eine seltsame, dunkle Leere?
Schlagartig kam Sören der Gedanke, dass er Mutters Verhalten eventuell völlig falsch interpretierte. Vielleicht offenbarte ihr Schweigen nur die Verlegenheit nach langer Trennung, und die Leere ihrer Augen nur die schwindende Hoffnung, nicht mehr zu ihrem Sohn durchdringen zu können. Ließ sich das Eis vielleicht doch noch brechen?
„Wie ich sehe trägst du das Kleid, dass ich dir gekauft habe, Mutter.“
Immerhin hatte sie sein Wiedersehensgeschenk nicht verschmäht. Vielleicht hatte es ihr sogar gefallen.
„Es steht dir außerordentlich gut.“
Mutter war alt geworden, stellte Sören mit einer gewissen Befriedigung fest. Aus den mit Rüschen besetzten Ärmeln des geblümten Kleids ragten ihre dünnen Ärmchen wie ausgetrocknete Zweige. Sören fand, dass sie überhaupt sehr dünn geworden war. Sorgte ihr Erstgeborener nicht anständig für seine Mutter?
„Und? Wie geht es dem Torben?“
Torben, der Überflieger! Immer wieder hatte Sören versucht, aus dem Schatten des Älteren zu treten. Zu zeigen, dass auch er jemand war, der etwas auf die Beine stellen konnte. Am Ende erntete Sören nur Hohn und Spott.
„Beruflich läuft es sehr gut bei mir, Mutter.“, entfuhr es ihm, während er die Kuchengabel zwischen den Fingern drehte. „Im Baumarkt leite ich bald schon eine eigene Abteilung. Ja, Abteilung.“
Flüchtig schielte der Sohn über den Tisch. Mutter schien wenig beeindruckt. Sie neigte langsam den Kopf zur Seite, als wolle sie sagen: „Und weiter?“
„Erinnerst du dich an unseren lustigen Duschvorhang damals, Mutter?“, platzte es aus Sören heraus. „Im Baumarkt haben wir…“
Er hielt plötzlich inne.
„Mutter?“
Seine Mutter schien ihm nicht mehr zuzuhören. Ganz sanft war ihr der Kopf bis auf die Schulter gesunken. Sören hielt die Luft an. War sie vor Langeweile eingeschlafen? Oder nur erschöpft von dem anstrengenden Rendezvous? Neugierig und mit einem Anflug von Mitleid betrachtete er die alte Frau auf der anderen Seite des Tisches. Sie sah so verwundbar aus, wie sie da hockte. Und so friedlich. Umspielte nicht gar ein Lächeln ihre Mundwinkel?
Sören wurde plötzlich warm ums Herz. Er war sich sicher, irgendwo hinter dem faltigen, eingefallenen Gesicht musste es einen Funken Liebe für den Sohn geben. Und hatte sich diese Liebe auch in der Vergangenheit nie gezeigt, so konnte sich doch in Zukunft noch immer alles zum Guten wenden.
Es bedurfte nur etwas Zeit.
„Du bist müde, nicht wahr, Mutter?“, flüsterte Sören, während er leise aufstand.
„Dann bringe ich dich jetzt wieder zum Torben.“
Er verharrte einige Sekunden. Schießlich beugte er sich zu seiner Mutter hinab und küsste sie vorsichtig auf die Wange.
„Hab dich lieb, Mutter.“
Dann schaffte er die Leiche zurück in den Keller.