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Mutters Söhne singen wieder
Wer dealt im deutschen Land?
Wer ist’s, denn ich so hasse,
Der Kanacke, du hast’s erkannt.“
Das Lied dröhnt in voller Lautstärke bei geöffneten Fenstern über die Straße, die Nachbarn wissen eh Bescheid.
Die Kameraden belehren ihren Neuen, den Kleinen, einen fünfzehnjährigen, schmächtigen, wissbegierigen Jungen.
Hör zu: Ausländer vergewaltigen unsere Frauen.
Sie dealen mit Drogen an unseren deutschen Schulen.
Nehmen uns die Arbeit weg.
Leben auf unsere Kosten.
Aber nicht mehr lange.
Wisst ihr noch, was Michael bei der letzten Versammlung sagte?
Vernachlässigt eure ausländischen Mitbürger nicht?
Genau, das hat er gesagt. Michael ist einer von der Partei.
Kevin furzt, grinst, schaut herausfordernd in die Runde. Immer mit dem Arsch an der Wand lang, sagt er. Die Parteiler sind für ihn Angsthasen, Klugscheißer. Kevin ist Kämpfer, untersetzt, bullig, mit Glatze, Bomberjacke, geschnürten Stiefeln und in die Haut gestanzte Zeichen. Tagsüber schläft er, nachts zieht er los und plündert Geschäfte: Tür eintreten, Taschen voll packen, abhauen. Letzte Nacht überfiel er eine Fleischerei. Einen Teil der Beute wird er seiner Oma schicken.
Schluss mit dem Gequatsche.
Den Kleinen nehmen sie mit. Saufen kann er schon wie ein Alter, nun ist es an der Zeit, das Kämpfen zu lernen. Lange genug im Wald gespielt. Sie schlagen ihm aufmunternd auf die Schultern, dass er beinah die Treppe hinab stürzt.
Deutschland den Deutschen, ruft Kevin über den Marktplatz der kleinen Stadt. Es sind nur noch wenige Menschen unterwegs. Einige schauen kurz, alle gehen weiter, aggressive Schreie hinter ihren Rücken beschleunigen ihre Schritte.
Zeigt sich dort ein schwarzer Mann?
heute dürfen sie schon eine weiße Frau frech angucken.
Nigger, Nigger, raus aus unserem Land.
Nigger, Nigger, raus aus unserem Land.“
Tatsächlich, ein dunkelhäutiger Radfahrer.
Afrika den Affen!
Was für ein Glück, welch Provokation.
Nigger, dein letzter Tag ist gekommen!
Jeder kennt eine passende Parole. Nur die Stimme des Kleinen versteckt sich noch ein wenig hinter den kräftigen Bässen seiner Vorbilder.
Der Angriff entwickelt sich eher zufällig. Einer geht etwas schneller, einer beschleunigt für drei, vier Schritte, andere fallen in den Trab – und plötzlich rennen sie los.
Natürlich nutzt dem Opfer sein Fahrrad nichts, wenn Angst die Beine lähmt. Die Meute hat ihn längst eingekreist. Aufgerissene weiße Augen suchen vergeblich nach Hilfe.
ich mach dich kalt,
ich komm zu dir als Angstgestalt ...“
Es ist Kevin, der das Fahrrad hinten am Gepäckträger hochreißt, so dass die Querstange kräftig zwischen die Beine schlägt und für den ersten Schmerz sorgt. Danach folgt den Regeln des Straßenkampfes entsprechend ein harter Schlag mit der Faust auf die Nase, Diskussion beendet, Widerstand gebrochen, der Rest ist Formsache.
Abwechselnd werden schmerzhafte Schläge gesetzt auf Magen, Leber, Nieren, Nacken. Eine eindrucksvolle Demonstration verschiedener Kampfsporttechniken, ausgeführt mit Faust, Ellbogen, Knie, Fuß und ein Meister nutzt für den entscheidenden Niederschlag seinen blanken Schädel.
Vom Stand- geht es nahtlos in den Bodenkampf. Nichts für sensible Seelen; allein der Anblick, wie ein Könner mit seinen gepanzerten 14-Loch-Springerstiefeln einen liegenden Körper über Pflastersteine treibt, könnte Übelkeit erregen. Der Kleine steht daneben und schaut zu.
Kevin hält immer noch das Fahrrad in der Hand.
Mit seinen Kameraden sah er am späten Nachmittag ein YouTube-Video. Es zeigte russische Gleichgesinnte, die einen Kaukasier misshandelten und ihm zum Schluss den Kopf abschnitten. Einfach so, mit einer einzigen schnellen Bewegung, vor einer Hakenkreuzfahne.
Danach saß Kevin schweigend auf einem Bierkasten und starrte vor sich hin. Dann stand er auf und warf den Kasten aus dem Fenster, auf die Straße hinab, mit den vollen und den leeren Flaschen.
Jetzt wirft er das Fahrrad gegen einen Laternenmast.
Weg! Auf die Seite!
Seine Kampfgenossen schauen ihn erstaunt an, weichen einen Schritt zurück.
Kevin brüllt, rennt, springt hoch und landet mit beiden Stiefeln auf dem Kopf.
Sieg Heil!
Stille.
Kevin lacht. Er greift nach dem Baseballschläger eines Kameraden, trägt ihn zu dem neuen, dem Kleinen, drückt ihm den Schläger in die Hand.
„Hier. Von dir hab’ ich noch nichts gesehen. Hau zu.“
Der Kleine steht da. Seine Gedanken finden keine Worte.
„Genau, jetzt bist du dran.“ – „Nur keine Angst, der beißt nicht mehr.“ Die Anderen finden wieder ihren Spaß.
Der Junge steht da mit großen Augen und offenem Mund.
„Hei, du hast doch vorhin noch mitgesungen: Stiefel gegen Fresse knallen, Stiefel gegen Leiber knallen ...“
Die anderen stimmen ein: „ ... Blut, das auf die Straße spritzt, Bilder, die man nicht vergisst“
Der Schläger fällt ihm aus der Hand, schlägt auf das Pflaster.
„So einer bist du!“, rufen seine Kameraden. „Traut sich nicht. Große Klappe. So einen brauchen wir nicht. Ein Muttersöhnchen.“ Sie lachen. „Pass bloß auf.“
„Passt ihr alle bloß auf!“, schreit Kevin den Bürgern zu, die sich langsam nähern.
„Aufsitzen!“, gibt er das Kommando. Die Horde zieht sich zurück, Sieger verlassen den Marktplatz.
Nur ihr Kleiner, der so klein gar nicht mehr ist, bleibt stehen. Arme und Finger zeigen auf ihn. „Ruft die Polizei.“ – „Einen Arzt.“ – „Haltet den da fest.“ Ihm kommen keine passenden Lieder in den Sinn.
Jetzt sind es viele. Wo kommen sie alle her?
Am Abend werden Polizisten an den Türen klingeln. Mütter werden öffnen.
„Guten Abend“, werden die Beamten sagen, „wir kommen wegen ihrem Sohn.“