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Mutters Söhne singen wieder

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15.07.2008
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Mutters Söhne singen wieder

„Wer vermischt denn unsere Rasse,
Wer dealt im deutschen Land?
Wer ist’s, denn ich so hasse,
Der Kanacke, du hast’s erkannt.“​

Das Lied dröhnt in voller Lautstärke bei geöffneten Fenstern über die Straße, die Nachbarn wissen eh Bescheid.

Die Kameraden belehren ihren Neuen, den Kleinen, einen fünfzehnjährigen, schmächtigen, wissbegierigen Jungen.
Hör zu: Ausländer vergewaltigen unsere Frauen.
Sie dealen mit Drogen an unseren deutschen Schulen.
Nehmen uns die Arbeit weg.
Leben auf unsere Kosten.
Aber nicht mehr lange.

Wisst ihr noch, was Michael bei der letzten Versammlung sagte?
Vernachlässigt eure ausländischen Mitbürger nicht?
Genau, das hat er gesagt. Michael ist einer von der Partei.

Kevin furzt, grinst, schaut herausfordernd in die Runde. Immer mit dem Arsch an der Wand lang, sagt er. Die Parteiler sind für ihn Angsthasen, Klugscheißer. Kevin ist Kämpfer, untersetzt, bullig, mit Glatze, Bomberjacke, geschnürten Stiefeln und in die Haut gestanzte Zeichen. Tagsüber schläft er, nachts zieht er los und plündert Geschäfte: Tür eintreten, Taschen voll packen, abhauen. Letzte Nacht überfiel er eine Fleischerei. Einen Teil der Beute wird er seiner Oma schicken.

Schluss mit dem Gequatsche.

Den Kleinen nehmen sie mit. Saufen kann er schon wie ein Alter, nun ist es an der Zeit, das Kämpfen zu lernen. Lange genug im Wald gespielt. Sie schlagen ihm aufmunternd auf die Schultern, dass er beinah die Treppe hinab stürzt.

Deutschland den Deutschen, ruft Kevin über den Marktplatz der kleinen Stadt. Es sind nur noch wenige Menschen unterwegs. Einige schauen kurz, alle gehen weiter, aggressive Schreie hinter ihren Rücken beschleunigen ihre Schritte.
Zeigt sich dort ein schwarzer Mann?

„Gestern noch die Peitsche fürs Aufmucken,
heute dürfen sie schon eine weiße Frau frech angucken.
Nigger, Nigger, raus aus unserem Land.
Nigger, Nigger, raus aus unserem Land.“​

Tatsächlich, ein dunkelhäutiger Radfahrer.
Afrika den Affen!
Was für ein Glück, welch Provokation.
Nigger, dein letzter Tag ist gekommen!
Jeder kennt eine passende Parole. Nur die Stimme des Kleinen versteckt sich noch ein wenig hinter den kräftigen Bässen seiner Vorbilder.

Der Angriff entwickelt sich eher zufällig. Einer geht etwas schneller, einer beschleunigt für drei, vier Schritte, andere fallen in den Trab – und plötzlich rennen sie los.
Natürlich nutzt dem Opfer sein Fahrrad nichts, wenn Angst die Beine lähmt. Die Meute hat ihn längst eingekreist. Aufgerissene weiße Augen suchen vergeblich nach Hilfe.

„Ich hau dich weg,
ich mach dich kalt,
ich komm zu dir als Angstgestalt ...“​

Es ist Kevin, der das Fahrrad hinten am Gepäckträger hochreißt, so dass die Querstange kräftig zwischen die Beine schlägt und für den ersten Schmerz sorgt. Danach folgt den Regeln des Straßenkampfes entsprechend ein harter Schlag mit der Faust auf die Nase, Diskussion beendet, Widerstand gebrochen, der Rest ist Formsache.
Abwechselnd werden schmerzhafte Schläge gesetzt auf Magen, Leber, Nieren, Nacken. Eine eindrucksvolle Demonstration verschiedener Kampfsporttechniken, ausgeführt mit Faust, Ellbogen, Knie, Fuß und ein Meister nutzt für den entscheidenden Niederschlag seinen blanken Schädel.
Vom Stand- geht es nahtlos in den Bodenkampf. Nichts für sensible Seelen; allein der Anblick, wie ein Könner mit seinen gepanzerten 14-Loch-Springerstiefeln einen liegenden Körper über Pflastersteine treibt, könnte Übelkeit erregen. Der Kleine steht daneben und schaut zu.

Kevin hält immer noch das Fahrrad in der Hand.
Mit seinen Kameraden sah er am späten Nachmittag ein YouTube-Video. Es zeigte russische Gleichgesinnte, die einen Kaukasier misshandelten und ihm zum Schluss den Kopf abschnitten. Einfach so, mit einer einzigen schnellen Bewegung, vor einer Hakenkreuzfahne.
Danach saß Kevin schweigend auf einem Bierkasten und starrte vor sich hin. Dann stand er auf und warf den Kasten aus dem Fenster, auf die Straße hinab, mit den vollen und den leeren Flaschen.

Jetzt wirft er das Fahrrad gegen einen Laternenmast.
Weg! Auf die Seite!

Seine Kampfgenossen schauen ihn erstaunt an, weichen einen Schritt zurück.
Kevin brüllt, rennt, springt hoch und landet mit beiden Stiefeln auf dem Kopf.
Sieg Heil!

Stille.

Kevin lacht. Er greift nach dem Baseballschläger eines Kameraden, trägt ihn zu dem neuen, dem Kleinen, drückt ihm den Schläger in die Hand.
„Hier. Von dir hab’ ich noch nichts gesehen. Hau zu.“
Der Kleine steht da. Seine Gedanken finden keine Worte.
„Genau, jetzt bist du dran.“ – „Nur keine Angst, der beißt nicht mehr.“ Die Anderen finden wieder ihren Spaß.
Der Junge steht da mit großen Augen und offenem Mund.

„Hei, du hast doch vorhin noch mitgesungen: Stiefel gegen Fresse knallen, Stiefel gegen Leiber knallen ...“
Die anderen stimmen ein: „ ... Blut, das auf die Straße spritzt, Bilder, die man nicht vergisst“

Der Schläger fällt ihm aus der Hand, schlägt auf das Pflaster.
„So einer bist du!“, rufen seine Kameraden. „Traut sich nicht. Große Klappe. So einen brauchen wir nicht. Ein Muttersöhnchen.“ Sie lachen. „Pass bloß auf.“

„Passt ihr alle bloß auf!“, schreit Kevin den Bürgern zu, die sich langsam nähern.
„Aufsitzen!“, gibt er das Kommando. Die Horde zieht sich zurück, Sieger verlassen den Marktplatz.
Nur ihr Kleiner, der so klein gar nicht mehr ist, bleibt stehen. Arme und Finger zeigen auf ihn. „Ruft die Polizei.“ – „Einen Arzt.“ – „Haltet den da fest.“ Ihm kommen keine passenden Lieder in den Sinn.
Jetzt sind es viele. Wo kommen sie alle her?

Am Abend werden Polizisten an den Türen klingeln. Mütter werden öffnen.
„Guten Abend“, werden die Beamten sagen, „wir kommen wegen ihrem Sohn.“

 

Hallo Jürgen,
ganz sicher ist dies in erster Linie ein flammendes politisches Bekenntnis gegen Rechtsradikalismus und Fanatismus. Doch was ist es darüber hinaus? Für mich würde die Geschichte z.B. da anfangen, wo Du sie enden läßt. Was passiert denn, wenn die Jungs nach Hause kommen? Die gängige und bekannte Beschreibung der Vorkommnisse zeichnet noch keinen Charakter, ähnelt eher einer Berichterstattung. Da liegt viel mehr Potential für eine echte Geschichte oder zumindest für eine Szene, die ein oder zwei Protagonisten lebendig werden läßt.
LG,
Jutta

 
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Hallo Aren-Efen,

Was für Mütter sollen das denn sein?

Wenn das nicht nur eine rhetorische Frage ist, sondern eine ernsthaft gestellte, empfehle ich dir folgendes Buch:
"Wenn Kinder rechtsextrem werden - Mütter erzählen" von Claudia Hempel.
Ebenfalls erleuchtend: "Blinde Gewalt" von Andreas Marneros.
Kevin ist eine Figur aus dem Aussteigerbuch "Die Abrechnung" von Ingo Hasselbach.
Oder - am allerbesten - geh auf die Straße und lerne sie kennen.

Mutters Söhne waren die, für deren leibliches Wohl echt gesorgt wurde, deren Sachen geflickt und Socken gestopft wurden
Traumtänzereien.
Und wieso waren?

das hier ist eine ganz fatale Vermischung von Epochen und Befindlichkeiten, die dazu dient, vor diesem Hintergrund die Söhne nur umso verworfener zu zeichnen
Mit welcher Ahnung schreibst Du diesen Satz? Welche Epochen werden hier vermischt?

Es geht mir nur um das hier und heute:
http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/rechtsextremismus/Sturm-34;art2647,2587623

http://www.morgenpost.de/brandenburg/article762783/Sie_sind_eine_tickende_Zeitbombe.html
Und wenn Du magst, gebe ich Dir noch hundert andere Links dieser Sorte.

Der Stil ist kalt und brutal, weil die Realität kalt und brutal ist.
Die gezeichneten Mütter sind da, weil sie da sind, meist hilflos und allein, die Väter sind in aller Regel längst verschwunden oder sind endlos besoffen.

Könnte alles in der Geschichte stehen, richtig. Das wäre dann aber eine andere Kritik als Deine.

Liebe Grüße
Jürgen

 

Hallo Jutta,
ich stelle fest, dass ich dir auf Deinen Kommentar nicht geantwortet habe. Das ist unhöflich.
Das ich Deine Meinung nicht teile, wird Dich sicher nicht erstaunen.

Erstens halte ich die Geschichte nicht nur für ein "flammendes politisches Bekenntnis", sondern tatsächlich für eine Geschichte.

Du schreibst:

Die gängige und bekannte Beschreibung der Vorkommnisse
nenne mir doch bitte ein, zwei Beispiele, wo eine "Beschreibung" der meinen entspricht.

Was passiert denn, wenn die Jungs nach Hause kommen?
Sicher spannend, dazu kann ich auch etwas schreiben, weil ich es weiß, was da passieren kann, habe ich aber hier nicht getan.

Vergleiche das doch mit Deinen "Gedanken über Trauer", könnte man dieses Gespräch der beiden Freundinnen nicht auch als eine gängige und bekannte Beschreibung zu einem bekannten Thema halten? Und wäre es nicht viel spannender, zu erfahren, was Lena über ihre genervte Freundin denkt?
Diese Art der Kritik ist doch nicht konstruktiv.

Aber dennoch, selbstverständlich vielen Dank für Deinen Kommentar.

Herzlichen Gruß
Jürgen

 

Hallo Jürgen Be!

Deine Geschichte liest sich leicht und locker, kommt aber für mich leider nicht aus den Klischees heraus. Glatzköpfige, brutale Bomberjacken-Träger, die alles zu Brei schlagen, das nicht arisch ausssieht. Brutale Stereotypen ohne Seele und Gewissen. Sorry, aber das habe ich schon tausendmal gelesen.
Schön wär's, wenn es nur diese tumben Minderheiten wären, die Rassismus und Rechtsideologie transportieren. Tatsächlich sind die Skinheads aber nur gesellschaftliche Looser (also selbst Opfer einer verfehlten Gesellschaftspolitik) und damit willfährige Helfershelfer von politischen Mandats-Trägern, die ihnen von Parlamentsfenstern aus wohlwollend zusehen. Derartige Aspekte in einer Neonazi Geschichte zu lesen, würde mich deutlich mehr interessieren, als Glatzen-, Stiefel- und Bomberjackenprügeleien.

Netten Gruß,
Manuela :)

 

Hallo Jürgen Be,

toller Titel, vorneweg, der geht wirklich rein. Die Sprache über weite Teile auch, es verschwindet dann in so einem "Man"-Erzähler, der sich zwingt dem Geschehen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Da wird der Text auch merklich schwächer, weil er nicht mehr erzählt, sondern erklärt, fand ich, und es halt wenig gibt außerhalb der Schilderung, es ist dann wenig zwischen den Zeilen. Der Jüngste, der die selbstgesteckten Grenzen noch nicht kennt, überschreitet sie. Aber auch der gewinnt ja wie die anderen Figuren kein Fleisch, ich würd nicht sagen, dass sind Klischeefiguren, dafür kriegen sie zu wenig Raum. Wir begegnen ihnen bereits auf der Jagd, keiner sagt etwas außer diesen Parolen, die Kommunikation fällt flach, ein Rudel jagt.

Ja, also was der Text tut, tut er ordentlich. Diese Jagd, die Parolen, der Junge; das passt schon, allerdings ist mir da das Ziel auch zu niedrig, und die Geschichte ist zu "klein" angelegt.

Gruß
Quinn

 

Hallo Manuela,

herzlichen Dank fürs Lesen, kommentieren und Deine Erklärung:

Tatsächlich sind die Skinheads aber nur gesellschaftliche Looser (also selbst Opfer einer verfehlten Gesellschaftspolitik) und damit willfährige Helfershelfer von politischen Mandats-Trägern, die ihnen von Parlamentsfenstern aus wohlwollend zusehen.

Das ist richtig und wichtig zu wissen, für die, die es (immer) noch nicht wissen.

Nur ganz am Rande weise ich im Text darauf hin:

Genau, das hat er gesagt. Michael ist einer von der Partei.

Diese Geschichte sollte so sein, wie sie ist, kurz, kalt und herzlos. Die Nächste zu diesem Thema wird weiter gehen.

Hallo Quinn,

auch Dir vielen Dank für Deinen Kommentar, Deine Kritik kann ich so annehmen, wie sie ist.
Allerdings verstehe ich dies nicht:

es verschwindet dann in so einem "Man"-Erzähler, der sich zwingt dem Geschehen seine Aufmerksamkeit

Diesen Man-Erzähler erkenne ich nicht und wenn er da ist, ist es ein Fehler.

Zwischen den Zeilen ist wahrlich nicht viel Geschichte, eher zwischen den Liedern.
Sie ist die Droge der Rechtsextremen, zu einer tödlichen Waffe umgewandelt.
Der Psychiater fragt einen Neonazi nach seiner Mordtat: "Wie wirkt die rechtsextremistische Musik?"
"Die macht aggressiv, würde ich sagen. Vor allem im Zusammenhang mit Alkohol.", war die Antwort

"Sie setzt die Schwelle zu gewalttätigem Verhalten immer niedriger und niedriger." (Prof. Dr. Marneros)
Die Rolle der Musik ist der Protagonist meiner Geschichte.

Herzliche Grüße
Jürgen

 

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