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My Immortal
Natürlich wird mir kein Aas glauben, aber ich habe sie nicht umgebracht. In manch verzweifelten Stunden, wenn ich fix und fertig im Bett lag und ihr Wimmern und Stöhnen mir auch noch das letzte Fünkchen meines Lebens zur Hölle machte, ja, da habe ich daran gedacht. Warum sollte ich es abstreiten? Ich habe daran gedacht, ihr die Hände um den Hals zu legen und es hinter mich zu bringen. Na und? Das heißt doch gar nichts.
Ich habe sie nicht umgebracht. Sie war schon tot. Punkt. Und dass mir jetzt keiner mit ethischen oder medizinischen Bedenken kommt. Hirntod, was heißt das schon? Wenn es vorbei ist, ist es vorbei.
Ich glaube nicht, dass Claudia das anders sieht. Es ist aus, das weiß sie so gut wie ich. Natürlich schlägt ihr Hirn noch Kapriolen, das sehe ich überdeutlich in ihren schimmernden Augen, an ihren aufgeblähten Nasenflügeln, an dem gefurchten V über dem Nasenbein. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich sehe, was ich sehe.
Wenn sie doch nur aufhören würde, mich so anzustarren. Ich kann ja verstehen, wie sie sich fühlen muss, aber was hätte ich denn tun sollen?
Das alles war nicht meine Schuld. Es waren die Tropfen. Und ihr Rheuma.
Nicht mal ein Jahr trug sie meinen Namen, da fingen ihre Beschwerden an. Die Ärzte diagnostizierten eine rheumatoide Arthritis. Klingt nicht sexy, ist es auch nicht, schon gar nicht für eine Frau mit zweiunddreißig Jahren: rheumatoide Arthritis ist nichts weiter als ein großer schwarzer Sack randvoll mit grässlichen Schmerzen.
Claudia war ein besonders schwerer Fall. Es dauerte keine vier Jahre, da war das Rheuma wie eine marodierende Invasionsarmee über so ziemlich jedes ihrer Gelenke hergefallen.
Wir zogen wie ein kleiner St.-Martins-Zug von Klinik zu Klinik. Ihre flammenden Schmerzen waren unsere Laterne, ihr Stöhnen unser Lied, aber die Weißkittel stopften immer nur dasselbe in unsere weit geöffnete Tüte: nichtsteroidale Antirheumatika, Kortison, das sie zunehmend aussehen ließ wie aufgehenden Hefeteig, und hatte einer von ihnen zufällig einen biotechnologischen Zauberhut zur Hand, gab es TNF-alpha-Blocker – alles für die Katz.
Die Medikamente, die sie täglich in einer kleinen blauen Dose rationierte – meine Bonboniere, wie sie mit einem letzten Rest von Galgenhumor immer sagte –, zeigten kaum Wirkung. Niemand wusste zu sagen, wieso das so war, aber das spielte letztlich keine Rolle.
Das Leben mit ihr wurde zur Hölle. Sie kann mir weiß Gott nicht vorwerfen, dass ich ihr nicht beigestanden hätte. Nach Feierabend habe ich gekocht, geputzt, gewaschen, sowohl die Wäsche als auch an wirklich schlimmen Tagen sie selbst, ich bin geschätzte zweimal um den Erdball gefahren, um ihr die verdammten Medikamente zu besorgen, ich habe ihr zugehört und sie getröstet, habe sie massiert und ihr warme Umschläge gemacht, habe die alten Scheiben von Depeche Mode aufgelegt, und statt zu tanzen nahm ich sie vorsichtig in die Arme und habe sie gehalten.
Jede schlaflose Sekunde meines Lebens war ich für sie da, aber alles, was sie schließlich noch umtrieb, war Hass. Hass auf sich selbst, auf ihre kreischenden Gelenke, auf die beginnenden Fehlstellungen ihrer Glieder, was nichts anderes hieß als verkrüppelte Finger. Sie hasste die Ärzte, und sie hasste mich.
Als trüge ich Mitschuld an ihrem Elend. Sie hat mich gehasst, weil ich ihr die Schmerzen nicht nehmen konnte, weil ich einer war, der keine Schmerzen hatte, und das konnte sie nicht ertragen.
Was hat sie mich beschimpft und geschlagen. Ich habe es mir nicht lange mitangesehen, dann habe ich zurückgeschlagen. Nein, Liebe war das schon lange nicht mehr. Die Liebe gab es nur noch Schwarz auf Weiß, im Stammbuch, irgendwo in der mittleren Schublade ihres geliebten kitschigen Wohnzimmerschranks aus furnierter Eiche.
Wäre ich doch bloß gegangen, bevor die Sache mit den Tropfen passierte. Dann hätte ich mir den ganzen Schlamassal, in dem ich jetzt stecke, erspart.
„Versuchen wir es doch mal mit Phytotherapie“, schlug einer der Ärzte vor drei Monaten vor. Der Mann war einer von der gemütlichen Sorte: Glatze, blaue Augen, wie eingemeißelt ein freundliches Lächeln auf den Lippen, rosiger Teint und ballonesker Bauch. Der Typ Arzt, dem man vertraut.
„Phytotherapie?“, fragte Claudia.
Ich dachte schon, jetzt kommt der medizinische Hammer, jetzt kommt die Wunderdroge, die den unablässig lavaspeienden Vulkan in Claudias Innerem für immer verlöschen wird.
„Pflanzenheilkunde“, sagte der Arzt statt dessen.
Egal, dann meinetwegen mit Pflanzen. Ihre Bonboniere füllte sich mit neuen Kostbarkeiten. Kapseln und Dragees mit so schönen Bestandteilen wie Acker-Schachtelhalm, Beinwell und Borretsch. Ich wusste weder, wie dieses Grünzeug aussah, noch hatte ich jemals etwas davon gehört.
Und es half Claudia nicht im Geringsten. Aber wir hatten einen neuen Weg aufgezeigt bekommen, und schon allein aus meinem ureigensten Interesse heraus informierte ich mich fortan intensiv über alternative Behandlungsmethoden.
Dabei stieß ich dann vor zwei Wochen in einem Internetforum auf Mahrub. Er nannte sich Homöopath und wohnte gleich in der nächsten Stadt. Ich warf mich hinter das Lenkrad und fuhr hin.
„Wird Frau helfen“, sagte Mahrub und drückte mir ein Fläschchen in die Hand. Er hätte glatt als Zulukrieger durchgehen können. „Zwei Tropfen an Abend, zwei Tropfen an Morgen.“ Dann drückte er mir noch eine Visitenkarte in die Hand, auf der nur sein Name und eine Handynummer standen. „Wenn nicht zufrieden, rufen an. Aber wird Frau helfen, werden sehen.“
Hoffentlich, Bursche, dachte ich auf der Rückfahrt. 45 Euro für ein Fläschchen mit etwas darin, das verdächtig nach Wasser aussah, dazu noch die Fahrtkosten – wehe, der Kollege hatte mich geleimt.
Hatte er nicht. Die Wirkung des Mittels war völlig anders als erwartet, aber es war die Lösung aller Probleme.
Beinahe jedenfalls.
An diesem Abend gab ich Claudia zwei Tropfen der Medizin, verdünnt in einem Glas Wasser. Sie trank es und legte sich schlafen. Es war die erste Nacht seit vielen Monaten, in der ich nicht von ihr geweckt wurde.
Als ich morgens aufwachte, lag sie da wie am Abend zuvor. Auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt. Ich stand auf, das Federnbett quietschte wie gewöhnlich, aber sie regte sich nicht, was mich ein wenig wunderte, konnte ich doch normalerweise kaum die Lider bewegen, ohne dass sie aus dem Schlaf hochschreckte.
„Claudia“, sagte ich leise.
Nichts.
Ich beugte mich über sie.
„Claudia.“
Sie lag da wie tot.
Ich griff nach ihrer Hand. Kalt wie der Nordpol.
Ich fühlte nach ihrem Puls. Sendeschluss.
Sie war tot.
Soll mich Gott für ein mieses Arschloch halten, das juckt mich nicht - ich war erleichtert. Zutiefst erleichtert.
Es war besser für sie.
Es war besser für mich.
Ich musste die Polizei verständigen. Noch war ich nicht ganz an der Schlafzimmertür, als das Bett quietschte. Ich drehte mich um, und da saß Claudia und starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
„Mir tut gar nichts weh“, sagte sie und tastete ihre Gelenke ab. „Mir tut überhaupt nichts weh.“
„Das ist toll.“
Dabei hätte ich schwören können ...
Wir gingen in die Küche. Nach dem zweiten Brötchen wurde ihr plötzlich übel. Sie kotzte mir die Fliesen voll. Unausgesprochen war klar, wer die Sauerei aufzuwischen hatte.
Sie konnte ja schließlich nicht. Obwohl, hatte sie nicht gerade gesagt, dass ... Ach, scheiß der Hund drauf.
Als ich abends nach Hause kam, saß Claudia splitternackt auf dem Wohnzimmerteppich.
„Was ist denn jetzt wieder los?“, fragte ich sie.
Sie krabbelte mit den Fingern in der Luft, als würde sie einen unsichtbaren Rücken vor sich kratzen. Ihr Mund klappte auf, als wäre sie ein verdammter Nussknacker.
„Ich bin tot, ich bin tot, ich bin tot!“
„Geht es dir nicht ...“
Sie sprang auf und grabschte nach meiner Hand.
„Hier, los, fühl, kein Puls. Kein Herz. Nichts. Ich bin tot. Mausetot. Das ist doch ...“
„Ja, schon gut!“, schrie ich sie an.
Aber nichts war gut. Sie packte meine Kehle und würgte mich.
„Das ist alles deine Schuld!“
Mit einem Ruck machte ich mich frei, stieß sie durch den Flur ins Bad und schloss sie darin ein. Dann rannte ich zurück ins Wohnzimmer, fischte die Visitenkarte aus der Brieftasche und rief Mahrub an.
„Was hast du mir da für ein Zeug gegeben?“
„Haben nicht geholfen?“
„Du Spaßvogel, sie ist tot.“
„Sehen Sie, haben geholfen.“
„Sag mal, willst du mich verarschen? Sie hat keinen Puls mehr, aber sie rennt kreuzfidel durch die Bude. Was um alles in der Welt hast du mir da gegeben?“
„Haben Frau noch Schmerzen?“
„Weiß nicht, glaub nicht.“
„Dann haben geholfen.“
„Ich werd dir gleich helfen!“
„Jetzt du mussen aufpassen, Frau gefährlich.“
„Was?“
„Mussen schlagen Kopf ab, sonst Frau gefährlich.“
„Du hast sie doch nicht alle, du ...“
Der Homöopathen-Sack hatte aufgelegt. Ich drückte Wahlwiederholung. Das Handy war ausgeschaltet. Dieser Hundsfott.
Durch den Flur hörte ich, wie die Badezimmertür zu Bruch ging.
„Du bist an allem schuld!“, schrie Claudia, und da kam sie auch schon auf mich losgestürmt, in der linken Hand schwang sie die Klobrille wie einen Diskus und schickte ihn auf die Reise. So schnell hatte ich mich meinen ganzen Lebtag noch nicht gebückt. Das schmucke Porzellanding mit der selbstklebenden Stacheldrahtfolie krachte in den Schrank hinter mir. Die Glasscheibe ging zu Bruch, und mit ihr verabschiedete sich auch Claudias großmütterliches Zwiebelmusterservice in einem Scherbengericht.
„Ich bring dich um!“ Das hatte sie früher schon oft gesagt, aber diesmal schien es ihr verflucht ernst zu sein.
Ich rannte in die Küche, Claudia folgt mir auf dem Fuß. Eine Kaffeetasse streifte meine Stirn, ein Stuhl prallte gegen mein Knie. Wenn ich nicht bald etwas unternahm, dann brauchte ich mir um meine Rentenansprüche keine Sorgen mehr zu machen.
Ich nahm das Fleischmesser aus der Schublade und stieß es ihr bis ans Heft in die Brust. Es war wie mit ihren Medikamenten – nutzte nichts.
Mahrub hatte recht, Claudia recht, und ich hatte mich am Morgen auch nicht getäuscht. Meine Frau war tot, aber das hielt sie nicht davon ab, mir den Garaus machen zu wollen.
Mussen schlagen Kopf ab.
Gottverdammt, ja, wie es aussah, musste ich das wohl. Ich lief ins Wohnzimmer, riss die Verandatür auf und spurtete über die Wiese zur Garage. Ein Glück, dass ich vor Jahren die hohen Hecken gepflanzt hatte, den alten Sabbelkopf Schmitz hätte ich nun wirklich nicht als Zaungast gebrauchen können.
Kaum war das Schwingtor oben, hörte ich Claudias platschende Schritte hinter mir. Vier Schritte brachen mich an das Werkzeugregal. Mit einem Schrei und der Axt in beiden Händen drehte ich mich um und schlug zu.
Der erste Hieb zerteilte ihr Schlüsselbein. Wieder schlug ich zu. Und noch einmal. Lächerlich, was die einem im Kino immer unterjubeln – von wegen ein Schlag und die Rübe ist ab: sage und schreibe sieben Schläge brauchte es, bis ich endlich auch die letzten Fasern durchhacken konnte und ihr Kopf durch die Ölflecken gegen die Wand kullerte.
Und von dort unten starrte sie mich unentwegt an.
Natürlich wird mir kein Aas glauben, aber ich habe sie nicht umgebracht. Sie war schon tot. Wie es aussieht, nicht hirntot, aber wenn es vorbei ist, ist es nunmal vorbei. Ich bin nicht Dr. Frankenstein.
Ihren Körper habe ich gestern im Garten verbuddelt, hinten unter der Tanne. Die Säcke haben den Gestank in der Garage nicht mehr zurückgehalten, es musste sein. Außerdem wird doch niemand unter der Tanne nach ihr graben, hoffe ich.
Bleibt noch ihr Kopf. Vielleicht hätte ich ihn nicht die ganze Zeit über auf dem Küchentisch lassen sollen, aber es schien mir richtig zu sein. Claudia weiß nämlich noch um alles, was um sie herum geschieht. Sie weiß, dass sie nie mehr auf Beinen laufen wird, dass sie nie mehr mit ihren verkrüppelten Fingern etwas festhalten wird, dass sie nie mehr auch nur einen einzigen Atemzug in ihren Lungen spüren wird. Das sehe ich in ihren schimmernden Augen, an ihren Nasenflügeln, an dem V auf der Stirn. Sie kann zwar nicht mehr sprechen, sie stöhnt nur noch mit diesen scheußlichen Speichelbläschen auf den Lippen, aber ich kenn doch meine Claudia.
Was wohl die Ärzte dazu sagen würden? Hirntod? Nein, sieht nicht so aus. Lebt sie also noch? Akademische Frage, würde ich sagen, denn so oder so, für Claudia ist es aus, auch wenn ihr Geist unsterblich ist.
Mir reicht es jetzt. Seit ich ihren Körper vergraben habe, weiß ich, was ich tun muss. Da unten in der Dunkelheit wird sie alle Zeit der Welt haben. Da unten kann sie stöhnen, und wenn sie Luft findet, dann soll sie ruhig schreien.
„Niemand wird dich schreien hören.“
Vielleicht hätte ich mir das sparen können, aber es tat gut.
Ich greife unter den Tisch und zeige ihr den großen Schuhkarton.
Ihre Augen schimmern feucht. Was bin ich froh, dass sie zum Schweigen verdammt ist.
„Grüß mir die Würmer, mein Schatz. Ich bin sicher, du wirst sie bald schon sehen.“