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Mythos Bildung
Mythos Bildung
Die ungerechte Gesellschaft,
ihr Bildungssystem und seine Zukunft,
ca. 320 Seiten
Köln 2020
»Bildung kommt von Bildzeitung und Bildschirm
und nicht vom Buch, sonst hieße sie ja Buchung!«,
frei nach Dieter Hildebrandt und Gisanne (Gisela Salge)
»Eine Hochschul-Dozentin …, die Material für werdende Lehrer erstellt, ruft einen Karikaturisten wegen einer von ihr ausgewählten Zeichnung an. Diese zeigt: Europa mit dem Stier. Eine Frage hat die Dame allerdings noch: Was denn „die Kuh neben dieser Frau“ solle?
Beim Zeus!, was soll man da antworten, ohne grob zu werden? Mit Corona hat das nichts zu tun«, vermerkt Lars von Gönna im Kulturteil der WAZ vom 19. Februar 20211.
Als ich den hervorragenden Essay las, wurde mir erst bewusst, welches Buch mir das wichtigste des vergangenen Jahres ist, das hinwiederum ein für Pädagogen bemerkenswertes Zitat enthält, denn »[w]ären Noten ein Medikament, wären sie wegen der erheblichen Nebenwirkungen längst vom Markt genommen«, heißt es 2006 beim Grundschulverband Nordrhein-Westfalens (NRW)2, eine erstaunliche Aussage, die sich nicht erst in pandemischer Zeit voll entfaltet, wenn 16 Kultusministerien das Erbe Humboldts u. a. verwalten, und Lehrer in NRW einer wirtschaftsliberale Dienstgeberin Gehorsam schulden (so ist absehbar, dass anstelle des eher kritischen Faches Sozialwissenschaft im künftigen Schulfach Wirtschaft der neoliberale Religionsersatz von der unsichtbaren Hand sich selbst steuernden Märkte gepredigt wird) - was uns direkt zu der These El-Mafaalis führt, dass das gesamte deutsche Schulwesen der Bismarck’schen Tradition verpflichtet ist, den sozialen Frieden zu garantieren und die Klassenstruktur von denen da oben und jenen da unten zu konservieren, wobei der Wirtschaftsliberalismus brave Konsumenten und Arbeitnehmer „produzieren“ will wie zu Preußens Glanz und Glorie Kanonenfutter.
Als ich 1956 eingeschult wurde, galten Klassen von 30 und mehr Schülern als normal, wenn auch nicht erwünscht und doch sollte sich dieser Standard halten, selbst als die Zahl der Geburten zurückging. Es gab und gibt nie genug Lehrer und die, die es gab, waren zunächst bis in die 1960er Jahre hinein historisch bedingt aus dem Dritten Reich übernommen wie der gesamte Beamtenapparat der Ära Adenauer.
Gleichwohl blieben Klassen mit mehr als 30 Schülern Standard im Wirtschaftswunder(land). Ging die Geburtenrate zurück, wurden vermeintlich auch weniger Lehrer gebraucht und ausgebildet – sehr frei nach dem wirtschaftsliberalen Motto, eine unsichtbare Hand steuere den Markt …
Und wie der Staat, so stoßen auch Eltern derzeit an ihre Grenzen, wiewohl »Pflege und Erziehung der Kinder … das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht« sind3. Der eigentlich Witz aber der ganzen Bildungsmisere liegt in den Artikeln 7 und 72 des Grundgesetzes verborgen, wenn »[d]as gesamte Schulwesen ... unter der Aufsicht des Staates« steht (GG Art. 7, 1) und auf dem Bundesgebiet »… der Bund das Gesetzgebungsrecht« hat, »wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht«, was nicht einmal auf kommunaler Ebene glückt, da weiß man, dass das Kind des Zahnarztes einen vergleichbaren Beruf ergreifen wird und der des Müllwerkers ... oder gar Hartz IV Empfängers ...
Dem vermeintlich überholten gesellschaftlichen Drei-Klassen-System entspricht das Schulsystem mit Haupt- und Realschule nebst Gymnasium, dem die Privatschule nebengestellt wird für Leute, die sie sich leisten können. Im internationalen Vergleich werden seit der Ära Adenauer zu wenig auf ein Studium vorbereitet.
Man ist im Erbe Humboldts und Bismarckscher Sozialgesetzgebung steckengeblieben – freilich nicht mehr so sehr als Kanonenfutter, sondern als brave Konsumenten wenn nicht gar - hier überspitz ich mal - Konsumidioten zu erzeugen.
1Lars von Gönna: »Eine Katastrophe - von gestern. Unsere Reihe „Ändert Corona alles oder nichts?“ - heute Bildungsnotstand: Ein Virus wird von vermeintlichen Experten zum Sündenbock gemacht. Die Misere aber ist älter«
2 zitiert nach Aladin El-Mafalaani in den Anmerkungen zu „Mythos Bildung“, Köln 2020, S.295, FN 256
3 Grundgesetz Art. 6, 2)