Mitglied
- Beitritt
- 12.03.2020
- Beiträge
- 534
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Nürburgring
Ein Rennwagen raste vorbei, das Echo klang nach und seine Armhaare stellten sich auf. Er stand auf der Naturtribüne an der Rechtskurve am Bergwerk; hier erreichten ihn keine Lautsprecherdurchsagen und seine Kamera hatte freie Sicht.
Ich werde ihm schon beweisen, dass er einen Fehler gemacht hat, dachte er. Und das schlimmste ist, dass der nicht mal an einer Kunsthochschule war. So ein aufgeblasener Pudel. Er atmete hörbar aus.
„Bitte?", fragte ein älterer Herr neben ihm. „Ich höre nicht mehr so gut, wissen Sie?"
„Nichts", antwortete er. „Ich habe nichts gesagt."
Der ältere Herr schwieg kurz, schaute ihn allerdings weiter an. „Ist das eine F3?"
„Ich bin Fotograf."
„Ich wollte auch immer eine F3 haben. Macht tolle Bilder."
Wieso glauben immer alle, dass die Qualität der Kamera entscheidend für die Bilder ist? Eine F3 in Händen dieses Amateurs wird niemals ein Kunstwerk erzeugen, dachte er. Entscheidend ist das Auge, der Blick für Details, die Liebe zur Fotografie.
„Muss mich konzentrieren", sagte er, doch der ältere Herr schien ihn nicht verstehen zu wollen.
„Fotografieren Sie was Bestimmtes?"
„Vor allem Rennfahrer und Autos." Er dachte an seinen letzten Auftrag zurück und musste an den aufgeblasenen Pudel denken. Es war eine Katastrophe gewesen. Das Seitenlicht, was sonst für Tiefe sorgte, ließ den Wagen zu dunkel wirken. Von wegen goldene Stunde. Es war einfach Pech.
Der ältere Herr schaute ihn erwartungsvoll an.
„Ich bin wegen Niki hier. Ich will ein Siegerfoto." Er schaute auf den Nürburgring: Vor ihm schien die Sonne auf den Asphalt, die Rennstrecke krümmte sich zu einer scharfen Linkskurve; hinter den etwa fünfzehn Zentimeter hohen Randsteinen und dem Zaun ragten grüne Sträucher und Bäume empor. Ihm gefiel der Kontrast. Weitere Wagen rasten vorbei. „Das ist er", sagte er und wandte sich seiner Kamera zu.
Der weiß-rote Ferrari bog in die Linkskurve ein, das Motorgeräusch dröhnte trotz der Schaumstöpsel in seinen Ohren und er bildete sich ein, Benzin zu riechen. Ihm war bewusst, dass das eine Täuschung war. Dafür musste man bei den Pit-Stops stehen, aber diese Plätze waren nur für Snobs reserviert. Er konzentrierte sich wieder auf den Rennwagen. Wie es wohl war, in dem Cockpit zu sitzen? Die Beschleunigung und die G-Kräfte müssten unvorstellbar sein. Als er in einem Magazin ein Interview mit Niki gelesen hatte, war er überrascht - untrainierte Fahrer konnten ihren Kopf in einer Kurve nicht gerade halten und ein Rennfahrer verlor bis zu fünf Kilogramm Wasser.
In dem Moment schlingerte der Wagen und alles ging unfassbar schnell: Der Ferrari krachte gegen die Randsteine, wurde von der Wucht des Aufpralls zurückgeworfen und kreiste um die eigene Achse. Flammen stiegen in die Luft. Sie umhüllten den rotierenden Wagen. Die Abgase und Rauchpartikel vermischten sich zu einem Geruch, der ihm in die Nase stach und er spürte die Hitze. Nikis Helm wurde ihm vom Kopf gerissen und seine weiße Haube hob sich gegen die Schwärze ab. Es waren Schreie zu hören. Der Ferrari kam in horizontaler Ausrichtung auf der Rennstrecke zum Stillstand. Ein anderer Rennwagen krachte in das Wrack.
Der ältere Herr neben ihm schrie auf. Er hingegen schaute durch das Objektiv auf die Unfallstelle. Das würde ein unvergessliches Bild geben. Die grüne Hölle war zu einem Inferno geworden: Nikis Ferrari war eingehüllt von Flammen, der hineingefahrene Rennwagen stand seitlich davor.
Die Perspektive ist perfekt, das Licht könnte nicht besser sein, dachte er. Ich wusste, dass ich das Zeug dazu habe.
Laut sagte er: „Schauen Sie sich das Motiv an. Wunderbar."
„Was ist falsch mit Ihnen?“
„Ich bin Künstler."
Weitere Rennwagen bremsten ab und vier Fahrer eilten zum brennenden Ferrari und versuchten, Niki aus dem Wagen zu zerren. Während sie den Körper aus dem Cockpit hievten, näherte sich ein Rettungswagen; die Sanitäter luden Niki ein und fuhren davon.
Der ältere Herr schüttelte den Kopf und verließ den Schauplatz.
Zum ersten Mal verkaufte er ein Bild für den Höchstpreis an ein Magazin.