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Nach Hause kommen
Stufe um Stufe die steinerne Treppe hinauf, mit forschem Tritt um die erste Kurve, langsamer in der zweiten und dritten, müde geworden in der Wiederholung kommt er endlich schnaufend in der obersten Etage zum stehen. Zwei Türen hat er im Blick - eine zu seiner Linken, eine zur Rechten -, zwei Türen sind es, die sich vollkommen gleichen, die haargenau identisch sind und sich in nichts unterscheiden, denn weder der individuell gewählte Fußabtreter ist zu sehen, noch ein Namensschild zu lesen. Keines der Zeichen, die ein wenig von der Persönlichkeit verraten, die sich hinter sperrigem Holz verborgen hält, kann er finden, nichts von der Gegenseite lässt sich erahnen und ahnungslos hält er den Schlüssel in der Hand, seinen Schlüssel für seine Tür, die er plötzlich nicht mehr bestimmen kann. Beide können es sein, die Tür rechts von ihm ebenso wie die linke, seine Erinnerung will nichts preisgeben, will ihm keinen Hinweis nennen, auch das Unterbewusstsein will oder kann den Fuß nicht intuitiv in die Richtung der Wohnungstür lenken, die beim Verlassen ganz selbstverständlich die eigene gewesen ist.
Ratlos wurzelt er zwischen den Eingängen, schwankt unsicher zwischen den Schlössern und beschließt endlich nach Minuten des Haderns das passende Gegenstück durch Probieren zu finden. An der linken Tür versucht er es zuerst, doch will das Schloss dem Schlüssel keinen Einlass gewähren, versperrt ihm den Zugang und empört sich über den Einbruchsversuch mit einem leisen, eindringlichen Klacken, das ihn schnell den unrechtmäßigen Eindringling zurückziehen lässt. Die andere muss es also sein, schlussfolgert er, und tatsächlich wird er an dieser nicht enttäuscht, wird nicht zurückgewiesen, mühelos kann sein Schlüssel den schweren Eisenbolzen mit einem Ruck zur Seite schieben. Offen ist die Tür. Er tritt ein, hinein in den dunklen Flur, in dem nichts zu erkennen, nicht ein Schatten zu deuten, nicht ein Umriss auszumachen ist, weshalb er sogleich nach dem Lichtschalter tastet, unsicher, ob er links oder rechts, gleich neben der Tür oder ein Stück die Wand entlang zu finden ist.
Minutenlang sucht er als wäre er nie zuvor hier gewesen, Minuten vergehen, in denen sich die Dunkelheit immer fester um ihn zusammenzieht und unzählige Möglichkeiten heraufbeschwört, die im hellen Licht sichtbar werden können. Und endlich den Schalter ertastet, kippt er ihn nicht sofort zur Seite, sondern zögert, eingenommen von den Bildern, die sich in seinem Geist aufgebaut haben und von denen eines ganz sicher Gestalt annehmen wird, wenn er den Schalter betätigt. Nur welches? Eines, das er nicht kennt? Das ihm zusagt? Das sich aufdrängt seines zu sein? Schließ die Augen! Nur dein Flur wartet. Ein paar Schuhe in einem Regal, vielleicht ein Schlüsselbrett und eins, zwei Bilder an den Wänden. Doch Vermutungen sind es bloß, erinnern kann er sich nicht und zögert weiterhin, sein Mut reicht nicht aus die starre Hand die einfache, kleine, ja nichtig banale Bewegung ausführen zu lassen. Zu feige! Grundlos! Zunehmend ärgerlich wird er über sein anhaltendes Zaudern, beschimpft sich innerlich leise und heftig und diese Verärgerung, die mehr und mehr zur Wut wird, ist es schließlich, die seine Hand zur Ausführung der kleinen, banalen, nichtigen Geste zwingen kann. Jetzt aber! Der Schalter kippt endlich unter seinem leichten Fingerdruck – und im gelblichen Licht der nackten Glühlampe, die ohne Lampenschirm von der Decke hängt, erblickt er einen leeren Flur vor sich. Nur Leere ist da, Leere zwischen anonymen Wänden, sonst nichts, kein Paar Schuhe, kein Regal, keine Kommode und kein einziger Kleiderhaken. Und ebenso leer sind die angrenzenden Zimmer, sind verlassen ohne Möbel und Teppich und Elektrogeräte und Krimskrams und Dekorationsgegenstände, haben nur hell eingezeichnete Umrisse an den Wänden, die ehemals dort gehangene Bilder erahnen lassen, haben Vertiefungen im grauen Linoleum, die ein Sofa verraten und einen Schreibtisch, der vor dem Fenster gestanden haben muss.
Ungläubig durchstreift er mehrmals die Wohnung, sieht sich in allen Ecken und Winkeln auf der Suche nach einem Detail, nach einem winzigen, bisher übersehenen Gegenstand um, doch wird er nicht fündig. Und endlich, zweifelsfrei überzeugt, dass alle Räume vollkommen leer sind, bleibt er im Wohnzimmer mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht stehen. Erleichterung erfüllt ihn und müde lässt er sich gegen die Wand sinken, lässt den Blick, der nichts einfangen kann, ziellos umher gleiten, streckt sich später auf dem Fußboden aus und findet irgendwann hinein in einen gegenstandslosen Traum, an den er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnert. Und auch seinen Namen hat er vergessen, als er blinzelnd die Augen öffnet und ein Strahl Sonnenlicht durch die klare Fensterscheibe fällt.