Was ist neu

Nachbarn

Mitglied
Beitritt
19.10.2021
Beiträge
6

Nachbarn

Nachbarn

Nach dem Abendbrot ging ich daran, meine Pflanzen zu gießen. Nun, da das Frühjahr gekommen war, hatte ich die meisten umgetopft, deshalb schüttete ich etwas Flüssigdünger ins Gießwasser. Meine Yucca-Palme bereitete mir Sorgen. Ihre Blätter fingen an, sich braun zu färben, und die Spitzen spalteten sich. Während ich überlegte, wie die Pflanze zu retten sei, schaute ich aus dem Fenster aufs Nachbarhaus. Von der vierzehnten bis zur sechzehnten Etage konnte ich bequem in alle gegenüberliegenden Wohnungen sehen, und das tue ich oft, wenn ich am Sinnieren bin. Am besten wäre es, die Palme zum Gärtner zu bringen, beschloss ich, denn ich selbst konnte kaum noch etwas ausrichten.

Nachdem ich die Gießkanne abgestellt hatte, setzte ich mich an den Tisch und machte eine Notiz. „Vogel vorläufig im Käfig lassen!“ Es war mir schon einmal passiert, dass ein Wellensittich an den gedüngten Pflanzen geknabbert hatte und an einer Vergiftung gestorben war. Ich heftete den Zettel an die Wand zu den anderen. Zufrieden setzte ich mich in den Fernsehsessel. Es war kurz vor sieben.

Ich musste eingenickt sein, denn die Türglocke ließ mich aufschrecken. Ich erwartete niemanden, und Besuch war ohnehin recht selten. Neugierig ging ich öffnen. Meine Nachbarin stand in der Tür. Letzte Woche erst waren sie, ihr Mann und das Kind eingezogen. Etwas überrascht bat ich die Frau herein und führte sie ins Wohnzimmer. Eilig nahm ich einen Stoß Rätselhefte von der Couch, und sie setzte sich. Ich selbst nahm wieder auf dem Sessel Platz. Mir war unbehaglich. Ich war es nicht gewohnt, Konversation zu machen. Sollte ich ein Getränk anbieten? Es war nur Milch im Haus. Ich fragte nicht. Auch die Frau schien verunsichert. Sie rang die Hände im Schoß. Minutenlang. Endlich aber schaute sie mir ins Gesicht und sagte stockend:

„Es ist wegen meinem Mann.“

Ich wartete ab.

Wir haben schon seit einiger Zeit Probleme, und meine Tochter … für das Kind ist es furchtbar, Sie verstehen?“

Ich nickte, obwohl ich gar nichts verstand.

„Er schlägt sie, wenn er getrunken hat. Manchmal wage ich nicht, sie zur Schule zu schicken, weil man die Schläge sehen kann. Und ich …“

Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen.

„Sehen Sie selbst!“

Sie nestelte an den oberen Knöpfen ihrer Bluse und legte den Ansatz ihrer Brüste frei. Die Blutergüsse rührten von Bissen her. Ich konnte die Abdrücke einzelner Zähne erkennen. Sprachlos schüttelte ich den Kopf.

„Heute Abend kam er schon betrunken von der Arbeit, schwer betrunken.“

Sie sprach jetzt schneller, so als wolle sie möglichst bald zum Ende kommen.

„Sein Essen stand bereit. Ich stellte die Suppe vor ihn auf den Tisch. Murrend begann er zu essen, verlangte Brot dazu. Ich holte den Laib aus dem Korb und nahm das Messer. So stand ich hinter ihm und schaute auf seinen geröteten Nacken. Dann stieß ich das Messer hinein.“

Ich hatte ihrem Geständnis mit gesenktem Kopf zugehört und dabei auf ihre Hände gestarrt. Nun blickte ich hoch. Sie hatte nichts mehr zu sagen und, so schien es mir, erwartete auch keine Stellungnahme. Sie hielt meinem Blick gewiss eine Minute lang stand. Dann erhob sie sich. Ich brachte sie zur Tür. Sie reichte mir die Hand und drückte kräftig zu. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung, deren Tür die ganze Zeit offen gestanden hatte.

 

Hallo Corso,

deine Geschichte finde ich schon etwas dreist. Und saukomisch. Nicht lustig, denn im Kern dreht sie sich um ein Thema, das sich nicht für Witze eignet. Du machst dich aber auch nicht über das Thema lustig, sondern erzeugst einfach eine Szene, die auf mich so bizarr und komisch wirkt, dass ich über den Schluss wirklich lachen musste. Die Nachbarin hat die ganze Zeit die Tür offenstehen lassen, sie ist also herübergekommen, um nur kurz zu berichten, dass sie gerade ihren Mann erstochen hat. Mir gefällt das. Als "tragikomisch" wird das im Zusammenhang mit dem spanischen Film "Volver" beschrieben, und an die Tötungsszene in dem Film gibt es da einen ganz leisen Anklang in deiner Geschichte.

Der Anfang ist langweilig. Man fragt sich, wozu die Belanglosigkeiten aufgeführt werden. Um am Ende bei der Erkenntnis zu landen, dass das Leben in diesem Hochhaus mit den paar Pflanzen doch ganz schön trist ist? Gut, dieser Wellensittich, der sich selbst vergiftet, da blitzt mal was auf. Aber wenn das die großen Themen dieser Geschichte sind, kann ja nicht mehr viel kommen. Eine Nachbarin zum Begrüßungsbesuch, die Verlegenheit, kein Getränk anbieten zu können usw.

Ich lese da eine drückend langweilige Atmosphäre. Eine Depression, die mit der häuslichen Gewalt als einem wirklich dramatischen und ernsten Thema eigentlich unangemessen verstärkt wird. Wobei du die Nachbarin ebenso eindringlich wie angemessen mit wenigen Worten ihre Situation beschreiben lässt. Die Geschichte wird plötzlich dichter, und dann lässt du ganz nebenbei die Bombe platzen. Dann war's das aber auch. Es gibt noch einen intensiven Abschied, aber kein weiteres Wort. Auch für mich als Leser keine einzige Antwort auf die sich aufdrängenden Fragen: Wird man jetzt gemeinsam den Leichnam beseitigen, ist der Ehemann auch wirklich tot, was ist mit der Tochter, werden die beiden sich jetzt miteinander verschwören, alles bleibt unbeantwortet. Die Geschichte will nur erzählen, wie man ganz nebenbei einen Mord gestehen kann. Dabei ist das Wort "Geständnis" fast schon zu schwer für diese lapidaren Worte. Mehr hat sie nicht zu sagen.

Mir gefällt diese Knappheit, für mich erzeugt sie Intensität, sie beschäftigt mich auch nach dem Lesen noch, und sie lässt mich eben auch lachen. Was ich etwas ungeschützt schreibe, denn vielleicht ist das vollkommen unangemessen. Es ist diese plötzliche Wendung, von der die Nachbarin offenbar selbst überrascht wird, von der sie noch gar nicht weiß, wie sie mit ihr umgehen soll, also geht sie mal in die Nachbarwohnung und erzählt, was ihr passiert ist.

Ein Geheimnis bleibt, ob ein Mann oder eine Frau erzählt, oder habe ich etwas überlesen? Ich denke eher, da erzählt eine Frau. Aber vielleicht ist das nicht zwingend. Ich bin nicht sicher, ob der Text für eine Kurzgeschichte nicht gar zu kurz ist, das ist ja fast nur eine Szene. Aber das können andere besser beurteilen. Wichtig finde ich, dass es eine Entwicklung gibt. Bei der Nachbarin, die sich – erstmals? – jemandem anvertraut, eben erst nach einem inneren Kampf, der mit dem Händeringen (was ich eine etwas simple Beschreibung finde) sichtbar wird. Aber auch bei der Erzählerin (so nenne ich sie mal) ändert sich etwas. Sie ist in der tristen Hochhausatmosphäre mit den Pflanzen, in der sie sich selbst Zettel schreibt und keinen Besuch erwartet, auf einmal mit einer anderen Person in Beziehung getreten. Ob freiwillig oder unfreiwillig, es ist passiert. Zu dieser Nachbarin ist die Beziehung nicht mehr, wie sie war.

Ob das alles so realistisch oder vielleicht ein bisschen abgefahren ist, interessiert mich nicht. Mir reicht, dass es so passieren könnte, und die Elemente, aus denen du deine Geschichte zusammensetzt, sind allesamt Realität.

Deine Sprache finde ich schlicht und sauber. Für mich absolut gelungen.

Ich musste eingenickt sein, denn die Türglocke ließ mich aufschrecken. Ich erwartete niemanden, und Besuch war ohnehin recht selten. Neugierig ging ich öffnen.
finde ich etwas schwach. Es ginge zum Beispiel: "Als die Türglocke ging, schreckte ich auf. Ich musste eingenickt sein. Eigentlich erwartete ich niemanden. Neugierig ging ich öffnen." Das mit dem seltenen Besuch ist für mich stärker, wenn es nicht dasteht. Dass die Erzählerin an diesem Abend niemanden erwartet, bestätigt doch nur, was ich mir ohnehin denken kann: dass sie nämlich an allen anderen Abenden auch niemanden erwartet.
Etwas überrascht bat ich die Frau herein und führte sie ins Wohnzimmer. Eilig nahm ich einen Stoß Rätselhefte von der Couch, und sie setzte sich.
Mit "etwas überrascht" würde ich eher beschreiben, dass ein anderer überrascht wirkt, das geht für mich in Ich-Form nicht auf. Vielleicht kannst du dem Leser das anders vermitteln, z. B. mit: "Einen Moment sah ich sie nur an. Dann bat ich die Frau herein..."

Mit "eilig" ist es für mich das gleiche. Ginge vielleicht: "Ich klaubte den Stoß Rätselhefte von der Couch auf und bot ihr Platz an" oder eben ein anderes Verb, das die Eile beschreibt.

Richtig cool übrigens die Rätselhefte! Ich finde sie gut. Da schüttelt man sich. Andere werden sie vielleicht als zu abgegriffene Kennzeichnung eines langweiligen Lebens empfinden. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, wäre was zum Überlegen.

Sie rang die Hände im Schoß. Minutenlang.
Wie gesagt, das Händeringen klingt ein bisschen blutleer. Ich hätte geschrieben: "Ihre Hände bohrten sich gegenseitig die Fingernägel in die Handflächen." oder so etwas Technisches. Von den Wörtern her schwächer, aber vom Bild her stärker.

Aber dann: "Minutenlang". Das kann ich mir dann doch nicht vorstellen, dass zwei einander völlig unbekannte Personen mehrere Minuten lang schweigend beinandersitzen. Hier würde die Erzählerin die drückende Stille wohl durchbrechen mit irgendeiner profanen Frage. Vielleicht kam es der Erzählerin wie mehrere Minuten vor. Das kann man ja schreiben. Etwas wie: "Mir kam es vor, als würde das Schweigen Minuten dauern", natürlich in deinen Worten. Oder eine andere zeitliche Angabe, die nicht mathematisch, sondern gefühlsmäßig zu verstehen ist (bloß keine "gefühlten Minuten", das wär ganz schlecht :))

Also, für heute reicht es wohl. Für mich ist der Funke übergesprungen, das kann ich nicht anders sagen, und genau das wünsche ich mir eigentlich von einer Geschichte.

Grüße von daedalus

 

Hallo, daedalus,

hab Dank für Deinen freundlichen Kommentar. Du hast Dir wirklich viel Mühe mit der Textarbeit gemacht, und Deine Anmerkungen sind hilfreich für mich. Ich werde wohl noch etwas Feinschliff am Text betreiben. Sehr gut gefällt mir der Gedanke, ".. und Besuch kam ohnehin recht selten" wegzulassen. Auch über das Händeringen denke ich noch einmal nach. Mit dem Begriff "Geständnis" war ich selbst nicht recht zufrieden, habe jetzt eine Bestätigung dafür, dass ein treffenderes Wort her muss. Übrigens: ich hatte beim Schreiben einen älteren Mann vor Augen, spielt aber für die Geschichte eigentlich keine Rolle.

LG, corso

 

Das ist wie eine Folge "X-Faktor - Das Unfassbare". Anstatt eines übernatürlichen Vorfalls, wird diese schwer zu glaubende Unterhaltung beschrieben. So richtig weiß ich nicht, ob ich es gerne lesen würde. Ich finde es jedenfalls fast schon gruselig.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom