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Nacht der tausend Tränen
Irgendwo in Michigan.
Lilly war eine normale Hauskatze, grau-schwarz getigert und mit stechend grünen Augen. Wenn sie wieder ihre Phase hatte, legte sie sich zu Miklo auf die Couch und ließ sich kraulen und streicheln.
Sie war eine Schmusekatze, die stets die Nähe zu ihm suchte und auch immer fand. Nie würde er sie wegscheuchen, dazu liebte er sie zu sehr. So blieb er geduldig auf der Couch liegen, bis Lilly nicht mehr gestreichelt werden wollte und stand erst dann auf. Nicht immer verlief sein Alltag so harmonisch ab.
Drei Jahre zuvor verstarben Miklos Eltern. Seine Adoptiveltern. Sie nahmen den kleinen Miklo aus Puerto Rico mit. Seine Mutter war eine 15 jährige Prostituierte und nicht mehr in der Lage ihren Sohn großzuziehen. Sie schenkten dem Jungen eine traumhafte und unbesorgte Kindheit.
Auch wurde er relativ früh mit der Wahrheit konfrontiert und kam, nach anfänglichen Schwierigkeiten, sehr gut damit zu Recht. Sicherlich hätte er sich gewünscht seine leibliche Mutter kennen zu lernen, aber seine Adoptiveltern ließen ihn die Sehnsucht nach seiner leiblichen Mutter schnell vergessen.
Er recherchierte zwar nach seiner Herkunft und interessierte sich für Puerto Rico, hatte jedoch nie die Absicht hinzufliegen und sich sein Herkunftsland anzuschauen.
Er wusste, dass seine Vorfahren aus einem kleinen Dorf im Süden des Landes kamen und als sehr abergläubig und religiös galten.
So behauptete man, jeder Dorfbewohner werde in seinem Leben tausend Tränen weinen und einen Nebel der Trauer entfachen. Die Bedeutung dieser Worte war ihm nicht wirklich klar, blieben jedoch in seinen Gedanken, denn er empfand diesen Satz als sehr gewichtig.
Dieser Satz hatte etwas Mystisches und Bedrohliches. Seine Recherchen begann er bereits zu Lebzeiten seiner Eltern.
Ein Autounfall zerstörte seine damals heile Welt und Miklo wusste nichts mit sich anzufangen. Er war nie allein. Er kannte das Gefühl der Einsamkeit nicht und wollte sich damit nicht abfinden.
Er war gerade 19 Jahre alt. Seine Eltern hinterließen ihrem einzigen Kind ein großes Haus am Stadtrand und eine Menge Geld. Er hatte ein Leben lang bei ihnen gewohnt und fühlte sich geborgen und vergötterte seine Eltern, die ihm so viel Liebe wie möglich entgegenbracht hatten. Oft dachte er an die interessanten Gespräche die er mit seinem Vater führte und an die Kochkünste seiner liebevollen Mutter. Ihm war bewusst, dass er nicht gerade ein Traumkind war und seine Eltern es nicht einfach mit ihm hatten. Er hatte Probleme mit logischem Denken und sah darüber hinaus auch seltsam aus. Er war knapp zwei Meter lang, was nicht sonderlich schlimm war. Die Tatsache dass er jedoch bei zwei Meter Größe nur 66 Kilo auf die Waage brachte, ließ ihn wie einen kranken und abgemagerten jungen Mann aussehen.
Miklo litt unter einer Überfunktion seiner Schilddrüse. Er war begriffsstutzig und hatte Probleme sich Dinge zu merken. Sein Orientierungssinn war ebenfalls nicht sehr weit ausgeprägt. Das alles lag wohl an dem Drogenkonsum seiner leiblichen Mutter während der Schwangerschaft. Er blieb auch die meiste Zeit zuhause bei seinen Eltern. Jemand wie er hatte natürlich auch keine Freunde und Miklo war immer schon ein Außenseiter gewesen.
Die Kinder in der Nachbarschaft hänselten und schlugen ihn. Sie machten sich über seine Dummheit und sein Aussehen lustig. In immer wiederkehrenden Abständen besuchten sie ihn auf seinem Anwesen und beschmierten das Haus mit Sprüchen und Bildern, die seine Intelligenz und seine Person auf das Korn nahmen. Manchmal, wenn sie besonders gut drauf waren schmissen sie mit Steinen die Fensterscheiben kaputt. Trotz seiner enormen Wut auf die Kinder und Jugendlichen unternahm Miklo nichts um dem Spuk ein Ende zu setzen. Er nahm es hin und arrangierte sich damit. Es fiel ihm zwar schwer, aber solange es nur Sachschäden waren konnte er damit leben.
Trotz dieser Repressalien der Kinder war er soweit zufrieden mit sich selbst. Die Trauer und anfängliche innerliche Orientierungslosigkeit nachdem Verlust seiner Eltern ließen von Tag zu Tag nach und Miklo gestaltete seine Tage so, wie er es am liebsten tat. Er kümmerte sich liebevoll um seine einzigen wahren Freunde.
Seine Tiere.
Jedes einzelne und noch so kleine Tier erhielt einen Namen und einen Geburtstag, der dann auch richtig gefeiert wurde. Vor zwei Tagen hatte sein liebstes Tier Geburtstag. Michigan, die kleine Schildkröte. Er hatte sie und ihr Schwesterchen Chilli vor zwei Jahren in einem Tierladen gekauft und sich auf Anhieb in das kleine Tierchen verliebt. Michigan liebte es, sich zu verstecken, meist lag er unter einem Sessel neben dem Kamin und genoss die Ruhe und Wärme. Neben Lilly der Katze und den beiden Schildkröten besaß Miklo noch drei weitere Katzen (Sonny, Ginny und Raziel), zwei Hunde (Boone und Rusty), drei Kaninchen (Zorro, Frisco und Sox) und ein Aquarium mit mehreren üblichen Fischen. Ginny hatte darüber hinaus vor vier Wochen fünf kleine Babys auf die Welt gebracht und entwickelte höchste Muttergefühle und kümmerte sich rührend um ihren niedlichen Nachwuchs.
Langsam öffnete Miklo seine Augen. Er verspürte einen Schmerz an seinem Hinterkopf und es fiel ihm schwer sich zu bewegen, da auch sein Rücken und seine Beine ihm enorme Schmerzen bereiteten.
Völlig hilflos und ohne jegliche Ahnung, wieso ihm alles weh tat lag er auf der Veranda seines Hauses. Er war nackt und er fror. In der Nacht hatte es geregnet und der Boden war nass. Irgendwas lag auf seinem Bauch und bewegte sich. Es war leicht und bewegte sich immer auf derselben Stelle. Mit Schmerzen hob Miklo seinen Kopf so hoch es ging und schaute auf seinen nackten Bauch. Chilli. Sie robbte, die Beine nach innen gezogen auf der Stelle. Nur der Kopf schaute in Miklos Richtung. Er bemerkte schnell, dass etwas nicht stimmte und versuchte nun mit seiner rechten Hand die kleine Schildkröte zu greifen. Langsam umfasste er das schützende Schild und hob sie hoch. Jetzt sah er es klar und deutlich. Chilli hatte ihre Beinchen nicht nach innen gezogen. Sie hatte keine mehr. Kleine blutige Stummel schauten unter dem Schild hervor. Nun sah Miklo auch das Blut auf seinem Bauch. Chillis Blut.
„Oh Gott, was ist passiert. Chilli? Wer hat Dir das angetan?“
Sagte Miklo und gab seinem Tierchen einen liebevollen Kuss auf den Kopf. Er strich ihr zärtlich über das Schild und quälte sich aufzustehen.
Wieder auf den Beinen dachte er zunächst an die Hunde. Es waren bestimmt die Hunde, schoss es ihm durch den Kopf. So rief er sofort nach ihnen.
“Boone. Rusty. Kommt her. Bei Fuß.“
Normalerweise hörten beide recht gut und wären bereits auf dem Weg zu ihrem Herrchen. Nur kam diesmal keinerlei Reaktion von beiden. Miklo beschloss wieder ins Haus zu gehen um sich etwas anzuziehen. Er war durcheinander, traurig und wütend. Gefühle und Empfindungen die ihm eigentlich fremd waren. Da er stets ein gelassener und besonnener Mensch war. Er hielt Chilli noch in der Hand als sich vor seinen Augen das Grauen abspielte. Alle seine Freunde lagen ermordet und zerstückelt im Haus herum. Seine Augen schweiften über den Ort des Schreckens und ihm wurde klar, dass der Sinn seines Lebens nicht mehr existierte. Alles zerstört. All die Liebe, die Freude, das Glück um das er sich so sehr bemüht hatte und für das er dankbar war verschwanden auf bestialische Art und Weise. Fassungslos, in unendlicher Trauer und resignierend stand er im Raum und schaute auf seine verstümmelten Lieblinge.
„Oh Gott nein. Wer hat das getan?“
Schrie Miklo wütend und weinend.
Aus dem Aquarium plätscherten die letzten Tropfen Wasser auf den Boden, die Fische lagen in ihrem Heim und verendeten. Lilly wurde über der Tür zur Küche an die Wand genagelt und ihr Körper war übersät mit Dart-Pfeilen. Den beiden Hunden wurden die Köpfe abgetrennt und Eingeweide herausgerissen. Die Kaninchen wurden an der Decke aufgehängt und baumelten hin und her. Ihre Augen wurden herausgerissen und auf den Boden geworfen. Sonny lag, mit einer Plastiktüte über dem Kopf auf der Couch. Ein halb verkohlter Körper lag im Kamin, es konnte nur Raziel sein, denn Ginny und ihre Babys lagen im Körbchen, allesamt geköpft. Michigan kam ihm in den Sinn. Ein kurzer Hoffnungsschimmer machte sich in ihm breit und er lief sofort zum Sessel am Kamin. Er hoffte sie dort zu finden, dass sie eventuell übersehen wurde und unter dem Sessel schlief. Immer noch Chilli in der Hand haltend bückte sich Miklo und schaute drunter. Sie war nicht da. Er begann den gesamten Raum nach seinem Lieblingstier zu durchsuchen. Nach einer halben Stunde gab er auf und beschloss zunächst in aller Ruhe seine anderen Tiere zu begraben.
Miklo hatte etwas größere Steine gesammelt und legte sie mit Namen, Geburtstag und Todestag beschriftet auf die jeweiligen Gräber und betete für jedes Tier einzeln. Nach getaner Arbeit stellte er sich vor die Gräber und sprach noch mal zu ihnen. „Ihr werdet mir alle fehlen. Diese Mörder. Die ganze Stadt wird dafür bezahlen müssen. Ich weiß wer das getan hat. Diese herzlosen Kinder. Sie haben mein ganzes Leben zerstört. Heute Nacht wird geweint. Ich verspreche es euch. Es wird die Nacht der tausend Tränen.“
Es war mitten in der Nacht. Miklo saß auf seiner Veranda und trank einen Orangesaft. Er hatte sein Versprechen eingehalten und es flossen Tränen. Ein Nebel voller Schmerz, Trauer, Wut, Tränen und Tod breitete sich über die Stadt aus und hinterließ einen Blutgetränkten Berg voller Kinderleichen.
Er hielt Chilli in seiner Hand und strich ihr immer wieder zärtlich übers Schild. Er hatte ihre Wunden versorgt und sich um sie gekümmert. Er nahm noch einen kräftigen Schluck von seinem Saft und hörte ein leises Geräusch im Haus. Etwas raschelte. Miklo hatte noch immer höllische Schmerzen und quälte sich hoch und lief ins Haus. Tatsächlich. Ein Knäuel Zeitungspapier schien sich zu bewegen und Miklo wusste sofort das es Michigan sein musste. Er zog das Knäuel beiseite und erblickte seinen Lieblingsschatz. Die Freude in seinem Gesicht war unverkennbar und er drückte das kleine Tier an sich und knuddelte es.
„Ich hab es geahnt, mein kleiner Schatz.“ Sagt er glücklich und erleichtert.
Er setzte sich mit den beiden Schildkröten auf die Couch und sprach zu ihnen.
„Wenigstens seid ihr beide noch bei mir. Eure Freunde sind alle von uns gegangen.“
Ihm kamen die Tränen. „Es tut so verdammt weh. Ich habe Schmerzen in meinem Herzen. Ich bin so traurig. Nie wieder werde ich mit Lilly auf der Couch kuscheln können. Das bellen der Hunde, die kleinen Katzenbabys und alle anderen werden mir so sehr fehlen. Es tut so weh.“
Er wurde still und ihm schossen Gedanken durch den Kopf. Er sah Dinge. All das, was er in den letzten Stunden getan hatte manifestierte sich in seinem Kopf und zeigte sich in klaren Bildern. All das Grauen. All der Schrecken. Das Blut. Schreiende Kinder. Abgeschlachtet. Geköpft. An die Wand genagelt. Zerstückelt. Wie seine Lieblinge. All das was er getan hatte spielte sich in seinem Kopf wieder ab. Keine Stopp Taste, Kein Vorspulen, Keine Pause zum verarbeiten der grauenvollen Bilder
Aber dennoch, Miklo fühlte sich gut. Er hatte denen wehgetan, die sein Leben zerstörten und ihn in seiner Trauer alleine ließen. Die Kinder werden ihm nicht mehr wehtun. Niemand wird sich mehr lustig über ihn machen. Er verstand nun den Satz seiner Vorfahren: Jeder Dorfbewohner werde in seinem Leben tausend Tränen weinen und einen Nebel der Trauer entfachen.
Miklo steigt durchs Fenster, schleicht sich ins Kinderzimmer. Zwei Betten. Ein Junge, ein Mädchen.
Er holt seine Machete aus seinem Mantel und schlägt drauf zu. Immer wieder. Blut spritzt durch den Raum. Körperteile fallen zu Boden. Kleine Kinderhände, Füße, Finger. Alles mögliche.
Miklo läuft die Straße entlang und erblickt ein kleines Mädchen am Fenster eines großen Familienhauses. Er lockt sie nach unten. Sie öffnet lächelnd die Haustür. Miklo lächelt nicht. Er hackt ihr den Kopf ab. Mit einem Schlag.
Miklo erblickt zwei Teenager am Straßenrand. Sie trinken heimlich Bier. Miklo spricht sie an. Sie lachen ihn aus. Er haut ihnen mit der Axt die Schädel kaputt. Schädelstücke liegen auf dem Boden. Einer zappelt noch. Miklo jagt ihm die Axt in die Brust. Blut spritzt ihm ins Gesicht.
Die Jagd geht weiter. Ein Opfer nach dem anderen. Miklo zählt nicht. Er metzelt sie nieder.
Die Nacht ist lang. Miklo ist jetzt fertig. Er hat es zu Ende gebracht. Er setzt sich auf seine Veranda. Er trinkt Orangensaft. Im Haus raschelt die Zeitung. Es ist Michigan. In Michigan.