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Nachtfahrt

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24.08.2005
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Nachtfahrt

Es ist bald vier Jahre her, dass ich meine große Liebe verloren habe. Sie war ein wirklich tolles Mädchen. Ihr Haar hat immer so wundervoll geduftet. Ich habe es geliebt, mit meiner Hand durch es hindurch zu fahren und darunter die Form ihres Kopfes zu spüren. Sie hatte blaue Augen, die mich an einen strahlenden Novemberhimmel erinnert haben. In den letzten Monaten unserer Beziehung, habe ich Wolken darin gesehen, doch ich habe sie nicht gesehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Sie hatte ein so süßes Gesicht. Wenn man sie anschaute, wollte man nichts anderes tun, als bei ihr zu bleiben, um sie zu beschützen.
Wenn sie etwas von mir wollte, aber nicht sicher war, ob sie es bekommen würde, begann sie ihre Frage immer mit einem lang gezogenen „Matze“. Mein Gott, was glauben Sie, wie ich sie in diesen Momenten geliebt habe.
Ablehnen konnte ich bei ihren so vorgetragenen Anliegen nie. Doch sie konnte auch anders. Wenn wir Meinungsverschiedenheiten hatten, dann hat sich zwischen ihren Augenbrauen immer so eine Linie gebildet. Ich glaube, es war Stephen King, der diese Linie in einem seiner Romane, die „Ich-will-Linie“ nannte und er hatte Recht damit, denn wenn sie etwas wollte, dann wollte sie es wirklich.
Doch wie junge Männer nun mal sind, war ich, obwohl ich sie vergöttert habe, auf der Suche. Heute weiß ich, dass ich auf der Suche nach mir selbst war. Das habe ich damals nicht erkannt, ich war zu jung. In unseren vier gemeinsamen Jahren, habe ich sie dreimal verlassen und bin immer wieder zurück gekrochen gekommen. Und jedes Mal hat sie mich zurückgenommen. Ich sagte es ja bereits, ich habe sie vergöttert, aber wie sehr sie mich geliebt haben muss, kann ich mir nicht mal in meinen kühnsten Träumen vorstellen.
In den letzten Monaten unserer Beziehung hatte ich eine harte Zeit. Meine Großtante hatte sich auf einen Kampf eingelassen, den sie nicht gewinnen konnte – Krebs. Ich saß stundenlang an ihrem Sterbebett. Ich hörte, ihr Stöhnen und ihre Schmerzenschreie. Manchmal war sie bei klarem Verstand.
„Mach, dass es aufhört“, sagte sie dann immer.
Mach, dass es aufhört. Natürlich konnte ich das nicht tun. Und so saß ich an ihrem Bett und wir haben beide dem Ticken der Todesuhr gelauscht, das den Raum erfüllte. Glauben Sie mir, diese Todesuhr gibt es wirklich. Sie ist in allen Dingen, vor allem aber kommt ihr Ticken aus dem Körper des Sterbenden. Es ist schrecklich. Die Folge war, dass ich mich in mich selbst zurückgezogen habe. Zu meiner Freundin wurde ich kalt und abweisend. Ich konnte einfach nicht zärtlich sein, mit dem Ticken der Todesuhr in meinen Ohren und mit dem ausgemergelten Gesicht meiner Großtante vor Augen. Ich habe es nicht ertragen.
Doch das konnte ich meiner Freundin nicht erklären. Meine Großtante war, trotz ihrer neunzig Jahre, ein zäher Brocken. Wenn sie schneller gestorben wäre, dann hätten meine Freundin und ich vielleicht noch die Biege bekommen. So aber, hat sie meine Kälte nicht mehr ertragen und ist gegangen.
In der Folgezeit konnte ich nicht mehr Essen und nicht mehr Schlafen. Meine Arbeit hat gelitten. Da ihr Bild von meinem Schreibtisch und ihr Ring von meinem Finger verschwunden waren, wussten alle warum. Man hatte Verständnis.
Die Nächte waren das Schlimmste. Irgendwann habe ich meinen Autoschlüssel genommen und bin ins Auto gestiegen. Ich bin zu dem Haus gefahren, in dem sie mit ihrer Schwester gelebt hat. Lange habe ich zu den dunklen Fenstern hinauf gestarrt und dabei vor mich hin geraucht. Ich habe den fressenden Schmerz in mir gespürt und manchmal sogar fast so etwas wie Wahnsinn. Ich glaube, in dieser Zeit stand ich wirklich auf der Kippe.
Doch das war nur der erste Punkt meiner nächtlichen Touren. Ich bin an unseren Lieblingscafés vorbei gefahren, am Haus ihrer Eltern und am Haus ihrer besten Freundin. Manchmal habe ich die Tour danach noch fortgesetzt. Bin noch mal zu ihrem Haus zurück oder einfach durch die Gegend gefahren.

Auf einer meiner Touren, bemerkte ich, dass mir ein Wagen folgte. Wenn ich schneller wurde, wurde er auch schneller, wenn ich abbog, dann bog er auch ab. Es war mitten in der Nacht und die Straßen waren leer. Ich bekam Angst.
Versuchen Sie mal mit 90 Pferdchen unter der Haube vor einem anderen Auto zu fliehen. Vor allem wenn dieses andere Fahrzeug eine große Limousine ist, wie sie es an ihren Umrissen erkennen können. Ich habe es versucht.
Als ich mit 80 Sachen durch eine 30-Zone gerast bin, ging im Wagen hinter mir ein Blaulicht an. Auch wenn ich gerade dabei war, viel zu schnell durch die Nacht zu rasen, war ich ja so was von erleichtert. Sofort habe ich abgebremst und bin rechts ran gefahren. Die große Limousine, es war ein Mercedes, hielt hinter mir.
Zwei Zivilbeamte stiegen aus. Einer kam an mein Fenster, der andere sicherte, die Hand auf der Waffe. Ich konnte ihn sehr deutlich im Rückspiegel sehen.
„Guten Abend“, sagte der Beamte an meinem Fenster. „Steigen sie bitte mal aus.“
Ich tat, wie mir geheißen.
„Führerschein und Fahrzeugschein bitte“, sagte der Beamte. Langsam holte ich mein Portemonnaie aus der Jackentasche. Dabei ließ ich den sichernden Beamten nicht aus den Augen. Ich hatte keine Lust, erschossen auf dem kalten Gehweg zu enden.
Ich reichte dem Polizist meine Papiere. Er gab sie nach hinten an seinen Kollegen weiter.
„Haben Sie etwas getrunken?“ Das konnte ich verneinen.
„Meinen Sie nicht, dass sie ein bisschen schnell gefahren sind?“
„Ja, das bin ich“, sagte ich. „Wenn Sie nachts einen großen Wagen in Ihrem Rückspiegel sehen würden, der jedes Mal folgt, wenn Sie abbiegen, dann würden sie auch schnell fahren.“
Der Polizist lächelte.
„Wo wollen Sie denn überhaupt hin?“ Im Hintergrund gab sein Kollege meine Daten über Funk an die Leitstelle durch.
„Der Weg ist das Ziel“, sagte ich. „Ich fahre einfach nur umher.“
„Sie wissen aber schon, dass Sie das nicht dürfen.“
Nein, das wusste ich nicht.
„Warum fahren Sie denn einfach nur umher“, fragte er dann.
Und dann brach es aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles, was mich belastete. Sein Kollege stieß irgendwann dazu und gab mir meine Papiere zurück.
„Alles in Ordnung.“
Wir standen eine halbe Stunde dort und ich erzählte und ich weinte. Schließlich legte mir der Polizist, der an mein Fenster gekommen war, einen Arm um die Schulter.
„Hör mal“, sagte er. Er duzte mich jetzt, aber das war okay.
„Du wirst darüber hinweg kommen. Auch andere Mütter haben schöne Töchter.“
Ich nickte, nicht weil ich ihm glaubte, sondern weil mir langsam sehr kalt wurde und ich zurück ins Auto wollte.
Er merkte wohl, dass ich ihm nicht glaubte.
„Ich habe das selbst erlebt. Nach vierzehn Jahren Ehe hat meine Frau die Scheidung eingereicht. Nach einem Vierteljahr war ich darüber hinweg.“
Schön für dich. Meine Trennung lag schon mehr als ein Vierteljahr zurück und ich war nicht darüber hinweg.
„Ich muss Dich jetzt noch verwarnen“, fuhr er fort.
„Du bist viel zu schnell gefahren.“
Ich nickte. Er wusste ja, warum ich zu schnell gefahren war.
„Nimm es nicht so schwer“, sagte er zum Abschied. Die beiden Polizisten stiegen in ihr Auto und fuhren davon.
Ich blieb allein zurück. Bis heute finde ich es toll, dass sie sich die Zeit genommen haben, mir zu zuhören. Das sie mir nicht helfen konnten, mein Gott, es waren schließlich Polizisten und keine Therapeuten. Wie falsch der Polizist mit seiner Annahme gelegen hat, würde er niemals glauben. Ich bin heute noch nicht über sie hinweg.

 

Diese Geschichte ist tatsächlich so passiert. Ich habe sie für diese beiden tollen Polizisten aufgeschrieben, die mich damals angehalten haben. Sie haben geholfen, mein Bild, das ich von der Polizei hatte, deutlich zu wandeln.
Auch alle späteren Erlebnisse mit Polizisten bestätigen mir, dass sie tatsächlich in erster Linie Freund und Helfer sind, egal, was andere sagen.
Viel Spass beim Lesen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Morgen Lukas,

es freut mich, dass ich Dich nicht "vollgekotzt" habe ;-).
Wenn ich mir diese Sache von der Seele hätte schreiben wollen, dann wäre vielleicht so etwas dabei herausgekommen. Heute habe ich mit diesem Damals abgeschlossen, deshalb konnte ich als Schriftsteller und nicht als Leidender an diese Erzählung herangehen. Der letzte, sehr pathetische Satz ist also nur eine Wahrheit.

lukas_iskariot schrieb:
Wenn es ein rein fiktiver Text wäre, würde ich die Szene mit den Polizisten etwas ausbauen, denn sie hat durchaus ein witziges Potential, wenn aus einer gefürchtetetn Verfolgung eine Verkehrskontrolle wird und aus dieser eine therapeutische Sitzung; aber eine humorvolle, skurrile Geschichte lag dir ja nicht am Herzen, aber vielleicht machst du aus jener Szene nocheinmal eine andere Geschichte?

Möglich ist alles. Vielleicht taucht diese Erzählung tatsächlich irgendwann fiktioniert bei mir wieder auf.

lukas_iskariot schrieb:
Der Schlusssatz ist mir etwas zu pathetisch, aber da kann man wohl nichts machen - auf jeden Fall bin ich gespannt, einen rein fiktiven Text von dir zu lesen, um zu sehen, wie sich deine Sprache dort "verhält".

Rein fiktive Texte von mir findest Du in der Rubrik Horror "Deadman's Forrest", in der Rubrik Humor "Feuer in den Augen" und in der Rubrik Spannung/Krimi "Infarkt" und hoffentlich irgendwann im Buchhandel ;-)

 

Hallo Klemens,

mir hat die Geschichte nicht so toll gefallen. Wenn du nicht im Nachhinein geschrieben hättest, dass dir das Alles selbst passiert ist, würde ich sagen ein "Wunschdenken".
Es wäre schön, wenn man bei Zusammenstößen mit der Polizei, diese so leicht von seiner strafbaren Handlung ablenken könnte.

Besonders hart finde ich den Satz:

Wenn sie schneller gestorben wäre, dann hätten meine Freundin und ich vielleicht noch die Biege bekommen.

Hier ist es wohl nicht so in Ordnung, die Schuld bei der Krankheit der Großtante zu suchen. Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, dann ist man meist auch selbst Schuld daran.

Einige Kleinigkeiten noch:

In den letzten Monaten unserer Beziehung, habe ich Wolken darin gesehen, doch ich habe sie nicht gesehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

In den letzen Monaten unserer Beziehung habe ich Wolken darin bemerkt, aber nie bewusst gesehen.
Hierdurch kannst du den Satz:

wenn Sie verstehen, was ich meine.

weg lassen.

Es gefällt mir sowieso nicht so gut, wenn der Autor den Leser direkt anspricht.

Ich bin zu dem Haus gefahren, in dem sie mit ihrer Schwester gelebt hat.

Lebt sie dort noch? Dann würde ich sagen: ... mit ihrer Schwester lebte.

Zusammenfassend kann ich nur sagen, wenn die Handlung nicht selbst erlebt wäre, dann würde ich sagen "zu phantasievoll".

Viele Grüße
bambu

 

bambu schrieb:
Es wäre schön, wenn man bei Zusammenstößen mit der Polizei, diese so leicht von seiner strafbaren Handlung ablenken könnte.

Es gibt auch Gnade vor Recht. Ich diskutiere hier nicht mir Dir darüber, denn ich habe es erlebt.

bambu schrieb:
Besonders hart finde ich den Satz:

Wenn sie schneller gestorben wäre, dann hätten meine Freundin und ich vielleicht noch die Biege bekommen.


Du hast keine alte Verwandschaft, oder? Ich habe in den vergangenen zehn Jahren zehn Todesfälle in meiner Familie erleben müssen. Nur einer davon war plötzlich, alle anderen nach langer Krankheit. Der Tod kann eine Gnade sein und als Hinterbliebener lernt man mit ihm umzugehen. Mit dem Leid vor dem Tod umzugehen, dass lernt man hingegen nie.

Klemens W. schrieb:
In den letzten Monaten unserer Beziehung, habe ich Wolken darin gesehen, doch ich habe sie nicht gesehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Dieser Satz ist bewußt so formuliert.


bambu schrieb:
Es gefällt mir sowieso nicht so gut, wenn der Autor den Leser direkt anspricht.

Deine Meinung!

bambu schrieb:
Lebt sie dort noch? Dann würde ich sagen: ... mit ihrer Schwester lebte.

Nein, sie lebt dort nicht mehr.

 

Grundsätzlich muß ich mich lukas_iskariot anschließen: der Verweis, daß eine Geschichte real passiert sei, erweckt in mir gräßliche Übelkeit. Zu oft erscheint mir das als eine Entschuldigung für einen Riesenmist.

So ging es mir mit dieser Geschichte nicht. Gut erzählt, abgeschlossen, wenn auch nicht vollkommen begeisternd. Interessant fand ich die Hinwendung zum Leser, die direkte Ansprache, auch wenn ich denke, daß man daraus noch mehr machen könnte.

Da ich heute ein (ausnahmsweise) sehr erfreuliches Erlebnis mit der Deutschen Bahn hatte, bezweifle ich in keiner Weise, daß es so passiert ist, so passieren kann. Dennoch denke ich, daß hier noch mehr Potential vorhanden ist. lukas_iskariot hat ja bereits die Möglichkeiten einer skurril-therapeutischen Herausarbeitung vorgeschlagen. Weshalb sich nicht von der Realität lösen, weshalb nicht ein "was-wäre-wenn" zu Ende denken? Vielleicht kürzt Du auch noch die Schwärmereien für die ehemealige Partnerin, der eigentlichen Geschichte dienen sie nur als Hintergrund, allerdings kommt ihnen m.E. ein zu großer Part zu. Wenn Du den Stoff fiktiv werden läßt, könnte der Text richtig gut werden. Denn: wen interessiert schon die Realität?

 

cbrucher schrieb:
Wenn Du den Stoff fiktiv werden läßt, könnte der Text richtig gut werden. Denn: wen interessiert schon die Realität?

Erstmal Danke für Deine freundliche Kritik. Ich werde mir das wirklich überlegen. Wenn ich diese Geschichte zur Fiktion mache, dann aber komplett neu, um die Vergleichsmöglichkeit zur Realität zu erhalten. Die Geschichte einfach nur umzuschreiben, halte ich für wenig sinnvoll.

LG K.

 

Ja, die beiden haben recht. Man kann sich ganz gut mit dem dem Protagonisten identifizieren, wenn man auch nicht emotional mitgerissen ist. Darin liegt die Ursache in der Distanziertheit einer solchen Erlebniserzählung, glaube ich. Aber die Geschichte war durchaus schön zu lesen.

 

popla schrieb:
Ja, die beiden haben recht. Man kann sich ganz gut mit dem dem Protagonisten identifizieren, wenn man auch nicht emotional mitgerissen ist. Darin liegt die Ursache in der Distanziertheit einer solchen Erlebniserzählung, glaube ich. Aber die Geschichte war durchaus schön zu lesen.

Danke für dein freundliches Lob.

K.

 

Hallo Klemens,

ich bin etwas zwiegespalten mit deiner Geschichte. Ich persönlich mag die Anrede des Lesers nicht so sehr, aber gut, dass ist ja nicht deine Schuld. *g*
Inhaltlich fand ich deine Geschichte gelungen, gerade die Szene mit den Polizisten. Ich denke, man hat zwar nur selten so viel Glück, aber möglich ist es durchaus.
Nicht so toll fand ich, dass mir die Spannung sowie die Verbundenheit zu den Protagonisten gefehlt hat. Das ist aber ein "Nachteil" von real erlebten Geschichten. Man hält sich so stark an die Tatsachen, das man zwangsläufig einige Sachen anders schreibt/ anders macht, als bei einer erfundenen Geschichte.
Stilistisch hat´s mir gut gefallen.

Ach ja, beim letzten Satz ging es mir wie Lukas - den fand ich echt zu viel des Guten.

Fazit: Nette Geschichte, aber nicht ganz mein Fall.

LG
Bella

 

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