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Nachtfahrt
Es ist bald vier Jahre her, dass ich meine große Liebe verloren habe. Sie war ein wirklich tolles Mädchen. Ihr Haar hat immer so wundervoll geduftet. Ich habe es geliebt, mit meiner Hand durch es hindurch zu fahren und darunter die Form ihres Kopfes zu spüren. Sie hatte blaue Augen, die mich an einen strahlenden Novemberhimmel erinnert haben. In den letzten Monaten unserer Beziehung, habe ich Wolken darin gesehen, doch ich habe sie nicht gesehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Sie hatte ein so süßes Gesicht. Wenn man sie anschaute, wollte man nichts anderes tun, als bei ihr zu bleiben, um sie zu beschützen.
Wenn sie etwas von mir wollte, aber nicht sicher war, ob sie es bekommen würde, begann sie ihre Frage immer mit einem lang gezogenen „Matze“. Mein Gott, was glauben Sie, wie ich sie in diesen Momenten geliebt habe.
Ablehnen konnte ich bei ihren so vorgetragenen Anliegen nie. Doch sie konnte auch anders. Wenn wir Meinungsverschiedenheiten hatten, dann hat sich zwischen ihren Augenbrauen immer so eine Linie gebildet. Ich glaube, es war Stephen King, der diese Linie in einem seiner Romane, die „Ich-will-Linie“ nannte und er hatte Recht damit, denn wenn sie etwas wollte, dann wollte sie es wirklich.
Doch wie junge Männer nun mal sind, war ich, obwohl ich sie vergöttert habe, auf der Suche. Heute weiß ich, dass ich auf der Suche nach mir selbst war. Das habe ich damals nicht erkannt, ich war zu jung. In unseren vier gemeinsamen Jahren, habe ich sie dreimal verlassen und bin immer wieder zurück gekrochen gekommen. Und jedes Mal hat sie mich zurückgenommen. Ich sagte es ja bereits, ich habe sie vergöttert, aber wie sehr sie mich geliebt haben muss, kann ich mir nicht mal in meinen kühnsten Träumen vorstellen.
In den letzten Monaten unserer Beziehung hatte ich eine harte Zeit. Meine Großtante hatte sich auf einen Kampf eingelassen, den sie nicht gewinnen konnte – Krebs. Ich saß stundenlang an ihrem Sterbebett. Ich hörte, ihr Stöhnen und ihre Schmerzenschreie. Manchmal war sie bei klarem Verstand.
„Mach, dass es aufhört“, sagte sie dann immer.
Mach, dass es aufhört. Natürlich konnte ich das nicht tun. Und so saß ich an ihrem Bett und wir haben beide dem Ticken der Todesuhr gelauscht, das den Raum erfüllte. Glauben Sie mir, diese Todesuhr gibt es wirklich. Sie ist in allen Dingen, vor allem aber kommt ihr Ticken aus dem Körper des Sterbenden. Es ist schrecklich. Die Folge war, dass ich mich in mich selbst zurückgezogen habe. Zu meiner Freundin wurde ich kalt und abweisend. Ich konnte einfach nicht zärtlich sein, mit dem Ticken der Todesuhr in meinen Ohren und mit dem ausgemergelten Gesicht meiner Großtante vor Augen. Ich habe es nicht ertragen.
Doch das konnte ich meiner Freundin nicht erklären. Meine Großtante war, trotz ihrer neunzig Jahre, ein zäher Brocken. Wenn sie schneller gestorben wäre, dann hätten meine Freundin und ich vielleicht noch die Biege bekommen. So aber, hat sie meine Kälte nicht mehr ertragen und ist gegangen.
In der Folgezeit konnte ich nicht mehr Essen und nicht mehr Schlafen. Meine Arbeit hat gelitten. Da ihr Bild von meinem Schreibtisch und ihr Ring von meinem Finger verschwunden waren, wussten alle warum. Man hatte Verständnis.
Die Nächte waren das Schlimmste. Irgendwann habe ich meinen Autoschlüssel genommen und bin ins Auto gestiegen. Ich bin zu dem Haus gefahren, in dem sie mit ihrer Schwester gelebt hat. Lange habe ich zu den dunklen Fenstern hinauf gestarrt und dabei vor mich hin geraucht. Ich habe den fressenden Schmerz in mir gespürt und manchmal sogar fast so etwas wie Wahnsinn. Ich glaube, in dieser Zeit stand ich wirklich auf der Kippe.
Doch das war nur der erste Punkt meiner nächtlichen Touren. Ich bin an unseren Lieblingscafés vorbei gefahren, am Haus ihrer Eltern und am Haus ihrer besten Freundin. Manchmal habe ich die Tour danach noch fortgesetzt. Bin noch mal zu ihrem Haus zurück oder einfach durch die Gegend gefahren.
Auf einer meiner Touren, bemerkte ich, dass mir ein Wagen folgte. Wenn ich schneller wurde, wurde er auch schneller, wenn ich abbog, dann bog er auch ab. Es war mitten in der Nacht und die Straßen waren leer. Ich bekam Angst.
Versuchen Sie mal mit 90 Pferdchen unter der Haube vor einem anderen Auto zu fliehen. Vor allem wenn dieses andere Fahrzeug eine große Limousine ist, wie sie es an ihren Umrissen erkennen können. Ich habe es versucht.
Als ich mit 80 Sachen durch eine 30-Zone gerast bin, ging im Wagen hinter mir ein Blaulicht an. Auch wenn ich gerade dabei war, viel zu schnell durch die Nacht zu rasen, war ich ja so was von erleichtert. Sofort habe ich abgebremst und bin rechts ran gefahren. Die große Limousine, es war ein Mercedes, hielt hinter mir.
Zwei Zivilbeamte stiegen aus. Einer kam an mein Fenster, der andere sicherte, die Hand auf der Waffe. Ich konnte ihn sehr deutlich im Rückspiegel sehen.
„Guten Abend“, sagte der Beamte an meinem Fenster. „Steigen sie bitte mal aus.“
Ich tat, wie mir geheißen.
„Führerschein und Fahrzeugschein bitte“, sagte der Beamte. Langsam holte ich mein Portemonnaie aus der Jackentasche. Dabei ließ ich den sichernden Beamten nicht aus den Augen. Ich hatte keine Lust, erschossen auf dem kalten Gehweg zu enden.
Ich reichte dem Polizist meine Papiere. Er gab sie nach hinten an seinen Kollegen weiter.
„Haben Sie etwas getrunken?“ Das konnte ich verneinen.
„Meinen Sie nicht, dass sie ein bisschen schnell gefahren sind?“
„Ja, das bin ich“, sagte ich. „Wenn Sie nachts einen großen Wagen in Ihrem Rückspiegel sehen würden, der jedes Mal folgt, wenn Sie abbiegen, dann würden sie auch schnell fahren.“
Der Polizist lächelte.
„Wo wollen Sie denn überhaupt hin?“ Im Hintergrund gab sein Kollege meine Daten über Funk an die Leitstelle durch.
„Der Weg ist das Ziel“, sagte ich. „Ich fahre einfach nur umher.“
„Sie wissen aber schon, dass Sie das nicht dürfen.“
Nein, das wusste ich nicht.
„Warum fahren Sie denn einfach nur umher“, fragte er dann.
Und dann brach es aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles, was mich belastete. Sein Kollege stieß irgendwann dazu und gab mir meine Papiere zurück.
„Alles in Ordnung.“
Wir standen eine halbe Stunde dort und ich erzählte und ich weinte. Schließlich legte mir der Polizist, der an mein Fenster gekommen war, einen Arm um die Schulter.
„Hör mal“, sagte er. Er duzte mich jetzt, aber das war okay.
„Du wirst darüber hinweg kommen. Auch andere Mütter haben schöne Töchter.“
Ich nickte, nicht weil ich ihm glaubte, sondern weil mir langsam sehr kalt wurde und ich zurück ins Auto wollte.
Er merkte wohl, dass ich ihm nicht glaubte.
„Ich habe das selbst erlebt. Nach vierzehn Jahren Ehe hat meine Frau die Scheidung eingereicht. Nach einem Vierteljahr war ich darüber hinweg.“
Schön für dich. Meine Trennung lag schon mehr als ein Vierteljahr zurück und ich war nicht darüber hinweg.
„Ich muss Dich jetzt noch verwarnen“, fuhr er fort.
„Du bist viel zu schnell gefahren.“
Ich nickte. Er wusste ja, warum ich zu schnell gefahren war.
„Nimm es nicht so schwer“, sagte er zum Abschied. Die beiden Polizisten stiegen in ihr Auto und fuhren davon.
Ich blieb allein zurück. Bis heute finde ich es toll, dass sie sich die Zeit genommen haben, mir zu zuhören. Das sie mir nicht helfen konnten, mein Gott, es waren schließlich Polizisten und keine Therapeuten. Wie falsch der Polizist mit seiner Annahme gelegen hat, würde er niemals glauben. Ich bin heute noch nicht über sie hinweg.