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Nachtflug

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29.10.2004
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Nachtflug

„Da draußen braut sich was zusammen.“

Michael zündete sich eine Zigarette an - die vierte in der vergangenen halben Stunde - und tippte demonstrativ mit dem Zeigefinger gegen den trübe leuchtenden Bildschirm des Wetterradars. Der schwarze Monitor hatte sich an mehreren Stellen auffällig verfärbt und einen Ring aus dichten Flecken aus grellem Orange und Magenta gebildet.

Er warf einen Blick durch die von innen leicht beschlagene Cockpitscheibe. „Wird fast unmöglich sein, das Gewitter zu umfliegen.“

Anna hob nun ebenfalls den Kopf und blickte mit müden Augen nach draußen. Es war schon spät - kurz vor Mitternacht, schätzte sie - und jenseits des Fensters hatte sich eine verschwommene Dunkelheit zusammengeballt, die nur ab und zu von einem in der Ferne zuckenden Blitz erhellt wurde. Das dumpfe, monotone Dröhnen der beiden Flugzeugmotoren verschluckte den Widerhall des Donners.

„Sieht alles nach einer weiteren Nacht im Hotel aus.“
Sie schaute auf den halbvollen Kaffeebecher hinunter, den sie nun schon seit einer geraumen Weile unangetastet in den Händen hielt. Die schwarze, stark gezuckerte Flüssigkeit war längst kalt geworden.

Michael zuckte die Schultern. „Was hast du dagegen? Ein riesiger Fernseher, eine Badewanne...“ Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. „Ein Doppelbett nur für uns beide.“

Sie schmiegte ihr Gesicht in seine Handfläche.

„Trotzdem wäre es mir lieber, endlich mal wieder eine Nacht zu Hause verbringen zu können. Diese winzigen Shampooflaschen hängen mir langsam zum Hals heraus...“

Normalerweise hätte Michael die Bemerkung mit einem nachsichtigen Lächeln quittiert, aber an diesem Abend blieb seine Mine ernst. Schon seit Stunden lag eine ungewöhnliche, kaum merkbare Anspannung auf seinen Zügen, die Anna sich nicht erklären konnte.
Hinzu kamen weitere Kleinigkeiten, die ihre Aufmerksamkeit erregten: Eine fahrige Handbewegung, eine Antwort, die ein wenig zu lang auf sich warten ließ, eine Zigarette zu viel. Details - zu unbeträchtlich, um ihn darauf anzusprechen, und gleichzeitig zu zahlreich, um sie nicht zu bemerken.

Anna nahm einen großen Schluck aus ihrem Kaffeebecher und verzog augenblicklich das Gesicht, als die nicht einmal mehr lauwarme, viel zu süße Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann.

„Noch Kaffee?“, fragte Michael und angelte ungeschickt eine silberne Thermoskanne aus der Tasche hinter seinem Sitz hervor.

Obwohl sich alleine bei dem Gedanken an einen weiteren Schluck flüssigen Koffeins ihr Magen verkrampfte, nickte sie. „Sehr gerne.“

„Müsste sogar noch warm sein.“ Auf Michaels Lippen erschien ein gezwungen wirkenden Lächeln, als er ihr den Becher aus der Hand nahm. „Du könntest inzwischen hinten Bescheid sagen, dass wir ein paar Turbulenzen erwarten. Und dass wir gleich da sind.“

Anna verdrehte die Augen. „Als ob irgend jemand auf der Welt Doktor Kaufmann dazu bewegen könnte, seinen Laptop wegzulegen und die Rückenlehne senkrecht zu stellen.“ Sie lächelte.

„Nun, wenn es jemand kann, dann du.“ Michael nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette.

Anna streifte ergeben die Kopfhörer von den Ohren, löste den Sicherheitsgurt und kletterte über die Mittelkonsole hinweg in den Gang. Der Privatjet war zwar sehr komfortabel eingerichtet, aber nicht besonders groß.

Turbulenzen schüttelten die Maschine, als sie durch die Tür trat, die das Cockpit vom hinteren Teil des Flugzeugs trennte.

Kaufmann saß in einem mit Leder bezogenen Sessel am Fenster und überarbeitete einen Stapel von Akten. Auf dem sorgfältig polierten Mahagonitisch vor ihm stand ein Martiniglas, an dem er hin und wieder nippte.

Als er Anna bemerkte, blickte er auf und lächelte.
„Na, ist es Dir zu langweilig im Cockpit?“

Anna erwiderte sein Lächeln und ließ sich in den Sessel neben ihm sinken.
„Vielleicht...“, flüsterte sie in beinahe laszivem Tonfall, und fügte dann eine ganze Spur ernster hinzu: „Es ist nicht mehr weit bis nach Hamburg, aber wir erwarten Turbulenzen. Das Wetterradar hat einen Gewitterring geortet. Ungefähr zwanzig Meilen voraus. Am besten, Du schnallst Dich an und räumst Deine Sachen zusammen.“ Sie deutete auf die Papiere, die quer über die Tischplatte verteilt lagen.

„Gewitter“, wiederholte Kaufmann. „Nichts ernsthaftes, hoffe ich.“

Anna zuckte die Schultern. „Michael kümmert sich gerade um die aktuellen Wetterdaten.“

„Und welchen Ausweichflughafen haben wir?“, fragte er.

„Hannover. Zur Not auch Erfurt.“

Kaufmann verzog die Lippen. „Na großartig. Ich hoffe, du hast deine Zahnbürste eingepackt.“

„Zur Not leihe ich mir Deine.“ Anna schürzte die Lippen und warf dem Geschäftsmann einen vielsagenden Blick zu.

Kaufmann schüttelte den Kopf. „Anna, hör auf. Du weißt doch, dass...“

„Ich weiß gar nichts“, flüsterte sie.

„Aber ER weiß es“, entgegnete Kaufmann. „Ich bin mir sicher.“

„Unsinn“, wiedersprach Anna. „Kompletter Unsinn.“

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, wurde das Flugzeug in diesem Augenblick von neuerlichen Turbulenzen geschüttelt. Haltsuchend griff Anna nach Kaufmanns Arm.

„Mach Dir keine Sorgen“, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und wie gesagt: Vergiss nicht, Dich anzuschnallen.“

In dem Moment, als sie aufstand, traf eine neue, ungleich härtere Böe das Flugzeug wie ein Faustschlag. Anna fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen weggerissen wurde. Rein instinktiv streckte sie den Arm aus, um sich an einem der Ledersitze festzuhalten, aber ihre Hände griffen ins Leere. Sie stürzte. Das Licht ging aus. In der Dunkelheit hinter ihr zerschellte ein Glas, das vom Tisch gerutscht sein musste. Sie prallte gegen irgend etwas hartes, als plötzlich eine starke Hand ihr Schulter packte und ihren Sturz auffing.

„Vorsicht“, flüsterte eine Stimme. Dann ging das Licht wieder an.

Als Anna den Kopf hob, blickten zwei braune Augen auf sie hinunter.

„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen“, sagte Michael lächelnd und löste behutsam die Hand von ihrer Schulter. „Du hast Dir doch nicht wehgetan?“

Anna schüttelte zögerlich den Kopf. „Ich habe mich nur erschreckt.“

„Verständlicherweise“, erwiderte er.

„Junger Mann, sollten Sie nicht das Flugzeug fliegen?“, fragte Kaufmann mit erhobener Stimme.

„Da haben Sie Recht“, erwiderte der Angesprochene. „Ich wollte nur sehen, wo mein Engel so lange steckt.“

Mit diesen Worten wandte er sich um und machte sich auf den Rückweg ins Cockpit. Anna tauschte einen vielsagenden Blick mit Doktor Kaufmann, dann folgte sie ihm.

Als sie sich in den weichen Copilotensitz sinken ließ und die Kopfhörer überstreifte, zündete sich Michael gerade erneut eine Zigarette an. Die fünfte, wenn Anna sich nicht täuschte. Sie runzelte die Stirn. Er war normalerweise alles andere als ein Kettenraucher.

„Hat ganz schön gewackelt, was?“, fragte er, als sie den Sicherheitsgurt anlegte.

Anna antwortete nicht, sondern warf stattdessen einen vielsagenden Blick auf das Wetterradar.
„Wir fliegen immer noch auf den Sturm zu“, stellte sie fest.

Michael zuckte die Schultern und blies eine nach verbranntem Tabak riechende Rauchwolke zwischen den Lippen hervor. „Bis jetzt sehe ich noch keinen Grund, den Kurs zu ändern.“
Er hielt ihr einen dampfenden Becher entgegen.
„Hier, dein Kaffee. Wie versprochen.“
Auf seine Lippen stahl sich ein flüchtiges Lächeln, aber seine Augen blieben ernst.

„Danke.“
Anna betrachtete die schwarze Flüssigkeit. Warmer, wohlriechender Kaffeedampf stieg ihr in die Nase. Obwohl ihr durch die Turbulenzen bereits ein wenig übel geworden war, nahm sie einen großen Schluck. Sie genoss die angenehme Hitze, die sich in ihrem Körper verbreitete, und den leicht nussigen Geschmack des Koffeins auf ihrer Zunge.

In der Ferne zuckte ein Blitz.

„Hast du die aktuellen Wetterdaten eingeholt?“, fragte Anna.

Michael nickte. „Über Funk ist ein Pirep reingekommen. Das übliche. Ein paar Turbulenzen hier, ein paar CBs da.“ Er deutete mit dem Finger auf die Frontscheibe des Cockpits. „Es ist leider zu dunkel, um irgend etwas zu erkennen.“

Anna runzelte die Stirn und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Normalerweise waren CBs - Cumulunimben - gefährliche Gewitterwolken, um die selbst erfahrenste Piloten einen großen Bogen machten.

Als Michael ihren skeptischen Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Keine Sorge, wir halten Abstand.“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, wandte sie ein.

Es blitzte ein weiteres Mal und plötzlich konnte Anna sehen, wovon Michael gesprochen hatte.
Vielleicht zehn oder zwanzig Meilen voraus hatte sich ein gigantischer, schwarzer Pilz aus Wassertröpfchen und Eiskristallen gen Himmel getürmt und lag nun wie eine riesige, massive, brodelnde Wolkenwand in der vor Elektrizität knisternden Nachtluft. Hagelkörner schlugen aus der nach oben hin auseinanderfließenden Nebelmasse und prasselten erst vereinzelt, dann immer dichter und härter gegen die trübe beschlagenen Cockpitscheiben.

„Ich hoffe, die Enteisungsanlage hält, was sie verspricht.“ Michael warf demonstrativ einen Blick auf das Außenthermometer.

„Wir sollten umkehren“, sagte Anna.

Sie fühlte sich unwohl. Durch die andauernden Luftstöße, die das Flugzeug in unregelmäßigen Abständen hin- und herwarfen, hatte sich ein lästiges Schwindelgefühl in ihrem Kopf bemerkbar gemacht, das mit jeder Sekunde stärker zu werden schien. Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee, um die unangenehme Taubheit aus ihrem Kopf zu verbannen, aber die Wirkung des Koffeins ließ auf sich warten.

Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete sie, wie Michael seine Zigarette in einem Aschenbecher auf der Mittelkonsole ausdrückte und sich sofort danach eine neue anzündete.

„Was ist los mit dir?“, flüsterte sie.

Der junge Mann wandte den Kopf. Der Ausdruck in seinen Augen zeugte von bestürzender Aufgewühltheit, aber seine Stimme klang ruhig wie zuvor, als er sagte: „Was soll los sein?“

Die Finger, mit denen Anna ihre Kaffeetasse umschlossen hielt, begannen zu prickeln und zu stechen. Das Dröhnen der Motoren und das Rauschen ihrer Kopfhörer, ja sogar das Prasseln der Hagelkörner gegen die Windschutzscheibe, drangen ungewöhnlich laut, gleichzeitig aber auch dumpf und verzerrt an ihre Ohren.

„Ich fühle mich nicht gut.“

Anna hob die Hand zum Kopf und rieb sich über das Gesicht. Das Schwindelgefühl wurde stärker. Ihre eigenen Finger fühlten sich wie raues Papier auf ihren Wangen an, wie kaltes Leder.

„Gar nicht gut.“

Sie hob den Kopf und schaute Michael an. Die Bewegung kostete sie schier unendliche Mühe.

„Ist gleich vorbei.“ Seine Stimme klang dumpf, als hätte er einen Stofffetzen im Mund.

Die Worte ergaben in ihrem Kopf keinen Sinn.
Gleich vorbei?

Wie durch einen dichten Schleier erkannte Anna, dass Michael das Steuerhorn mit einem fast schon brutalen Ruck noch vorne drückte.

„Was machst du?“, flüsterte Anna mit heiserer Stimme. „Du bringst uns ja alle um.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie die letzten Worte gesagt oder nur gedacht hatte.

Die Taubheit kroch ihre Arme und Beine entlang, in ihre Zehen und Fingerspitzen hinein, und schließlich an ihrer Wirbelsäule hinauf in ihren Nacken. Sie spürte ihre eigenen Atemzüge, viel zu flach und zu schnell. Hyperventilation. Panik stieg in ihr auf, vermischte sich mit dem schrillen Dröhnen der Motoren.

Gleich vorbei.

Verschwommen beobachtete Anna, wie sich die Nadel des Höhenmessers gegen den Uhrzeigersinn zu bewegen begann. 21.000 Fuß. 20.000 Fuß. 19.000 Fuß.

„Verzeih mir.“

Ein ersticktes Keuchen entfuhr ihr, als sie mit der Stirn gegen irgend etwas Hartes schlug.

Dann wurde alles schwarz.

 

Hallo Sweet_Poison,


deine Geschichte hat mir gefallen.
Das Ende ist nicht wirklich überraschend, aber dafür ist der gesamte Text gut geschrieben. Aufbau und Schreibstil gefallen mir wirklich.


Eine Winzigkeit:

einen Ring aus dichten Flecken aus grellem Orange und Magenta

Da würde ich "einen Ring dichter Flecken aus grellem Orange und Magenta" draus machen.


Viele Grüße
Tom

 

Hallo Tom und Angua!

Danke fürs lesen! Ich habe leider inzwischen selbst gemerkt, wie alt und vorhersehbar der Plot ist.
Na ja, wenigstens hat der Text euch sprachlich gefallen!
Fandet ihr, dass er ZU karg war? Und wenn ja, wie könnte ich das ändern? Mehr Beschreibungen? Mehr innere Monologe?

Hi groper,
Ich wusste nicht, dass der Titel schon anderweitig vergeben ist.
Jetzt tu nicht so, als wäre ich deswegen ein schlechter Mensch.


Schöne Grüße,
Sophia

 

Hi Sweet_Poison!

Auch mir hat die Geschichte gefallen. Ich hab sie angeklickt, weil die den Titel auch schon kannte und dachte: hoffentlich schreibt keiner Schund dazu. Aber selbst wenn: Es sind unzählige Titel bereits vergeben. Nur ein Recht darauf, dass er nie wieder verwendet wird, hat eben keiner.

Nachtflug von Antoine de Saint-Exupéry ist ein anderes Buch als Nachtflug von Sophia.
Letzte Anmerkung dazu: Lies mal das von Saint-Exupéry. Ein wirklich sehr atmosphärisches Buch von dem man was lernen kann.

Zu DEINER Geschichte:
Sie hat mir gefallen. Ja, von dem Moment an, wo sie Dr. Kaufmann duzt war vieles klar und vorhersehbar. Und doch habe ich mich bis zum Schluss gefragt, ob der Pilot noch abspringt...

Ansonsten fand ich den Aufbau schon gut gemacht. Die Beziehung zwischen Anna und dem Piloten wird nett und dezent eingeführt. Ganz im Sinne von Show, don't tell. Und dann ebenso die Beziehung zu Dr. Kaufmann. Gut gemacht.

Ich verstehe das so, dass der Pilot sich noch ein letztes Mal versichern will, dass sein Verdacht begründet ist. Er schickt sie nach hinten, um zu beobachten, ob sie ihn wirklich betrügt. Was er hört und sieht genügt ihm als allerletzte Bestätigung.

Schreibst Du schon länger? Ich les bestimmt bald mal wieder was von Dir.

Frauke

 

Hi Sweet Poison,
mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Bis auf die Tatsache, dass die Geschichte leider ab der Mitte sehr vorhersehbar wird, spürt man während des Lesens eine Spannung in der Luft, die durch die kleinen Details die du dem Leser gibst, geschürt wird. Man ahnt, etwas wird passieren, und man will unbedingt erfahren was, ein herrlicher Spannungsbogen, dem man nur zu gerne folgt.

Ich finde nur, dass die Beziehungen zwischen der Frau und den beiden Männern etwas zu schemenhaft angerissen werden, nähere Beschreibungen, mehr Details wären meiner Meinung nach angebracht. Daher wirkt das Ende auch, obgleich überraschend, auch *etwas* unglaubwürdig, denn die Beziehung zwischen Michael und Anna muss sehr stark sein, dass er solche drastischen Schritte ergreift, was in der Geschichte nicht so sehr deutlich wird.

Gruß,
Neph

 

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