Nachts am Bahnhof
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. „Scheiße!", war das Einzige, was ihm dazu einfiel, „Scheiße, Scheiße!" Was sollte er jetzt tun? Sein Gepäck war mit dem Nachtzug weggefahren, und er stand hier.
Dabei hatte er gedacht, er hätte noch viel Zeit, bis der letzte Nachtzug abfuhr. Um ihn ja nicht zu versäumen, war er früh am Bahnhof gewesen, und da der Zug von hier wegfuhr, stand er schon am Bahnsteig. Er hatte sein Gepäck ins Netz geworfen und war wieder ausgestiegen, um ein Sandwich und Zigaretten zu besorgen. In der Halle vor dem Kiosk waren all diese Betrunkenen gestanden, die endlos brauchten, bis sie ihre Einkäufe erledigt hatten. Und dann hatte diese dumme Kuh mit ihm endlos diskutiert, weil er nur eine Hundert-Euro-Note hatte. Schließlich hatte sie sie zwar gewechselt, das Retourgeld aber betont langsam ausgezählt. Plötzlich hatte er die Lautsprecheransage gehört, die die Abfahrt seines Zuges ankündigte, er hatte Wechselgeld Wechselgeld sein lassen und war so schnell er konnte auf den Bahnsteig zurück gerannt – zu spät. Da war er nun, ohne sein Gepäck, ohne die wertvolle Holzstatue, die sein Kumpel geklaut hatte und die er nach Düsseldorf hätte bringen sollen.
Er sah vor sich, was passieren würde: Der Zug würde am Endbahnhof ankommen, sein Koffer als Einziger im Zug bleiben. In Zeiten wie diesen würde man ihn gleich zur Polizei bringen, die ihn dann aufbräche. Sie würden diese verdammte Statue finden, die Karl im Museum hier gefleddert hatte und nach der schon alle suchten. Und sie würden nicht viel Mühe haben, ihn dann mithilfe all der Sachen, die er noch im Koffer hatte, auszuforschen. Womöglich wurden sie noch glauben, er hätte dieses Ding selbst gestohlen. Er hatte Karl gleich gesagt, das würde nicht funktionieren, mit so einer bekannten Statue, wie sollte man die bloß loswerden.
Er warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie wütend aus. Er war, ohne es zu merken, am Ende des Bahnsteigs angelangt. Da kam die Durchsage, dass der Bahnhof in wenigen Minuten gesperrt würde und man daher die Anlage zu verlassen habe. Er machte sich auf den Weg zurück zum Stiegenabgang.
Ein blauer Koffer stand einsam in der Mitte des Bahnsteiges. Er ging mürrisch daran vorbei. „Ein blauer Koffer, er sieht fast wie meiner aus ... ein blauer Koffer, ER SIEHT WIE MEINER AUS, MEIN KOFFER!“ Es wurde ihm heiß im Gesicht. Hastig ging er die zwei Schritte zurück. Da stand er, sein Koffer! Wie war der hierher gekommen, er hatte ihn doch in den Zug gepackt? Dieser Mann in seinem Abteil, er musste, als er nicht kam, den Koffer auf den Bahnsteig gestellt haben. Ja, so musste es gewesen sein, anders konnte er es sich nicht erklären.
Er hörte Schritte auf dem Bahnsteig. Etwa hundert Meter entfernt kam eine Patrouille der Bahnhofspolizei auf ihn zu! Da verlor er die Nerven. Er hob den Koffer überhastet auf, blickte um sich, rannte, statt unauffällig den Stiegenabgang zu verwenden, auf die Bahnsteigkante zu, um die Geleise zu überqueren. Ein schriller Pfiff einer Trillerpfeife. „Stehen bleiben!“, rief ein Beamter. Er sprang mit dem Koffer auf die Geleise, rannte hinüber, stieg mühsam auf der anderen Seite wieder nach oben. Die Beamten waren mittlerweile bereits über die Treppen auf dem anderen Bahnsteig angelangt. Einer hatte einen Hund. „Stehen bleiben, oder ich lasse den Hund los!“
Er gab auf. Es sollte einfach nicht sein. Das Schicksal hatte ihm geholfen, diese Statue wieder zu finden, und dann hatte er es einfach vermasselt. Einfach die Nerven weggeschmissen. Er stellte den Koffer nieder, drehte sich um, blickte die Beamten an und nickte.
Wenigstens war es ihm gelungen, im Kommissariat zu schweigen. Kein Wort über Karl, über die ganze Sache. Er hatte seine Nerven und seine Ehre wiedergefunden. Das war ihm wichtig. Zuvor hätte er Karl am liebsten verpfiffen, doch nachdem er so viel Mist gebaut hatte, musste er wieder zu sich selbst finden, indem er schwieg.
Schließlich legten die Beamten den Koffer vor ihm auf den Tisch und öffneten ihn. Mit einem Auge blickte er hin. Er sah seine Hosen, seine Unterwäsche, seine Bücher – in denen stand ja blöderweise auch noch sein Name! Jetzt klopften sie den Boden ab, suchten einen Hohlraum – nichts! Ihm wurde schlecht. Die Statue ... sie war nicht da! Das war sein Koffer, voll mit seinen Dingen, und da wo die Statue gewesen war, war nichts! Die Beamten schlugen den Koffer wieder zu, drückten ihn ihm wieder in die Hand und machten ein Zeichen zum Ausgang.
Er wankte zur Tür hinaus. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Auf dem leeren Bahnhofsplatz stellte er den Koffer ab und zündete sich wieder eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug und blickte über den Platz. Ein Mann kam langsamen Schrittes auf ihn zu. In der Dunkelheit erkannte er ihn nicht sofort, erst als er näher kam. – „Karl? ... Karl!“