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- 04.08.2001
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Nachts am See (Die Macht der Erkenntnis)
Das Wasser lag dunkel und ruhig.
Ole und Ker gingen schweigend hintereinander am Ufer entlang. Ker hinter Ole, der Kleine, Schmächtige in den Fußstapfen des Großen.
Der Mond spendete mehr Schatten als Licht, feiner Nebel hing über dem Wasser und obwohl es warm war, die Luft beinahe waberte und schlierte, waren keine Vögel zu hören. Es war totenstill am See, nicht das leiseste Geräusch; selbst die Schritte der beiden Männer verursachten nicht den kleinsten Ton. Es war, als spielte sich alles hinter einer Scheibe ab, jenseits der Realität, nur einen knappen Millimeter verschoben. Kaum sichtbar, aber deutlich zu spüren.
Von den Ästen hingen ihnen in feinen Schleiern Spinnenweben im Weg, die Ole beiseite schob.
„Wie weit noch?“, quengelte Ker. Sie hatten sich verlaufen. Aus einem nicht erkennbaren Grund hatten sie sich in einem Wald, den sie wie ihre Westentasche kennen sollten, verirrt.
Ole zuckte mit den Schultern. Auch das war nicht deutlich zu sehen, Ker konnte es lediglich fühlen an der in Bewegung geratenen Luft. Seit wann hatte er diese Fähigkeit?
„Der Seegeist!“, jammerte er weiter. „Er wird uns holen, wenn wir nicht bald den Weg nach Hause finden. Er wartet nur auf Dummköpfe wie uns.“
Ker sah, wie die Worte Oles Ohr erreichten, er konnte genau erkennen, wie sie hineinschlüpften, doch der antwortete nicht. Der Mistkerl sagte nichts, obwohl er verstanden hatte.
Ole drehte sich zu ihm um. Für eine Sekunde sah es so aus, als hätte er keinen Mund. Die Lippen waren fort und die ganze untere Gesichtshälfte war nur rosige Haut. Doch dann löste sich das Bild auf und Oles Lippen öffneten sich und verzogen sich zu einem Grinsen. Er legte den Finger auf den Mund. „Pssst!“, machte er leise.
Ker zitterte, er hatte Angst. Er schlich hinter Ole her, obwohl der ebenso wenig Ahnung zu haben schien wie sie hier rauskommen sollten, wie er selbst.
Die Stille war absolut und sie war unheimlich. Er trat absichtlich auf trockene Äste, kleine Zweige, die auf dem Pfad lagen. Doch kein Knacken, kein noch so leises Knirschen, auch wenn er deutlich unter seinen Sohlen spürte, wie das Holz brach.
Der Seegeist!
Wind kam auf und verwandelte den See in ein blitzende Kräuseldecke. Ein Reiher schwang sich lautlos aus dem Schilf auf und zog seine Runden über dem Wasser. Ole störte sich nicht daran, er nahm es anscheinend gar nicht wahr. Er stapfte unbeirrt voran, die Hände in den Taschen und den Kopf eingezogen. Hatte er denn keine Angst?
„Wie weit noch?!“
Ole blieb stehen und Ker knallte beinahe hintendrauf. Der Große drehte sich um und schaute zu Ker hinab. „Halt deinen verdammten Mund!“, schnauzte er und es schien, als seien Ton und die Bewegung seiner Lippen nicht miteinander synchron. Er öffnete seinen Mund etwas zeitverzögert. „Wir sind da, wenn wir da sind.“
„Was ist das?“, rief Ker aus und es tat gut zu spüren, dass bei ihm alles in Ordnung war. Er konnte aber nicht sagen, wie es bei Ole ankam, wie der es seinerseits wahrnahm.
Ker wies mit seinem zitternden Finger ein Stück weiter das Ufer hinauf und ein leise flirrender Strich zog sich aus seinem Fingernagel durch die Nacht bis hin zu einem Auto, das hell im Mondlicht stand. Eine alte, gebeugte Frau in einem geblümten Sommerkleid stand davor und schaute ängstlich zu ihnen herüber.
Es war 45 Minuten nach Mitternacht.
Ole war als Erster bei ihr und mit jedem seiner Schritte vergrößerte sich ihre Furcht.
„Haben Sie keine Angst, wir tun Ihnen nichts!“, rief er gedämpft. Die Worte hatten einen Wattemantel umgelegt, während Ole immer langsamer auf die Frau zuging, wie ein Weltklassesprinter in der Zeitlupenwiederholung. „Wir tun Ihnen nichts, glauben Sie mir!“
Die Frau stand wie gelähmt und die Maske des Entsetzens wollte nicht von ihrem Gesicht bröckeln, sie war wie festgewachsen. Der Schrei, den sie ausstieß, war unhörbar. Sie vermochte noch nicht einmal, die Luft in Schwingungen zu versetzen. Alles an ihr war Furcht.
„Wir tun Ihnen wirklich nichts“, bestätigte Ker, der eben bei ihr ankam, und es klang schnoddriger als es gedacht war.
Ker lächelte, und ein Lächeln ist wie Sonne auf einem zugefrorenen Teich, hatte seine Mutter immer gesagt. Die Frau schien sich langsam zu entspannen.
„Der Seegeist!“, wimmerte sie leise. „Der Seegeist!“
„Ja, ja. Der Seegeist“, knurrte Ole. „Was machen Sie dann hier nur allein in der gottverlassenen Gegend?“
Bläschen kamen aus seinem Mund und stiegen nach oben. Sind wir denn schon unter Wasser, dachte Ker. Hat er uns schon geholt?
Die alte Frau ließ das Auto los und bog sich nach hinten, sie reckte sich, als sei sie gerade aufgestanden. Dann beugte sie sich zu Ole hinüber und flüsterte etwas in seine Richtung.
„Panne“, konnte Ker verstehen und „Mann“ und „Hilfe holen“.
„Kommen Sie mit uns“, bot Ole an.
Die Alte sah sofort wieder erschrocken drein, als hätte er schlechte Nachrichten überbracht. Sie schüttelte mit Vehemenz ihren Kopf und selbst Ker bewunderte sie für ihren Mut und ihre Treue.
Ole und Ker zogen weiter. Ole vorn und der dürre Ker hinterdrein. Sie wandten sich ab vom See und gingen nun tiefer in den Wald hinein. Wusste Ole plötzlich, wo es langging?
Egal, trotzdem sie direkt hineingingen in die Finsternis, fühlte sich Ker doch hier bedeutend sicherer als direkt am See. Er blickte sich noch einmal um zu der Frau, die am Auto stand und ihnen nachlächelte.
Einen Augenblick flirrte die Luft um der Alten herum, ganz so, als läge sie im Wasser und bilde darin kleine, lebende Wellen. Doch im nächsten Moment war diese Erscheinung vorbei und sie winkte ihnen nach und legte dann ihre Hand zurück aufs Autodach.
„Meinst du, es war gut, die Frau allein zu lassen?“, fragte Ker, doch er sah die Worte nicht Oles Ohr erreichen und deshalb wunderte es ihn nicht, dass der nicht antwortete.
Sie kamen auf den beleuchteten Parkplatz an und ihr alter Golf war das einzige Auto darauf. Die Welle der Sicherheit war beinahe so hoch und mächtig wie die der Erleichterung. Er fühlte sich behütet und voller Dankbarkeit für Ole. Der hatte eben genau gewusst, was zu tun war.
Der Seegeist – vollkommener Blödsinn! Wie war er nur darauf gekommen? Er dachte an die Frau, die am See stand und wartete. Ihr Herz würde verkrampfen und aus der Dunkelheit um sie herum würden Tausende Augen zu ihr starren.
Sie setzten sich in den Wagen. Es war angenehm kühl hier drinnen und roch nach Armaturenpflege.
Ole startete und als er nicht auf die Straße einbog, sondern auf einen Weg direkt in den Wald hinein, brauchte er nicht zu fragen. Er wusste, wo sie hinfuhren.
„Wir holen sie raus, und dann nichts wie weg“, brummte Ole.
Sie heizten den Weg entlang, keine Rücksicht auf die Stoßdämpfer, keine Gnade für die Federn! Es krachte und holperte, einige Male dachte Ker, es sei vorbei. Und dann, als vager Lichtpunkt weit voraus zuerst, tauchte der See vor ihnen auf, das Auto dann, immer noch hell im Mondlicht und schließlich die alte Frau, die noch immer in der offenen Tür stand und sie anblickte mit einem zufriedenen Lächeln, das zuerst Ker stutzig machte. Ole hatte damit zu tun, das Auto in der Spur zu halten.
Ker meinte, das Lächeln der Frau würde sich als Täuschung erweisen wie all die anderen Trugbilder der Nacht, doch gerade darin täuschte er sich. Die Frau lächelte weiter.
Sie kamen direkt neben ihr zum Stehen und Ker nahm dasselbe Flimmern um der Frau herum wahr wie – vorhin? vor Stunden? Vor Tagen?
Ole öffnete die Fahrertür und über Kers Lippen rollte, ohne dass er ein Zutun hatte, ein Wort: „Seegeist!“
Ole sah sich im Aussteigen fragend um und Ker war mit Denken beschäftigt, so dass er nicht antworten konnte.
Und die Erkenntnis kam ihm wie ein Wasserschwall, noch bevor die Frau ihre Gestalt wechselte. Mit großer Macht jagte ihm das Verstehen Schauer über seinen Körper. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich steil auf und er bekam eine Gänsehaut. Sie waren ihm in die Falle gegangen wie eine Fliege. Er hatte sie doch erwischt.
Der Seegeist!