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- 08.11.2001
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Nachtwache
Nachtwache
Ich würde mir wünschen, in so mancher Nacht, dass du mich kennst. Aber du schläfst, tief und ahnungslos und ich sitze neben dir. Allein. Ich werfe es dir nicht vor. Ich klage dich nicht dafür an, dass ich zu diesem Leben verurteilt bin. Beinahe habe ich es selbst gewählt. Aber nur beinahe.
Der Schatten unter der Tür flackert hektisch. Aus dem Wohnzimmer dringt lautes Geschrei bis in sein Zimmer. Ein Schuss, Sirenen und dann sehr laut, das Zerschellen einer Flasche.
Selma sitzt vor dem Fernseher. Wie jede Nacht. Wie jeden Tag. Und sie trinkt. Manchmal möchte er aufstehen und sie leiser drehen. Oder ihr den Stecker rausziehen. Aber er weiß, was geschehen wird, wenn sie bemerkt, dass er in der Wohnung ist. Besser, sie vergisst, dass es ihn gibt.
Jonas ist fünf. Schon seit drei Monaten. Und er hat gelernt, auf sich aufzupassen. Wenn sie ihn wahrnimmt, wird sie ihn auch erwischen. Denn auch wenn sie betrunken ist, kann sie schnell sein und wenn sie will, hat sie ihren Sohn noch jedes Mal gekriegt.
Also liegt Jonas eine weitere Nacht wach, dicht an die Wand gedrückt, und lauscht in die Leere, die sie beide umgibt.
Von Zeit zu Zeit denke ich daran, dich zu wecken. Dir gegenüberzutreten, so wie ich bin. Aber dann fürchte ich mich davor, dass du in mich siehst, dass die Dunkelheit im Zimmer tiefer reicht, als ich glauben mag. Wenn du nur wüsstest, wie es in mir aussieht. Ich möchte dir die Leere zeigen und zugleich wie du sie füllen kannst. Möchte dir erklären, warum du alles für mich bist, alles was zählt.
Aber du würdest mich nicht mögen. Auch das weiß ich im Innern. In deinem Gesicht würde sich das Entsetzen spiegeln, das deine Seele ergreifen würde, in genau dem Moment, in dem du mich erblickst.
Er kann jetzt hören, dass sie im Zimmer herumschlurft. Ein Stuhl fällt um und irgendetwas klirrt. Mit einem abrupten Krachen reißt sie das Wohnzimmerfenster auf. Der Fensterflügel schlägt gegen die Hauswand und schwingt quietschend zurück. Sie stößt ihn noch einmal auf und flucht dabei laut in die Nacht hinein.
Sekunden später stürmt sie in sein Zimmer. Ohne ihn in den Schatten auch nur eines Blickes zu würdigen, geht sie zum Fenster herüber. Unterwegs kickt sie ein paar Spielzeugautos aus dem Weg.
"Verfluchter Sommer", kann er sie schimpfen hören. Er hat sich trotz der Hitze unter die Decke verkrochen. Wenn sie ihn nur nicht sieht. Nur eine Nacht in Frieden.
"Erst mal richtig Durchzug machen in der Bude. Da geht man ja ein, verfluchte Scheiße, nee!"
Ohne zu bemerken, dass er unsichtbar gegen die Wand gedrückt ist, poltert Selma wieder ins Wohnzimmer zurück. Jonas drückt die Bettdecke ganz fest an sein Gesicht. Dann verschwinden die Tränen ganz von selbst.
In manchen Nächten, in solchen wie dieser, liegt er im Morgengrauen da und malt sich aus, wie andere Mütter sind. Wie es wäre, wenn sie anders wäre.
Andere Mütter kommen auch nachts ins Kinderzimmer. Aber sie tun es leise und auf Zehenspitzen. Dann bleiben sie einen Moment am Bettrand stehen und sehen auf ihren Sohn hinunter. Vielleicht ziehen sie noch die Bettdecke zurecht.
Vor allem aber lächeln sie, wenn sie ihre Kinder schlafen sehen. Und ihre Kinder lächeln im Schlaf.
Wir leben nebeneinander her. So nah zusammen und doch gänzlich fremd. Auch ich kenne nur einen Teil von dir. Nicht alles ist sichtbar, im Dunkel der Nacht. Nur die Konturen und die weichen Schatten auf deinem Gesicht. Auch das wird sich eines Tages ändern. Aber nicht heute Nacht.
Bis die Sonne aufgeht werde ich über dich wachen. Dann muss ich gehen, so wie jede Nacht und ich werde mich fragen, ob du mich vermisst. Ob in deinem Tag dieselbe Leere herrschen wird, wie in meinem. Bis ich zurückkehre und über deine Träume wache, in meinen Träumen lebe.
Selma ist in die Küche gegangen, während Jonas sich langsam unter der Decke hervorwagt. Es kann nicht immer so weiter gehen. Er hört die Geräusche. Und er will nur helfen, aber er würde es bereuen. Das Würgen lässt ihn ahnen, was geschieht. Wenn sie zurückkommt wird sie sich leer fühlen und nach etwas suchen um sie auszufüllen. Wenn die Benommenheit nachlässt, wird sie nach Wut suchen und dann wird sie ihn finden. Dann ist er auch unter der Decke nicht sicher.
Durch das Fenster weht die laue Juliluft herein. Es riecht nach warmer Stadt und nach verblichenem Sonnenschein auf dem Pflaster. Leise steht Jonas auf, während er auf die Geräusche aus der Küche lauscht. Noch ist sie beschäftigt und wird nicht nach ihm suchen. Er steht am Fenster und sieht über den Hof hinaus. Weit hinten verschwindet eine Katze um die Hausecke. Dann hört er sie auffordernd maunzen. Jonas sieht ihr sehnsüchtig nach.
Einem plötzlichen Impuls folgend, zieht er den Hocker ans Fensterbrett heran und klettert auf den Sims. Der Weg nach draußen ist leichter, als er dachte. Nur Sekunden später findet er sich in den Rhododendren wieder. Selma ist immer noch in der Küche. Und nachher wird sie ihn nicht finden, vergessen, dass sie ihn gesucht hat und einschlafen. Nur heute versteckt er sich nicht im Schrank. Heute ist er frei.
Deine zarte Haut, schimmernd im sanften Licht. Wir kennen uns ein Leben lang. Beinahe ein Leben lang. Und dennoch sind wir uns fremd. Meine Gedanken kreisen darum wie um ein Mantra.
Ich möchte dir von meinem Tag erzählen. Möchte dir erklären, was geschehen ist und woran ich gedacht habe. Aber ich will dich nicht wecken. Du brauchst deinen Schlaf. Beinahe so dringend wie ich. Dafür bin ich hier. Deinen Schlaf zu bewachen. Dein allgegenwärtiges Bollwerk gegen die Welt und ihre Bedrohungen.
Die Steine auf dem Weg fühlen sich rund und warm an unter seinen Füßen. Sie knirschen nur leise, aber trotzdem schleicht er auf Zehenspitzen bis zur Ecke. Dann schlüpft er durch die Hecke und ist außer Sicht. So wird sie ihn nicht finden.
Sein Schlafanzug ist warm genug in einer Nacht wie dieser. Eine sanfte Brise zieht um die Häuser und er atmet tief ein. Der erste Hauch von Leben in dieser Nacht. Langsam aber zielstrebig geht er dem Luftzug entgegen.
Er wandert den Bordstein entlang und späht vorsichtig in alle Ecken. Er hat von den dunklen Gestalten gehört, die nachts unterwegs sind. Davon, dass man rennen soll, wenn sie kommen. Die Kinder im Hof haben davon erzählt und sie haben alle Angst. Vor dem Schwarzen Mann und vor den anderen, die sie getroffen haben.
'Geht nie alleine raus, wenn es dunkel ist', haben sie gewarnt und Jonas hat ihnen zugehört, wie die anderen Kinder auch. Aber er hat ihnen nicht geglaubt. 'Zuhause ist es sicher. Bleibt nachts in euren Betten, da geschieht euch nichts.'
Jonas hat gewusst, dass sie nichts von ihm wissen. Dass sie nicht sehen, wie Selma ist, wenn es Nacht wird, was geschieht, wenn sie ihn findet. Und warum er nicht schläft.
Du musst wissen, es gibt kranke Menschen da draußen. Menschen die dir Böses wollen. Menschen, die ich von dir fernhalten werde. Um jeden Preis. Keiner von ihnen darf sich dir nähern. Ich sorge dafür. Das ist meine Aufgabe in deinem Leben und ich stehe dir bei.
Wenn einer es wagt, sich dir zu nähern, dann lass es mich wissen. Du musst es nicht sagen, ich werde es auch allein erkennen. Dann werde ich für dich eintreten und dich beschützen. Ich werde hier sein, in jeder einzelnen Nacht deines Lebens. Ich komme zu dir sobald es möglich ist und bleibe solange du mich brauchst. Ich wüsste gern, was du in mir siehst. Ob du mich so sehr brauchst, wie ich dich brauche.
Man sagt, einer liebt immer ein wenig mehr. Und einer braucht immer ein wenig mehr. Ich brauche dich. Darum bin ich hier.
Aus einem offenen Fenster dringt leise Musik herüber. Jonas sieht sich um, aber erst nach ein paar Minuten findet er das richtige Haus. Es sind leise Töne, ganz anders als zuhause. Beinahe flüstert die Melodie in die Nacht hinaus und ruf ihn mit verlockender Stimme.
Jonas schlüpft durch die Hecke und kratzt sich die Arme auf, aber er bemerkt es gar nicht. Stumm sinkt er ins Gras und lehnt sich an einen dünnen Baum dicht an der Hecke. Das Fenster ist sanft erleuchtet und er kann einen Schatten auf der gegenüberliegenden Wand sehen.
Dann kommt eine Frau durch das Zimmer. Sie trägt ein Kleid mit langen, dünnen Trägern, die wie blutige Striemen über ihre Schultern reichen. Beinahe wie Striemen, nur sanfter und weicher. Sie schmiegen sich an ihren Körper, wenn sie sich bewegt.
Jonas hält den Atem an und sieht zu, wie sie auf das Fenster zukommt. Sie wird ihn bemerken. Sie wird hinaussehen und Jonas entdecken, der in ihrem Garten sitzt, in einem gestreiften Schlafanzug.
Sie wird ihn erkennen. Und dann wird sie ihn nach Hause zurückbringen. Dann wird sie Selma wecken. Und Jonas wird darunter leiden müssen. Trotzdem bewegt er sich nicht ein bisschen von der Stelle. Wie gebannt hängt er an ihren Bewegungen. Sanft, schwingend, im Einklang mit der Musik. Jonas saugt die Bilder durstig in sich auf.
Es gibt Menschen, denen es gefällt, wenn andere leiden. Die alles tun, für ein wenig Spaß. Ich verabscheue sie. Habe sie schon immer gehasst.
Manche Menschen quälen nur so zum Spaß. Sie lachen dich aus, wenn du am Boden liegst und fordern, dass du um Gnade winselst. Manche Menschen sind so. Aber sie sollen beten, dass sie mir nicht begegnen. Denn ich werde sie lehren, was es bedeutet.
Aber sie kommt nicht zum Fenster. Nicht ganz.
Stattdessen beugt sie sich über eine Kommode an der Wand und sieht in den Spiegel dahinter. Auf ihrem Gesicht kann er ein Lächeln erkennen, das sogar bis in die Dunkelheit der Hecke hineinreicht. Jonas denkt darüber nach, ob er jemals gesehen hat, dass ein Mensch so strahlt. Er kann sich nicht daran erinnern.
Ohne die Augen vom Spiegel abzuwenden, streicht sie eine Haarsträhne zurück. Dann zwinkert sie sich selbst zu.
Jonas sitzt still im Schatten verborgen, bis sie das Licht löscht und die Decke zurecht zieht, nur ein wenig, denn es kühlt nicht ab in dieser Nacht. Erst als sie schläft, schleicht er nach Hause.
Das Netz ist dicht. Aber es ist nicht dicht genug. Sie schlüpfen hindurch, als habe Gerechtigkeit für sie keine Bedeutung. Als stünden sie über den Dingen.
Ich kann es nicht ertragen. Ich muss es stoppen. In mir werden sie ihr Schicksal finden. Es gibt keinen Weg vorbei. Ich bin der Felsblock, den sie nicht überwinden werden. Die Schlucht, die sich zwischen sie und dich legt. Du magst mich für verrückt halten, weil ich das denke. Oder deshalb, weil ich es dir erzähle. Aber ich will, dass du mich kennen lernst. Dass du erfährst, wer ich wirklich bin. Jede Nacht ein wenig mehr. Ich will dir näher kommen, als je ein Mensch zuvor. Und eines Tages werde ich es erreichen. Bis dahin aber schlaf. Denn ich bin wachsam und du bist unter meinem Schutz.
Er kann hören, wie Selma auf der Couch schläft. Aber er will sie nicht hören. Die Musik ist noch in seinem Kopf. Die sanfte Verführung, die ihn heransaugt, als habe er keine Wahl.
Selmas Schnarchen dringt auch durch die Hände, die er auf die Ohren presst. Erst als draußen die Vögel zu singen beginnen, schläft er traumlos ein.
Sie sagen, 'Er hatte eine schwere Kindheit.' Warum sagen sie das? Und sie sagen, 'Man kann ihn nicht bestrafen.'
Vermutlich will ich es nicht verstehen. Sie tun, als erkläre das alles. Als wäre es nur natürlich, dass all das geschieht und dass es solche Menschen gibt. Aber das ist es nicht. Denn sie bedrohen uns. Jeden einzelnen von uns.
In den Nachrichten ist all das weit entfernt. Da ist es leicht zu sagen, 'Er ist ein Opfer der Gesellschaft.' Aber ich weiß es besser. Ich weiß, was geschieht. Wie sich alles entwickelt. Und darum bin ich hier.
Dir darf nichts geschehen, meine Schöne. Dir nicht. Ich werde sie fernhalten. Jeden einzelnen von ihnen. Damit dir nichts geschieht.
Wieder angezogen, wieder die sanfte Melodie. Er lehnt an demselben Stamm und sieht ihr zu. Sie nimmt ihre Ohrringe heraus und lässt sie mit einem leisen Klirren in die Schale auf der Kommode gleiten.
Dann tänzelt sie aus seinem Blickfeld, schlüpft aus dem Kleid heraus und in ihr Nachthemd. Mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel zwinkert sie sich wieder zu.
Dieses Zwinkern ist für Jonas. Ganz allein für ihn, denn sie weiß, dass er hier ist. Sie muss es wissen, denn sie hat die Musik aufgelegt, um ihn zu rufen. Und wieder betrachtet er sie, während sie einschläft.
Und auch als die Dunkelheit von Nacht zu Nacht länger wird und das Fenster verschlossen bleibt, kann er die Melodie noch hören. Sanft und fordernd zugleich.
Sie tun, als müssten diese Menschen werden, wie sie geworden sind. Nur wegen der Dinge, die ihnen geschehen sind, als sie Kinder waren. Aber das ist nicht richtig. Sie hatten eine Wahl, genauso, wie wir alle eine Wahl hatten.
Wie wir sie nutzen, die Chance zur Flucht, das ist alles, was im Leben zählt. Das ist es, was einen Menschen ausmacht, woraus sein Charakter entsteht.
Es ist nicht die Schuld eines anderen und nicht der Verdienst eines anderen. Jeder ganz allein und nur allein kann das tun. Man kann zerbrechen oder fliehen. Nur die Flucht macht stark. Die Flucht vor der Gewalt. Auf eigenen Beinen davonlaufen und einen Weg nehmen, den noch keiner gegangen ist. Nur das bringt das Leben voran.
Ich wünschte, du könntest meinen Weg sehen. Nur ein paar Schritte meines Weges. Aber ich will dich nicht wecken. Nicht heute Nacht.
Jonas wird von lautem Poltern wach. Er kann Selma in der Küche weinen hören und zieht die Bettdecke über den Kopf. Wenn sie ihn sieht, wird sie aufhören zu weinen und beginnen zu schreien. Aber sie wird auch von allein aufhören, zu weinen. Darauf muss er warten. Irgendwann schläft sie wieder ein und alles wird gut.
Er denkt darüber nach, dass es Sonntag ist und dass es sein zehnter Geburtstag ist und dass er nicht in die Küche gehen will, um Selma zu trösten. Nicht heute. Nicht einmal um ihretwillen.
Nach einer halben Stunde steht er doch auf. Er findet Selma auf dem Boden zwischen einem Dutzend Küchengeräten und in einer Pfütze von Mehl. Sie sieht nicht auf, als er hereinkommt. Nicht einmal, als er beinahe über die Kuchenform fällt und sie scheppernd in die Ecke tritt. Ihre Schultern zucken von Zeit zu Zeit, aber jetzt ist sie still.
Als sie den Kopf hebt, kann er sehen, dass sie geweint hat. Anders als sonst. Meist weint sie vor Einsamkeit. Bittere, kalte Tränen, die sich in ihre Wangen graben und mit den Jahren Furchen hinterlassen haben. Rinnen, in denen die Einsamkeit über sie hinwegzieht. Aber diese Tränen sind anders. Sie sind heiß und verzweifelt und sie weint sie nicht für sich selbst.
'Seine Mutter hat ihn nicht geliebt. Sie war gemein zu ihm.' Als würde das etwas erklären. Als würde es begründen, was geschieht. Sehen sie denn nicht, was sie anrichten?
Sie müssen damit aufhören. Alle müssen sie damit aufhören. Denn es macht Angst. Mir und dir, meine Schöne. Ich kann den Schauer auf deiner Haut sehen, wenn ich dir davon erzähle. Ich kann sehen, wie dein Schlaf versucht, die Wahrheit vor dir zu verbergen, nicht ganz erfolgreich.
Bleib ruhig und schlaf. Ich bin hier und nichts wird dir geschehen.
Selma lächelt durch den Schleier hindurch, der ihre Augen trüb wirken lässt. Es ist nur ein schwaches Zucken ihrer Lippen, aber Jonas hat lange nicht gesehen, dass sie lächeln kann. Beinahe noch nie. Sie zeigt auf das Chaos, das gestern Abend noch nicht in der Küche war.
'Da siehst du, was ich wert bin! Einmal sollte ich es doch wohl schaffen, eine anständige Mutter zu sein und dir einen Kuchen zu backen, oder nicht? Wenigstens heute? Aber ich habe es nicht geschafft.' Ihre Stimme verliert sich in einem leisen Kichern, bis sie nicht mehr zu hören ist.
Jonas kniet sich neben sie auf den Boden. 'Ich brauche keinen Kuchen.'
'Doch, brauchst du. Man wird nur einmal zehn.' Selma wirft den Kopf zurück. 'Heute mach ich es einmal richtig! Hilf mir auf.'
Jonas reicht ihr eine Hand, aber er zögert. Ihr zu vertrauen, hat er nicht geübt. Dazu gibt sie ihm keine Gelegenheit.
Selma kommt endlich schwankend auf die Füße. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, greift sie nach seiner Schulter. Ihre Augen sind jetzt tränenlos aber immer noch trüb und unruhig.
'Du bist groß geworden. Beinahe so groß wie ich. Wie konnte ich das bloß übersehen!' Jonas schweigt und sieht sie an. Noch nie hat er sie aus dieser Nähe wirklich betrachtet.
'Komm, zur Feier des Tages gehen wir frühstücken. In irgendein Restaurant! Du wählst!'
Nur wenn du es zulässt, hat sie Macht.
Nur wenn du es zulässt, hat sie Macht.
Noch immer kommt er her. Immer um dieselbe Zeit. Um ihr zuzusehen, wenn sie schlafen geht. Auch heute Nacht sitzt er hier. Aber er wartet länger als sonst. Länger als in all den Jahren. Jonas rutsch unruhig auf dem kalten Boden hin und her.
Schließlich biegt ein Auto in die Einfahrt vor dem Haus und ein Mann steigt aus. Er geht um den Wagen herum und öffnet die Beifahrertür, damit sie aussteigen kann. Jonas kann das Blut fühlen, dass seinen Kopf zu füllen beginnt. Seine Gedanken vermischen sich mit wildem Rauschen und tragen ihn davon. Nur undeutlich nimmt er wahr, wie der Mann sie zur Tür bringt und im Schatten verschwindet. Dann geht er zu Auto zurück und in ihrer Wohnung schaltet sie das Licht ein. Der Schein fällt auf den Rasen, beinahe bis an Jonas Füße heran.
Entschuldige, meine Schöne. Ich muss eingeschlafen sein. Das darf mir nicht passieren. Es darf nicht. Es darf nicht. Denn es gibt böse Menschen da draußen, die nur darauf warten, dass wir nicht auf der Hut sind. Ich darf nicht schlafen. Ich muss wachen, damit du schläfst. So wie in jeder Nacht.
Meine Tage liegen in der Dunkelheit, weil nur du Licht in meine Welt bringst. Weil ich dein Lächeln sehen muss, damit es auch in mir ein wenig heller wird.
Der Mann schlägt die Wagentür zu und bleibt noch einen Moment in der Einfahrt stehen. Er wartet, bis er sie ins Schlafzimmer kommen sieht. Sie tritt ans Fenster und sieht hinaus. Ihr Blick schweift über die Stelle, an der Jonas im Schatten sitzt, aber auf seinem Wagen bleiben ihre Augen haften.
Sie hebt die Hand und winkt ihm zu. Der Mann winkt zurück und Jonas kann sie lächeln sehen. Auf diese eine Weise. Dann lässt der Mann den Motor an, die Scheinwerfer flammen auf und er setzt langsam den Wagen zurück.
Manche Menschen verlieren die Kontrolle. Sie handeln zu impulsiv und wenn man ihnen nicht aus dem Weg geht, dann wird man verletzt. Sie haben keine Disziplin. Sie öffnen das Ventil und lassen den Dampf ausströmen, mit lautem Zischen, direkt in dein Gesicht.
Vor solchen Menschen musst du dich in Acht nehmen. Sie sind gefährlich und werden dir schaden.
Sie sind schwer zu erkennen, denn solange sie sich beherrschen, sind es Menschen wie du und ich. Aber dann überschreiten sie die Grenze. Zuerst ihre eigenen aber dann - über kurz oder lang - auch deine Grenzen.
Jonas Körper handelt, bevor er weiß, was zu tun ist. Mit einem Satz ist er durch die Hecke und auf die Straße geschlüpft.
Wie gelangweilt steht er am Bordstein, als der Mann den Wagen auf die Straße herausrollen lässt. Sein Atem geht ruhig und er lächelt ein wenig. Beiläufig hebt er den Daumen und nickt dem Mann zu.
Selbstkontrolle, das ist alles, was nötig ist. Ein fester Griff um die eigene Seele. Das ist nicht schwer. Aber manche Menschen beherrschen es eben nicht.
Nur durch Kontrolle kann man seine Möglichkeiten nutzen. Nur wenn man seine Bewegungen lenkt und seine Blicke. Wenn man Macht hat, über jeden Muskel und jeden Gedanken.
Es ist leichter, als es erscheint. Und Jonas kann es nicht bereuen. Es musste getan werden. Und sie wird nie davon erfahren. Das ist ihm wichtig. Sie darf nicht erfahren, was geschehen ist und warum. Sie könnte es nicht verstehen.
Aber dafür hat sie ja ihn. Er ist immer da, um sie zu beschützen. Seit über zehn Jahren wacht er über ihren Schlaf und wenn es gilt zu handeln, dann ist er da. Das hat er ihr geschworen in der aller ersten Nacht.
Ich weiß, dass du Selbstkontrolle besitzt. Das hast du bewiesen, in der Nacht, als das Telefon klingelte. Und in den darauffolgenden Nächten. Deine Kraft ist nicht so stark wie meine, aber wir sind einander beinahe ebenbürtig. Manchmal wünschte ich, du wüsstest es.
Auch in der kommenden Nacht sitzt Jonas im Garten. Sie steht am Fenster und sieht hinaus. So als würde sie auf ihn warten. Tief im Innern weiß sie, dass er kommt. Aber sie wird ihn nicht sehen, so wie in allen Nächten zuvor.
Jonas lässt sich am Stamm hinuntergleiten. Langsam, um sie nicht zu erschrecken. Sie steht ungewöhnlich lange am Fenster, in dieser Nacht.
Solange, bis das Telefon klingelt. Ihre Schritte sind schwer, als sie zum Bett herüber geht. Ohne sich auszuziehen, sinkt sie in die Kissen und ihre Schultern beben. Das Fenster ist verschlossen und Jonas sieht ihr zu.
Er hätte es ihr gern erspart. Aber er musste sie retten. Musste handeln, bevor sie in Gefahr war. Und er hat seine Pflicht erfüllt.
Im Laufe der Jahre bin ich in dein Leben vorgedrungen. Tiefer, als ich es zu träumen wagte. Nun sitze ich hier an deiner Seite und lächele auf dich herab. Dennoch bist du unglaublich fern, unberührbar. Ein Ruhepol für meine Augen.
Verzeih mir, meine Schöne, wenn Ungeduld mich ergreift. Meine Hände fahren rastlos auf.
‚Jonas', sie bewegt sich nicht von der Couch. Er sieht kaum auf, aber sie weiß, dass er sie gehört hat. ‚Leg mir das Kissen zurecht, willst du?' Er kann nicht widersprechen. Es würde Diskussionen geben, wenn er es täte. Es ist seine Pflicht. Er hat sie übernommen und jetzt ist er verantwortlich für sie, bis ans Ende.
Nach ihm kam ein anderer. Er brachte dich zur Tür und ich sah, wie du für ihn lächeltest. Auch für ihn habe ich mir Zeit genommen. Genau so viel Zeit, wie nötig. Aber du hast davon nie erfahren. Du hast nur von dem Unfall gehört und einmal geweint. Nur ein einziges Mal. Du beginnst zu verstehen, dass Trauer verschwendet ist. Nur der Weg nach vorn kann dich retten. Flieh vor alle dem, solange du kannst. Lass das Böse nicht an dich heran. Sonst wird es dich zerstören. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich weiß es gut.
Selma lehnt lässig am Türrahmen. Seit ein paar Wochen ist sie wieder auf den Beinen. Nach Jahren des Torkelns und des Leidens.
Jonas dreht sich nicht zu ihr um. Er hat es achtzehn Jahre lang vermieden, ihr in die Augen zu sehen. Heute wird er nicht damit anfangen. Sie sieht fremd aus, in ihren neuen Kleidern und mit ordentlichem Haar.
‚Wir haben beschlossen, dass es besser wäre, wenn du ausziehst', ihre Stimme hört sich an, als falle es ihr schwer, überzeugend zu klingen. Aber er weiß, dass sie es meint.
Seit es ein Wir für sie gibt, denkt sie nur noch an sich selbst. Er hat auf den Tag gewartet, an dem sie es sagt. Und heute ist es nun so weit. Nun gut. Entscheidungen bringen dich voran. Flieh, wenn du kannst. Ich sage es nur einmal. Flieh jetzt, oder verstehe.
Als ich heute zu dir kam, habe ich an der Tür innegehalten. Du hast ein neues Schloss. Für einen Moment habe ich geglaubt, dass du mich nicht sehen willst. Dass du mich ausschließt aus deinem Leben, jetzt, wo es dir besser geht. Wo ich dich befreit habe.
Du kannst mich nicht ausschließen. Nicht nachdem wir so weit gekommen sind. Ich werde immer bei dir sein, denn ich habe es versprochen.
Als ich dachte, dass du mich nicht bei dir haben willst, war ich wütend. Bitte verzeih. Aber mein Zorn ist schnell verflogen, denn ich habe verstanden, dass du gelernt hast. Ich habe dich gelehrt, auf dich aufzupassen und das Böse fern zu halten. Und du hast gehandelt. Ich bin stolz auf dich.
Du hast es verdient, dass ich dich bewache. Und darum bin ich hier.
Deine Haut schimmert so wie am ersten Tag. Meine Finger zucken, um dich zu berühren. Aber ich halte mich zurück. Noch ist es zu früh. Ich will nichts überstürzen. Will dich nicht erschrecken.
Erst im Morgengrauen stehe ich auf und verlasse dich. Es ist kalt geworden in den letzten Tagen. Besorgt beuge ich mich über dich und ziehe die Decke zurecht.
Er trägt den schwarzen Anzug mit Würde. Er hat darauf gewartet und er fügt sich in seine Rolle. Über den leisen Nieselregen ist er dankbar. Das ist angemessen für einen Tag wie heute. Ihr ganzes Leben war verregnet und grau. Es wäre Ironie, wenn heute die Sonne schiene.
Man muss das Böse bei der Wurzel packen. Jonas ist stolz auf das, was er erreicht hat. Er hat es beendet, so wie es sich gehört. Er hat einen Schlussstrich gezogen und dieses hier ist der letzte Akt.
Mit gefalteten Händen sieht er in die Grube hinunter und sagt lebe wohl.
An diesem Abend sitzt Jonas am Küchentisch und wartet. Noch eine halbe Stunde. Dann wird es dunkel genug sein. Dann wird er aufbrechen. Er will rechtzeitig bei ihr sein, durch das Fenster beobachten und warten, bis sie schläft.
Der schwarze Beutel liegt neben ihm. Heute nacht wird alles anders.
Ich habe mich herausgeputzt. Nur für dich, meine Schöne. Heute nacht wird alles anders. Ich werde dir erzählen, was ich für dich getan habe. Wie sehr ich alle Jahre für dich da war. Ich habe uns endlich befreit. Von nun an, leben wir gemeinsam.
Wach auf, meine Schöne, und sieh mich an.