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Nachtwache
Ich hatte soeben angefangen, das letzte Kapitel meines Romans zu schreiben, als mich mein Pieper aus meiner Konzentration riss. Ich legte den Stift zur Seite und zog meine Jacke an.
„Nimm noch einen Schluck von dem Zeug hier, bevor du gehst. Dann wird dir wieder warm“, sagte mein spanischer Kollege George. Es war Winter und mir war tatsächlich kalt, selbst in meiner üppigen Uniform. Ich schnappte mir den Flachmann und nahm einen großen Schluck von dem, was George Teufelsgeschenk nannte. Sofort spürte ich, wie der Schnaps in meine Glieder und meinen Kopf rann.
„Das Teufelsgeschenk wird dich noch mal umbringen“, grinste George. Dann zog er sich seine Dienstmütze tief in sein Gesicht und fuhr mit seiner verspäteten Siesta fort.
Meine Arbeit im Altenheim beschränkte sich auf die Nachtschichten. Meistens war es ruhig und ich konnte in Ruhe meinen Roman schreiben, aber jetzt meldete mein Pieper Probleme in Zimmer 217.
Als ich aufstand, fiel mein Blick auf den Parkplatz. Neben meinem Auto stand das Motorrad von diesem Kerl, der hier Sozialstunden abarbeitete. Garreth hatte auf offener Straße eine alte Dame überfallen und war von der Polizei erwischt worden. Irgendwer hatte es wohl für eine gute Idee gehalten, ihn seine Arbeit gerade in dem Altenheim verrichten zu lassen, in dem sein Opfer eine Bewohnerin war. Nun befreite er Wände von Graffitis und strich sie neu, doch jetzt war es kurz vor eins, seine Schicht war längst vorbei.
Mein Pieper schrie erneut. Ich würde Garreth später suchen.
Frau Haller lag in der Station für psychisch kranke Menschen. Es war die einzige Abteilung, die man abschließen musste, nachdem die Bewohner schon oft versucht hatten zu fliehen. Als ich die Glastür aufschloss und den Flur betrat, kam mir der gewohnte Geruch von Kot und Urin entgegen. Die meisten Bewohner auf dieser Station waren inkontinent. Sie konnten ihre Blase genauso wenig kontrollieren wie ihren Verstand. Diese Leute musste man baden, man musste sie füttern, sie anziehen und ihnen Windeln anlegen. Freud würde so einen Rückfall auf ein kindliches Niveau wohl eine Art Regression nennen, für mich war es einfach nur eine Verwahrlosung, der ewige Kreislauf des Älterwerdens und Verrottens. Wenn ich hier eins gelernt hatte, dann die Erkenntnis, dass ich lieber sterben würde als mich von einer Schwester im Schritt waschen zu lassen, die mir mehrmals täglich die Windeln wechselte.
Der Flur war kaum beleuchtet. Vor machen Zimmern lagen Wäschebeutel. In der Nacht stauten sie sich, da die Schwestern keinen Dienst hatten. Gott, es roch, als hätten sämtliche Patienten dieses Flurs direkt in diese Beutel geschissen. Als ich endlich Zimmer 217 erreichte, kramte ich den Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die Tür auf.
Im Zimmer war es ruhig. Ich hörte Frau Haller zwar nicht atmen, aber so etwas hatte ich schon öfters erlebt. Der Atem alter Menschen setzte öfters kurz aus, nur um im nächsten Moment wieder einzusetzen, wie bei einer brüchigen Maschine, die den Geist einfach nicht aufgeben will. Während ich mich ihrem Bett näherte, hörte ich die Toilettenspülung.
Gott verdammt, ich bin doch keine Schwester, wisch dir deinen Arsch gefälligst selber ab, dachte ich. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Frau Haller lag auf dem Boden, sie hatte sich an ihrem Hinterkopf verletzt. Blut floss ihre grauen Haare hinunter auf den Boden, wo sich schon eine kleinere Lache gebildet hatte. Hand lag noch auf der Spüle. Ich spürte plötzlich wie der Schnaps in mir anfing zu arbeiten. Ich hielt mir meine Hand vor meinen Mund um mich nicht auf Frau Haller zu übergeben. Stattdessen kotzte ich in die Toilette.
Als ich fertig war, bückte ich mich hinunter um Frau Hallers Kopf umzudrehen. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen weit aufgerissen. Ich suchte meinen Pieper um George zu alarmieren, als mich ein harter Gegenstand am Hinterkopf traf.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich neben Frau Haller auf dem Fußboden. Sie starrte mich mit dem Blick eines Autisten an, der Ausdruck in ihren Augen war leer, aber lebendig.
„Sieh doch mal einer an, wenn das nicht der Nachtwärter ist“, sagte jemand. Ich vernahm ihn gedämpft, wie durch eine Wand gefiltert. Ich versuchte aufzustehen.
„Mach dir keine Mühe mein Freund. Auf dich ist die beste Handfeuerwaffe gerichtet, die man für Geld kaufen kann. Wenn du etwas tust, ohne das ich es dir befehle, füttere ich dein Gehirn mit einer goldenen Kugel.“
Ich kannte diese Stimme. Obwohl ich alles nur wie im Traum vernahm, weckte sie Erinnerungen in mir.
„Dreh dich um.“
Nur langsam gelang es mir meinen angeschlagenen Körper zu bewegen. Mein Kopf fühlte sich wie eine Walnuss an, die vergeblich versucht wird, aufgebrochen zu werden.
Obwohl ich den Kerl so verschwommen wie eine Fata Morgana sah, erkannte ich ihn. Es war Garreth, der seinen aufgezwungenen Dienst hier ableistete. Plötzlich machte alles einen Sinn. Mir fiel ein, dass es Frau Haller war, die er überfallen hatte.
„Na, erkennst du mich?“ Der Pieper seines Opfers lag auf seinem Schoß.
„Was willst du von mir, du verfluchtes Arschloch?“
„Deine Aufgabe ist simpel. Neben dir liegt eine Waffe. Du wirst sie dir nehmen und deine Nachbarin damit umbringen, damit ich mir meine Hände nicht schmutzig machen muss. So leicht ist das.“
Die Pistole lag neben mir auf dem Fußboden. Es war ein altes Kaliber, ohne Schalldämpfer. Den Schuss würde man im ganzen Haus hören.
„Das ist zu laut, die Polizeistelle ist direkt nebenan. Die Bullen werden auf der Stelle hier sein und uns verhaften.“
„Dich werden sie verhaften, mach dir um mich keine Sorgen und jetzt nimm die verfluchte Waffe, du Pisser“, schrie er. Und wie sie dich verhaften werden, dachte ich. Ich werde denen deine miese Visage haargenau beschreiben und dann bist du fällig.
„Was hast du nur gegen diese alte Frau, was hat sie dir getan?“ Ich versuchte Zeit zu schinden. Wenn ich meinen Pieper finden würde, könnte ich George anrufen, aber dieses verfluchte Gerät schien in keiner meiner Taschen zu sein.
„Sie hat mir nichts getan. Im Grunde kenne ich sie gar nicht, es ist einfach nur mein Job. Wenn du Fragen hast, wende dich an meinen Auftraggeber.“
„Dein Job?“ Ich hatte den Pieper endlich gefunden. „Du meinst also, du bist ein Auftragskiller?“
„Ich bin kein Mörder. Ich mache mir nie selber meine Hände dreckig, ich glaube an Gott.“
„Aber warum hast du sie erst überfallen? Was hattest du davon?“ 8885, Georges Nummer.
„Siehst du das hier?“ Ich erkannte nicht genau was er in seinen Händen hielt, aber es hörte sich an wie ein Schlüsselbund.
„Der beste Ort für einen Mord ist immer das Haus des Opfers, in diesem Fall dieses Zimmer. Würdest du dir nicht auch wünschen zu Hause zu sterben? Es hat so etwas Treues an sich, findest du nicht?“ Ich schwieg.
„Nachdem ich meine Beziehungen spielen ließ, ergatterte ich relativ schnell einen Platz in diesem Heim. Es ist verblüffend, Praktikanten und Auszubildende müssen Bewerbungen schreiben und Monate warten, bis sie hier einen Arbeitsplatz gefunden haben, aber Verbrecher wie ich kriegen nicht nur schnell eine Stelle, sondern auch diesen Schlüssel hier.“
„Das heißt, du hast dich freiwillig bei deinem Überfall erwischen lassen?“ George musste wieder eingeschlafen sein. Diese verdammte hochprozentige Brühe hat ihn wohl ins Koma fallen lassen.
„Du hast es erfasst, Einstein. Und jetzt nimm die verfluchte Pistole, bevor ich doch noch zum Killer werde.“
Ich streckte meinen Arm aus. Sollte ich versuchen, ihn zu erschießen? Wenn ich geschickt genug zielen würde, könnte ich ihn treffen.
„Du versuchst besser erst gar keine Dummheiten, denn Dummheiten werden bestraft, hast du verstanden?“
Ich nahm die Waffe in meine Hand und drehte mich langsam wieder zu der alten Frau um. Auf halbem Wege sah ich den Mistkerl genau vor mir. Er saß bequem in seinem Stuhl, seine Waffe auf den Boden gerichtet. Ich umschloss die Pistole blitzschnell mit beiden Händen, zielte auf die Brust dieses Perversen und drückte ab. Der Schuss erklang im kleinen, gefliesten Badezimmer so laut wie eine Granate. Wie in weiter Ferne hörte ich Glas zerbrechen. Ich öffnete meine Augen und sah, wie Garreth vor meinen Augen in Tausend Stücke splitterte. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich auf ein Spiegelbild geschossen habe.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du das lassen sollst.“ Ich hörte, wie er aufstand. Er betrat das Badezimmer und ergriff meine Hand.
„Ich hatte dich für klüger gehalten, du lässt mir keine andere Wahl.“ Zu schwach um ihm Widerstand zu leisten, umschloss er meine Hand mit seiner und richtete den Lauf der Pistole auf den Kopf von Frau Haller. Wie gelähmt ließ ich es geschehen. So musste sich jemand fühlen, auf den ein Zug angerast kam und er nicht weglaufen konnte. Er drückte ab.
Als ich aufwachte, lag ich in einer Gefängniszelle. Drei Polizisten standen außerhalb der Gefängniszelle und starrten mich an, während ich vorsichtig meinen Kopf abtastete.
„Haben sie gut geschlafen, Sir?“
Der fette Polizist schaute mich so mitleidig wie einen zum Tode verurteilten Kriminellen an, der auf dem elektrischen Stuhl saß.
„Warum zum Teufel bin ich hier?“ Nur verschwommen konnte ich mich an die vergangenen Geschehnisse dieser Nacht erinnern.
Ein Mann mit Schnurbart trat vor. „Falls sie sich nicht erinnern können, sie haben vor drei Stunden das Gehirn einer 80- jährigen weggepustet. Darauf steht die Todesstrafe.“ Ein seltsames Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ich erinnerte mich wieder.
„Ich, … ich kann das erklären.“ Mein Blick fiel auf den dritten Polizisten. Er hatte seine Dienstmütze tief in sein Gesicht gezogen.
„Dieser Verbrecher, Garreth, er hat mich erpresst. Er wollte mich erschießen, wenn ich Frau Haller nicht umbringen würde, verstehen sie?“ Ich stand von meiner Pritsche auf und torkelte in Richtung Zellentür.
„Dieser Mistkerl hat mich niedergeschlagen und überwältigt. Ich kann Ihnen genau sagen, wie er aussieht, er ist weiß, Mitte 20 und…“
Plötzlich stockte mir der Atem. Erst jetzt erkannte ich den dritten Polizisten.
Es war George, mein spanischer Kollege.
„George, bist du das?“ Der kleine Mann sah zu mir auf. Er war es tatsächlich.
„George, was machst du hier? Und was ist das für eine Uniform?“
„Hören Sie Mister, ich weiß zwar nicht für wen sie mich halten, aber ich bin nicht George. Sie reden wirres Zeug, man wird Ihnen kein Wort glauben. Sie stehen unter Alkoholeinfluss und ihre Fingerabdrücke befinden sich auf der Tatwaffe. Da kommen sie nicht wieder raus.“
„Alkoholeinfluss?“ Ich fiel zu Boden.
„Aber du hast mir doch selber noch gesagt, ich solle noch einen Schluck…“ Mein Atem reichte nicht mehr aus, um den Satz zu vollenden. Die anderen Polizisten drehten sich kopfschüttelnd weg. George blieb. Langsam näherte er sich meiner Zelle bis er sich schließlich hinhockte und zu mir flüsterte: „Rate mal, wer der Auftraggeber war, du armes Schwein. Ich sag doch, das Teufelsgeschenk wird dich noch mal umbringen.“ Mit einem Grinsen drehte er sich um und verließ den Raum.