Nackt
Der Balkon geht einmal rings um das Hotel herum. Die Fensterladen sind geschlossen. Vor dem Haupteingang steht ein blaues Schild. Darauf sieht man einen glatzköpfigen Menschen mit Mundschutz. Die Sonne hat das Schild fast ausgebleicht und die weitergehenden Hygieneanordnungen sind gar nicht mehr zu lesen. Auch sonst hätte ich mir nicht die Zeit genommen, in der prallen Sonne auf dem staubigen Parkplatz kommt jede Sekunde einer Marterung gleich.
„Ich möchte ein Zimmer bitte, für eine Nacht.“, sage ich und trage meine Personalien in das Formular ein.
„Adler oder Panda?“, fragt mich der Junge hinter dem Empfang. Ich versuche den Namen auf seinem Poloshirt zu entziffern, doch ich erkenne nur das erste Wort: Kanaloa …
Aloha, denke ich. So habe ich mir meinen Urlaub vorgestellt. Vor dem Gesicht trägt der Junge eines dieser transparenten Visiere, die bis unter das Kinn reichen und bei jedem längeren Satz von innen beschlagen.
„Wie bitte?“, frage ich verdutzt.
„Amerika oder China – in welche Richtung möchten Sie schauen? Das obere Stockwerk ist komplett leer, sie haben freie Auswahl.“ Hinter der spiegelnden Plastikscheibe ist ein Zwinkern zu erahnen.
„Dann nehme ich den Adler.“ Einmal den Wilden Westen im Osten sehen, denke ich.
Von meinem Zimmer aus ist nur das Meer zu sehen. Was anderes habe ich auch nicht erwartet, auf einer Insel. Trotz der tropisch schwülen Luft lasse ich mich aufs Bett fallen und schließe die Augen. Die Bettwäsche ist erstaunlich weich und sauber für den niedrigen Zimmerpreis. Ich taste nach dem Kopfkissen und schiebe es so weit wie möglich von mir. Die Luft, die ich einatme, ist so stickig, dass die reine Vorstellung an eine weitere Dämpfung einen Brechreiz auslöst.
Als ich die Augen wieder öffne, verschwindet gerade der letzte rote Sonnenstrahl hinter dem Horizont. Das kann ich von meinem Zimmer aus natürlich nicht direkt sehen, doch der plötzliche Wechsel vom helllichten Tag in die Abenddämmerung ist deutlich erkennbar. Als nächstes fällt mir auf, dass ich stinke. Das hellgraue Bettlaken war mal sauber, jetzt ist es wie meine Kleidung triefnass von lauwarmem Schweiß.
Von der Dusche gehe ich ohne Umschweife raus auf den Balkon und lasse meine Haare in der salzig warmen Nachtluft trocknen. Splitternackt laufe ich nach Norden um das Haus herum, wo man in weiter Ferne und mit viel Fantasie die Lichter Honolulus ausmachen kann. Vielleicht sollte ich in eines der anderen Zimmer einbrechen, denke ich mir. In mein eigenes Bett will ich diese Nacht auf keinen Fall zurückkehren.
Auf der Westseite des Hotels setzt sich das Landschaftsbild fort, an das ich schon gewohnt bin. Wellen, Rauschen, Mondschein und eine Vielzahl von Sternbildern, die ich nicht benennen kann. Was ich nicht sehe ist irgendeine Form fester Erde – kein Schiff, kein Leuchtturm, keine andere Insel. Alles ist flüssig und in Bewegung und beinahe kann ich die sanften Wellenbewegungen in mir spüren, als stünde das Hotel selbst auf einem großen Floß. Und auch im Süden zeigt sich der Stille Ozean von keiner anderen Seite.
Als ich auf auf die Ostseite zurückkehre, steht eine Frau in einem weißen Bikini vor meinem Zimmer und beobachtet das Meer. Genau genommen steht sie nicht direkt vor meinem Zimmer, sondern vor ihrem, welches an meins angrenzt und dessen Tür ebenfalls offen steht. Ich begrüße sie höflich und hoffe, dass sie mich nicht zu genau in Augenschein nimmt.
„Na, das ist ja eine Überraschung.“, meint sie wenig überrascht. „Ich gehe mal davon aus, dass es sich bei dir nicht um den Zimmerservice handelt.“ Eine Sekunde huscht ihr Blick an meinem nackten Oberkörper herunter, dann richtet sie ihn wieder auf den Horizont.
„Der Junge meinte, ich hätte das Stockwerk für mich allein.“, entschuldige ich mich.
„Komisch, das Gleiche hat er zu mir auch gesagt.“, antwortet die Frau. Ich stelle mich zwei Meter neben sie an das Balkongeländer und versuche herauszufinden, was sie da die ganze Zeit beobachtet.
„Ich kann mir auch etwas anziehen, wenn Ihnen das lieber ist.“, biete ich ihr an, obwohl ich weiß, dass sie in diesem Fall ganz anders auf mein Erscheinen reagiert hätte.
„Wieso denn? Hier ist doch niemand.“, gibt sie verständnislos zurück. Daraufhin wage ich es, einen längeren Blick auf sie zu werfen. Sie ist groß und von schlanker Statur. Von den Schultern abwärts werfen die kleinen Hebungen ihrer Wirbelsäule blasse Schatten über ihren Rücken. Erst über der Hüfte verbreitert sich ihr Körper wieder und geht in der gleichmäßigen Rundung ihres Pos in die Beine über. Alles unterhalb der Kniekehlen verschwindet im Schatten der Hauswand.
Noch immer hält sich ihr Blick starr in der Ferne. Ihre Haut muss relativ dunkel zu sein, doch im kalten Mondlicht scheint alles gleichermaßen weiß und silbrig glänzend. Besonders ihr Haar glitzert schön, als hätte sich darin eine Prise Sternenstaub verfangen.
Plötzlich reißt sie die Arme nach oben und deutet nach vorne: „Da! Siehst du es, das Nichts?“
Ihr Körper zittert und ihr Gesicht ist in Aufregung verzerrt. Also folge ich mit den Augen ihrem Zeigefinger und betrachte den schlafenden Ozean. Die Wassermassen können so viele Gesichter annehmen, doch heute geht der Wind ruhig und gleichmäßig. Ich sehe die rätselhafte Frau von der Seite an, die in ihrer Haltung vollkommen erstarrt ist. Dann drehe ich den Kopf wieder zum Meer.
Wie durch ihren Finger in eine Leinwand gestoßen ragt das Loch aus der Finsternis, wo der Sternenhimmel auf den Wasserspiegel trifft, auf. Im nächsten Moment hat es mich von den Füßen gerissen und mit aller Kraft wehre ich mich dagegen, wie es mich langsam und genüsslich verschlingt. Es gibt keine Hilfe, auf die ich hoffen kann. Auf einen Schlag ist meine Welt ausgelöscht, kein Glauben mehr möglich.
Vorsichtig drehe ich mich um. Der Raum ist leer. Das ist ein Anfang, denke ich mir. Wo Nichts ist, kann Etwas entstehen und das Loch füllen und ich bin wieder frei. Ein Lichtschein fällt auf mich und wirft einen kleinen runden Schatten in den Raum. Unten bildet er eine Kreisfläche, die dem Darüber eine Bedeutung verleiht. Ein Boden und eine endlose Decke. Es ist kalt und ungemütlich und ich nutze die Festigkeit des Grunds, um mich aus dem Loch zu befreien und zurück auf meinen Balkon zu gelangen.
„Wie heißt du eigentlich.“, frage ich die Frau im weißen Bikini, um davon abzulenken, dass ich nicht nur nackt, sondern auch innerlich fern von jeder Deckung bin. Das Loch am Horizont ist verschwunden, doch hat seine Macht eine Wunde in mein Bewusstsein gerissen, die nicht aufhören will zu bluten.
„Ich bin Nemo.“, sagt sie und formt mit ihren Lippen ein Lächeln, ohne dass ihre Augen die gleiche Sprache sprächen. Nemo, lateinisch für Niemand, denke ich verärgert.
„Den Trick kenne ich. Darauf falle ich nicht herein.“, sage ich. Sie zuckt mit den Schultern, wendet sich ab und läuft ein paar Schritte zur nächsten Ecke des Balkons. Ich folge ihr in gebührlichem Abstand.
„Siehst du das Land?“, fragt sie mich leise und deutet ein weiteres Mal mit dem Finger hinaus auf den Ozean. Da ist kein Land, will ich sagen, doch da sehe ich es. Eine winzige Insel, nicht mehr als eine kahle Sandbank, die sonst nur bei Ebbe sichtbar wird. Ich stelle mich hinter meine Zimmernachbarin und gehe leicht in die Knie, um mit dem Blick über ihre nackte Schulter dem gestreckten Arm folgend das zu sehen, was sie sieht. Dabei entgeht mir nicht der wohl riechende Duft, der aus ihren Haaren strömt. Es ist ein Mix aus verschiedenen Früchten, aber eine Note erkenne ich ganz klar: Apfel.
Die Insel hebt sich klar aus dem Wasser heraus. Wie der Rücken einer gewaltigen Schildkröte, bloß dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit zu sein. Die Wellen schwappen nicht über das Ufer, denn die Linie zwischen Wasser und Land ist absolut. Eine fixe Grenze zwischen den Elementen. Genauso wie die Grenze zu dem Luftraum über der Insel.
Eine ewige Dreiteilung der Welt in die Reiche Land, Luft und Wasser. Jedes Reich für sich ist kahl und unfruchtbar, zusammen bilden sie aber den Grundstein für mehr. Und im Himmel kreisen Vögel auf ihren federnden Schwingen, geiern nach dem Tod, der das Land noch fest in seinen Krallen hält.
Wir werden hinauf gesogen in die Lüfte, schweben im Sonnenlicht und sehen einander erstmals im Hellen. Sie hat kastanienbraune Haare und kaffeebraune Augen. Im Flug hält sie die Arme grazil zur Seite gebogen. Ihre Haut spannt sich weich über die Rippen, darunter sehe das Herz sechsmal schlagen. Die kleinen, schmalen Füße sehen so zart, so makellos aus, als hätten sie nie auf festem Boden gestanden. Ich spüre, dass ich wieder zu schwitzen begonnen habe.
Was folgt als Nächstes? Sie läuft einfach weiter, ihre offene Hand nach hinten gestreckt als Zeichen, dass ich sie ergreifen soll. Noch nicht ganz überzeugt gebe ich ihr schließlich meine rechte Faust. Ungeduldig zieht sie mich dicht an sich heran, stellt sich auf Zehenspitzen an das Geländer und schlingt meinen Arm um ihren Körper. Nun spüre ich ihre Wärme unmittelbar auf der Haut. In ihrem Körper pocht das Leben und ich werde mitgerissen von der leidenschaftlichen Energie ihrer Sehnsucht.
„Warum tust du das?“, frage ich, während ich versuche auszublenden, wie nah wir uns sind.
„Es gibt keinen Grund, es gibt keinen Sinn – es gibt nur den Traum, der Welten Beginn.“, reimt sie, lässt meinen Arm los und fährt fort: „Was du suchst, mit deiner knappen Zeit – und was du tust, zu allem bereit – es beginnt und endet immer in dir. Also wirst du keine Wahrheit finden. Und dich mehr und mehr mit dem Teufel verbünden.“
Dieses Mal gehe ich freiwillig mit ihr. Mit ihren hübschen Händen zeigt sie auf eine Stelle im offenen Meer, wo die Wellen sich zu einem wilden Strudel vereinen.
„Ich sehe eine Stadt!“, rufe ich überrascht. „Berge und Bäume stemmen die Dächer. Die Vögel haben bunte Kleider und lebhaftes Geschrei erfüllt die Luft.“
Sie zeigt weiter in Richtung Süden und singt: „Fruchtbares Grün stillt den Hunger. Es eifern Tiere und Fische. Sie genießen die Zeit ihres Lebens.“
Ich sehe alles deutlich. Hohe, massive Steinbauten mit Kunstinstallationen und regem Verkehr. Wölfe und Schafe werfen sich vielsagende Blicke über die Straße zu. Auf jeden Abriss folgt ein neuer Aufbau. Es begegnen sich Panda und Adler. Es braucht keine regelnde Hand, weder Gier noch beste Absichten. Lianen überbrücken noch so tiefe Abgründe, Bäume entsenden ihren Samen bis in die letzten unbelebten Winkel – und niemand ist niemandem untertan.
Wir folgen dem Mond an der Hauswand entlang in die südlichste Ecke des Balkons. 21 Zimmer gibt es auf diesem Stockwerk und nur zu einem besitze ich den Schlüssel. Durch die Fenster sehen alle gleich aus, doch nur eins hat eine durchnässte Matratze, meins. Und wieder kehrt die Hitze in mich zurück. Mit Nemo an meiner Seite glüht die Landschaft unter bläulichem Mondschein. Ich kann den Blick nicht von ihr lassen und sie starrt mich an, als sei ich einer dieser Punkte am Horizont.
Sie sagt etwas, aber ich höre nichts. Auf ihren sich bewegenden Lippen tanzt ein glitzernder Wassertropfen wie ein Surfer auf der Jahrhundertwelle. Ich antworte etwas und sie lacht. Ihr Busen hüpft im weißen Bikini auf und ab. Ich stoße sie gegen das harte Geländer und sie biegt ihren Oberkörper weit nach hinten, dass ihre Haare nur knapp über der Brandung im heißen Sommerwind wehen. Langsam beuge ich mich über sie.
Der Frieden ist fragil und zu viel Lust gefährlich. In Kinderschuhen tapsen wir durch das Paradies und sind bereit, für jeden Reiz alles zu opfern. Im Rausch ist mir Respekt ein Fremdwort und so tobe ich im Sturm. Der Körper ist nur das eine. Über die Liebe hat keiner Kontrolle, sie reißt uns in ein Höllenfeuer und nur wenige können mit den Aufwinden segeln. Knochen sind biegsam und Kratzer heilen. Doch mit dem Siegeszug des Lebens hat der Tod am meisten gewonnen. Warum darf man also die wenige Zeit nicht genießen? Weil das wertvollste Geschenk zur größten Verantwortung verpflichtet.
Ich versinke hoffnungslos in den Fluten des Pazifiks. Ertränke mich im Vergessen. Weiß nicht mehr, warum ich auf diese Insel gekommen bin.
Urlaub wovon? Vom Leben? Von mir?
Vermisst mich jemand dort, wo ich herkomme?
Wann hatte ich vor, wieder zurück zu gehen?
Mein Herz bebt noch immer, als ich von ihr ablasse und den Mindestabstand wiedereinnehme. In ihrem schneeweißen Bikini ist keine einzige Falte auszumachen. Verlegen lasse ich meinen Blick über das Meer schweifen, das sich wie ich wieder beruhigt hat. Sie steht regungslos an der Kante des Balkons, beide Hände auf das Geländer gestützt. Endlich finde ich meine Sprache wieder.
„Bekomme ich deine Nummer?“, frage ich schüchtern und von ihrem ernsten Blick mit Fokus im Nirgendwo verunsichert.
„Die brauchst du nicht. Wer sollte mich anrufen wollen?“, entgegnet sie und kehrt mir den Rücken zu. Im Osten sehe ich am Horizont einen grünlichen Schimmer der einsetzenden Dämmerung. In Amerika werden bereits die ersten Steaks auf den Grill gelegt. Ich hoffe, dass mir die Reinigung der Matratze nicht extra in Rechnung gestellt wird.
Als ich mich nach Sonnenaufgang völlig erledigt die Treppe hinunter schleppe, werde ich von dem Jungen mit Stirnrunzeln empfangen.
„Haben Sie gestern noch Besuch gehabt? Ich könnte schwören, ich habe Sie letzte Nacht reden gehört. Die anderen Zimmer habe ich alle kontrolliert, da hat sich niemand eingeschlichen.“
Einen Augenblick bin ich perplex, dann verstehe ich, was er gesagt hat. Ich will dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter klopfen, doch er weicht instinktiv zurück.
„Es ist, wie du gesagt hast. Außer mir war Niemand da.“, sage ich und trete hinaus auf den Parkplatz. Ich hätte mehr T-Shirts einpacken sollen. Der Verschleiß ist in diesen Breiten einfach nicht zu glauben.