- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Nadel im Kopf
Michel Krug, das bin ich, ist im Büro.
Besser: Michel Krug, das bin ich, schläft im Büro.
Seine Sekretärin hat mich gesehen, eben gerade, beim vorbeilaufen.
Und sie hat die Türe leise geschlossen, damit mich niemand schlafen sieht.
Doch Gott sieht alles!
Das alles ist mir aber im Moment unbewusst, denn ich liege mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte - halb auf dem Fachbuch das ich eigentlich hatte lesen wollen.
...das gibt wieder einen Abdruck!
Ich war eingeschlafen bei dem Gedanken daran.
Wieder einmal eingeschlafen, wieder einmal daran.
Die Gedanken, die mich in den Schlaf begleiten, sind ungeordnet und immer ohne Ziel.
So ist das immer bei mir. Ich kann sie einfach nicht bündeln vor dem Wegnicken.
Sie brechen aus, sie phantasieren über:
"Ich spüre etwas und ich handle danach.
Und ich handle nur so, weil es doch getan werden muss.
...so sage ich mir...
...so hat man mir gesagt."
Ich habe schon wieder den Faden verloren. Sogar das habe ich bemerkt, doch mit den Jahren ist die Erfahrung in mir gereift, dass man keinen Faden zum Einschlafen braucht... also spinne ich meinen Traum aus unsichtbaren Fäden unbeirrt weiter:
"Jeden Tag und immer wieder tun wir das... warum?
Weil wir etwas fühlen.
Da ist ein unbestimmter Druck. Er liegt auf uns. Er ist in uns.
Etwas lastet auf uns. Wir spüren es und nennen es 'Verpflichtung', 'Verantwortung' oder 'Gesellschaft'. Doch das ist es nicht."
Ich erinnere mich, schon halb im Schlaf, an heute morgen. Es läuft wie ein Film vor meinen Augen ab, ich gleite hinein:
Ich bin aufgewacht. Mit schweren Augen tappe ich ins Bad und sehe in den Spiegel.
Doch ich erkenne mich nicht.
Ich schneide eine Grimasse und überlege:
"Eigentlich erkennen wir uns doch nie."
Danach wasche ich mein Gesicht, oder das, was ich für mein Gesicht halte und fahre mit sauberer Grimasse, mit gewaschenem Kopf ins Büro.
Angekommen sage ich "guten Morgen!" zu meiner Sekretärin, nehme mir einen Kaffe, trinke ihn aber nicht, sondern beginne in einem Fachbuch zu lesen.
Das nenne ich Alltag. Das ist normal.
Und irgendwann, zum Beispiel heute morgen vor dem Spiegel, fragen wir uns, was wir verdammt nochmal hier tun.
So weit bin ich gekommen, mit meinen Gedanken, als es plötzlich beginnt zu vibrieren.
Der Schreibtisch auf dem ich liege, die Regale, die Welt wackelt wie bei einem Erdbeben in noch nie erlebter Stärke. Und die donnenden Worte die mich aus dem Schlaf reißen sind:
>> Da ist eine Nadel in deinem Kopf!!! <<
Was? Wo bin ich? Frage ich mich wachgeworden... und was blendet da so?
>> Du bist erwacht. <<
Erklärt irgendeine Stimme die ich nicht kenne aus dem Nichts heraus und sagt weiter:
>> Dich blendet die Dunkelheit. <<
Ich bin verwirrt, nicht wenig, nein total. Was soll das hier?
Ein blöder Traum, "Los kneif mich Margarete!"
Doch statt dass mich jemand kneift, höre ich wieder diese seltsame Stimme.
>> Du bist erwacht und nun kannst du fühlen. Gewöhne dich daran, ich weiß es ist schmerzhaft... anfangs. <<
Wie anfangs? Woher kommt das? Das ist in meinem Kopf! Bin ich krank? Ich träume.
Ich kann niemanden sehen, meine Augen brennen wie Feuer, alles ist düster. Und ich höre die seltsam hauchende Stimme schon wieder:
>> Nein, das ist kein Traum. Eben war der Traum, jetzt bist du wach. Du bist bei mir. <<
Also habe ich die ganze Welt geträumt..? Das kann doch garnicht sein, ist doch ganz großer Unsinn... obwohl... war es nicht vorher ebenso großer Unsinn..? Die ganze Zeit über... ich meine... ach was, ich träume!
Gleich wache ich auf in dem üblichen Quatsch der Welt und alles geht weiter wie gehabt... garantiert. Und außerdem: Wenn das hier die Wirklichkeit ist, wo sind denn dann die anderen?
>> Die anderen schlafen noch, sie befinden sich in ihrer Welt, so wie du in deiner Welt gefangen warst. <<
Was heißt denn hier schlafen noch? Soll das bedeuten, dass wir nun alle nacheinander in einem großen Dunkel aufwachen und uns in Gedanken mit einer sensationell rauchigen Stimme unterhalten müssen?
>> Nun das heißt es wohl... Aber du wirst noch lernen. Jetzt verstehst du es noch nicht. Habe Geduld und keine Angst. <<
Du hast mich mit: „Da ist eine Nadel in deinem Kopf!!!“ geweckt... was sollte das?
>> Nun ich sagte dir die Wahrheit. Es ist tatsächlich eine Nadel in deinem Kopf. Daher der Druck. Nein. Vorsicht Kleiner, nicht anfassen! <<
Aber ich spüre gar keinen Schmerz.
>> Natürlich nicht. Menschen haben keine sensorischen Rezeptoren im Hirn... das wäre auch zu schlimm. Ihr würdet sterben vor Schmerz. <<
Du sagst daher kommt der Druck... welchen Druck meinst du denn?
>> Da ist ein Fremdkörper im Kopf, die Nadel, das drückt ein wenig und dieses Drücken spürt das Hirn, fühlt aber keinen Schmerz. Es interpretiert den Druck und gibt ihn weiter... an dich. <<
An mich? Wie gibt denn mein Gehirn Druck an mich weiter?
>> Dazu hat es viele Möglichkeiten. Du hast sie alle zu spüren bekommen in deinem vermeintlichen Leben. Druck als Erwartung der Gesellschaft an dich, Druck als Schaffenskraft, Ehrgeiz oder Rastlosigkeit, Druck als Verpflichtung und Gewissen, der Druck der Beste zu sein und anderen zu helfen... und das lässt sich ewig fortsetzen. <<
Und du meinst deswegen bin ich ständig hin- und hergehetzt? Wegen der Nadel im Kopf?? Deswegen konnte ich niemals zwei Eis hintereinander essen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen?
Deswegen war ich immer gestresst, immer pünktlich und deswegen war mein Chef ein Arschloch?
>> Du lernst schnell. Genau aus diesem Grund bist du jede Woche 70 Std. arbeiten gegangen und hattest trotzdem Angst um deinen Job. Wegen der Nadel warst du verheiratet und hattest 2 Kinder um dem Schnitt zu entsprechen. Wegen dem Druck bist du einen Volvo Kombi gefahren, hast Geburtstagskuchen gegessen obwohl du keinen magst und bist Weihnachten in die Kirche gegangen. <<
Ahh, jetzt verstehe ich. Und nun bin ich hier... im Dunkeln.
Damit ich mit dir reden kann ...über eine mysteriöse Nadel in meinem Kopf und überhaupt in den Köpfen aller Menschen. Und diese Nadel in unserem Kopf soll all unsere Antriebe, Motive, Ängste und Zwänge repräsentieren, gibt meinem Leben erst eine gewisse Richtung, indem sie drückt, indem mein Hirn durch sie animiert fehlinterpretiert.
Dann in Wahrheit gibt es das alles nicht...
>> So ist es. <<
Der Fremdkörper in uns, den du uns eingesetzt hast um uns einen vermeintlichen Sinn zu geben, einen Selbstzweck, den willst du uns jetzt wieder nehmen, oder was?
Nur weil du es dir jetzt anders überlegt hast??
>> Hmmmm..? <<
Ich werde nun richtig wütend auf das Ding. Das was ich jetzt denke, will ich nicht denken, nein. Das muss unbedingt ausgesprochen werden, ich schreie also diesen Gott oder was das ist an:
"Diese Nadel in mir ist wichtig! Sie hat mir und allen anderen etwas gegeben, was du uns nicht geben konntest: nämlich einem Sinn. Wir Menschen brauchen einen Sinn zum Leben...
Einem Leben, das übrigens nicht immer so schlecht war! Und du meinst, uns würde es besser gehen und wir wären dir unendlich dankbar, wenn du uns aufweckst, uns etwas von Wahrheit erzählst und irgendwelchen Dingen die in unseren Köpfen stecken?"
>> Ja, öööh, lass mi... <<
"Ich scheiße auf die Wahrheit!"
>> Nun sei doch ma... <<
"Also hör mal zu mein lieber Gott, oder was auch immer du bist... du scheinst ja absolut keine Ahnung zu haben wie wir Menschen ticken. Eines will ich dir sagen:
Danke das du mich aufgeweckt hast...
...DU TROTTEL !!!"
Das schreie ich also in das Dunkel hinein und im nächsten Moment geschieht etwas Unglaubliches.
Gott (oder was das auch war) gibt mir eine schallende Ohrfeige oder etwas ähnliches. Jedenfalls verliere ich das Bewusstsein.
Ich wache auf, mein Schädel brummt. Der Kaffee ist kalt und ich habe einen Abdruck auf der Stirn.