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Nadelspitzengefühle
(2. Fassung)
Dunstige Rauchluft, dazu schwermütige Flamenco-Gitarrenklänge. Über den Köpfen der dicht gedrängten, lauschenden Menge hinweg, sah Miriam im Dämmerlicht den Gitaristen sitzen. Ganz in Schwarz war er gekleidet.
Der Club gefiel ihr, er war mal etwas anderes als diese Discotheken, in denen man andauernd mit synthetischer Musik berieselt wurde.
Miriam rückte den Spagettiträger ihres schwarzen Abendkleides etwas nach oben. Ihre Schulter fühlte sich heiß an und war leicht geschwollen. Ein hübsches Tattoo in Form einer stilisierten Taube hob sich bläulich von der Röte ihres Rückens ab. Sie fühlte noch den Schmerz der Tätowierungsnadel auf ihrer Haut und der Gedanke daran verursachte ihr immer noch eine Gänsehaut. Aber dies war ein guter Schmerz gewesen, denn die Nadelspitze auf ihrer Haut hatte so etwas Befreiendes gehabt.
Miriam war noch nie eine Anhängerin von Tätowierungen gewesen. Im Segelclub, "La Paloma", trugen fast alle ein Tattoo. Es hatte sich wie ein Virus ausgebreitet, der Vorstand fing damit an, das Vereinslogo auf seine Schulter einstechen zu lassen und die anderen zogen allmählich nach. Miriam fand die Taube zwar hübsch, scheute aber vor den Schmerzen zurück.
Der Gitarrist rückte sein Mikro zurecht und begann ein melancholisches Lied zu singen.
"Das Lied handelt bestimmt von Liebeskummer", dachte Miriam.
Wehmütig erinnerte sie sich an die schönen Tage im Segelclub, die Mondscheinfahrten und feuchtfröhlichen Feiern. Dann kam dieser Tag, an dem ihr Freund Bernd sagte, dass es besser wäre, die Beziehung zu beenden. Er hatte genug von ihrer Eifersucht und Zickigkeit. Sie war zuerst wie betäubt. Dann fragte sie nach, ob vielleicht eine andere Frau dahinter steckte. Zögernd gab er zu, da war jemand. Eine zierliche Frau mit langen, schwarzen Locken, hübsch wie eine Elfe. Mareike hieß sie. Nein, sie war kein Vereinsmitglied, er hatte sie in einem Musikclub kennen gelernt. Miriam zog einen Schlussstrich, sie kündigte ihre Mitgliedschaft im Verein, obwohl sie eine begeisterte Seglerin war. War es Vergeßlichkeit oder Absicht, dass sie ihre Segeltaue noch im Schuppen liegen ließ?
Miriam wunderte sich über einige Anrufe am frühen Abend, bei denen sie nur ein Rauschen hörte, und danach schnell wieder aufgelegt wurde. Ob das Bernd war? Miriam entsorgte ihren alten Fernsprecher und kaufte einen neuen Apparat mit 'T-Net-Funktion'. Eines Abends erschien Bernds Nummer auf dem Display. "Bernd, bist du das?" rief Miriam in das Telefon. Er antwortete ihr zögernd, dass er schon öfters versucht hatte bei ihr anzurufen. Sie hätte doch noch so viel eigenes Segelzeug im Schuppen, ob sie das nicht irgendwann mal mitnehmen wollte. Miriam sagte, was auch der Wahrheit entsprach, dass sie ihren Schlüssel leider schon beim Vereinsvorstand abgeben hatte. Bernd versprach, Miriam behilflich zu sein.
Kaum sahen sie sich wieder, da wurde Miriam schwach. Bernd hatte sich äußerlich kaum verändert. Seine Haare waren ein Stück nachgewachsen, die Ponysträhnen fielen über seine Augenbrauen. Etwas zugenommen hatte er, das blau-weiß-karierte Hemd wölbte sich über seinem Jeansbund. Mareike schien eine gute Köchin zu sein. Bernds hellblaue Augen strahlten, als er Miriam erblickte. Er nahm sie in seine Arme und drückte sie heftig an sich. Sein Herz klopfte in schnellen, harten Schlägen.
"Miriam, ich habe dich so vermisst!" sagte er mit rauer Stimme.
Da waren beiderseits noch Gefühle da, das spürte sie. Miriam versuchte sich mit einiger Willensanstrengung, aus seinen Armen zu befreien. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange.
"Bernd, was soll das, du bist doch jetzt mit Mareike zusammen?"
Bernd antwortete: "Um ehrlich zu sein, bei Mareike und mir ist zurzeit Funkstille. Weist du, sie kam eines Tages auf diese dumme Idee und sagte zu mir: ' Da wir uns sowieso jeden Tag sehen, könnten wir uns eigentlich mal nach einer gemeinsamen Wohnung umsehen.' Von dieser Idee war ich alles andere als begeistert. Stell dir vor Miriam, eine Frau, mit der ich gerade mal drei Wochen zusammen bin, will mit mir eine Wohnung teilen! Außerdem fand ich es schade, dass du dich niemals mehr bei mir gemeldet hattest. Wir wollten doch Freunde bleiben."
"Du hast gut reden", schniefte Miriam. "Soll ich dich etwa anrufen, wenn Mareike in deinen Armen liegt?"
"Das ist zur Zeit eher unwahrscheinlich", antwortete Bernd. "Seit unserer Auseinandersetzung wegen der gemeinsamen Wohnung, haben wir uns nicht mehr gesehen."
Bernd fasste Miriam sanft am Oberarm und führte sie ins Innere des Bootschuppens.
In leidenschaftlicher Umarmung lagen sie schließlich in einem ausrangierten Ruderboot.
Von diesem Tag an schöpfte sie wieder Hoffnung, zumal sie von einigen ihrer früheren Vereinsmitglieder hörte, dass es in der Beziehung zwischen Bernd und Mareike schwer kriselte. Gehässige Zungen behaupteten, Bernd wäre gelangweilt von seinem "flachbrüstigen Herzchen". Er würde doch mehr auf den Typ "Vollweib" stehen und wäre sicher schon das ein oder andere Mal fremdgegangen. Miriam nickte wissend. Von diesen Leuten erfuhr Miriam auch, dass sich Mareike öfters in diesem Club aufhielt, in dem sie sich damals kennen gelernt hatten. Miriam spielte mit dem Gedanken, einmal diese Musikkneipe zu besuchen, verwarf es aber als Hirngespinst, ausgerechnet an diesem Ort eine Frau anzutreffen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Eines Tages wollte Miriam Bernd anrufen. Sie hatte eine böse Auseinandersetzung in ihrem Elternhaus gehabt und brauchte nun jemanden, der Verständnis hatte und sie in den Arm nahm. Miriam tippte seine Nummer ein und gleich darauf erblasste sie, ihr Mund wurde trocken. Anstatt einem Freizeichen oder der Mailbox meldete sich eine kühle Frauenstimme, die ihr sagte: "Diese T-Mobile-Nummer ist uns nicht bekannt. Bitte überprüfen Sie die gewählte Nummer."
Mareike griff nach ihrem Handy, das ganz hinten auf der Anrichte lag. In der Hektik warf sie eine Vase um. Abgestandenes Wasser ergoss sich über ihre Füße, während sie Bernds gespeicherte Nummer anwählte. Gleich darauf ertönte nochmals die gleiche Ansage. Tränen rannten über ihre Wangen. Sie zog daraus die Konsequenz, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte und sich nun doch wieder Mareike zugewandt hatte. Die Episode im Bootshaus war nur ein letzter Fick mit seiner Ex für ihn gewesen. Der Gedanke war sehr schmerzlich, wie Nadelstiche, die sich in ihre Haut an Hals und Brust bohrten. Sie konnte nachts nicht mehr schlafen und hatte Mühe am nächsten Tag ihr Arbeitspensum zu schaffen. Um die Qual zu beenden, suchte sie ein Tattoostudio auf. Eine Taube wollte sie haben, ja dort oben auf ihrer rechte Schulter.
Die Gitarrenmusik verstummte, das Licht ging an und die Leute strömten Richtung Bar und Toiletten. Der Discjockey legte "Hamster" von "Groovin' Abstrax" auf, ein Lied, das in diesem Club gern gehört wurde. Nun war die Zeit gekommen, nach "einer Mareike" Ausschau zu halten.
"Mareikes" gab es hier viele. Ja, diese Frau da vorne, die so fröhlich mit dem Barkeeper flirtete, die schwarzen Locken zu einem Tuff seitlich hochgesteckt, könnte es sein. Nein, die hat zu viel Busen. Aber wie wäre es mit dieser "Mareike", die mit hohen "Manolo Blahniks" Richtung Toiletten stolzierte. Sie war eine sehr zarte Frau, der kurze schwarze Top und die auf der Hüfte sitzenden Hosen, gaben eine Wespentaille frei. Unauffällig folgte Miriam ihr. Die junge Frau warf einen Blick in den Toilettenspiegel. Schwarzes, langes Haar mit einem Madonnenscheitel, ein helles Gesicht mit großen, schwarzen Augen. Aber nein, dieses Mädchen war höchstens mal achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Mareike, das wusste sie von Bernd, war dreiunddreißig und somit in Miriams Alter.
Die nächste "Mareike" saß an der Bar. Sie war wirklich ein Traum von einer Frau. Die schwarzen Haare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schulter. Ihr Dekolte zierte üppiger, mexikanischer Schmuck.
"Kein Wunder, dass er mich wegen so einer Frau verlassen hatte", dachte Miriam voller Bitterkeit.
"Was möchten Sie trinken?", wurde Miriam von der Barfrau gefragt. Diese sah wie eine Spanierin aus, mit ihrem schwarzen Haarknoten und den langen Kreolen an ihren kleinen Ohren.
"Danke, jetzt nichts, später vielleicht", stammelte Miriam. Sie musste zur anderen Seite der Theke kommen.
Die Leute sammelten sich langsam wieder vor der Bühne, die Pause war vorbei. Miriam hielt den Atem an, nun stieg die dunkelhaarige Frau vom Barhocker. Sie schaute genauer hin. Nein, das war sie nicht. Diese Frau hatte üppige Hüften und war im Großen und Ganzen recht wohlgenährt.
Miriam hatte es aufgegeben, Mareike hier zu finden. Ausgerechnet heute war sie nicht im Club. Der Auftritt wurde fortgesetzt. Der Gitarrist stampfte mit dem Fuß, griff hart in die Saiten. Miriam klatschte im Takt mit. Ihr Spagettiträger schnitt in die Tätowierung und der Schmerz war wieder da.
Sie erinnerte sich an die Prozedur: Miriam lag bäuchlings auf der Bank, die ihr wie eine Folterbank vorkam. Sie hörte das Surren des Gerätes und ihre Haut kribbelte in Erwartung auf den Schmerz. Der Tätowierer setzte die Nadel an. Bernds verletzende Bemerkungen - der Tätowierer stichelte den Umriss der Taube. Bernds Treuebruch - der Tätowierer formte Augen und Schnabel, was sehr schmerzhaft war, weil die Herausarbeitung dieser Details mehrere Arbeitsschritte benötigte. Bernd und Mareike - der Tätowierer stichelte den Flügel.
Schweißüberströmt und mit trockenem Mund drängte sich Miriam nach der Show vor zur Bar. Das Tattoo verursachte einen klopfenden Schmerz und war rot und entzündet.
"Möchten Sie jetzt etwas trinken?" wurde sie erneut von der Barfrau mit dem schwarzen Haarknoten gefragt.
"Einen Gin-Tonic, bitte", sagte Miriam.
Wortlos nahm die Servicekraft Miriams Bestellung entgegen. Ihr Gesicht war blass und auf ihrer Stirn bildeten sich zwei Zornesfalten.
"Ist die aber schlecht drauf", dachte Miriam.
Die Barfrau drehte sich um und nahm ein großes Cocktailglas aus dem Regal. Ein Lichtstrahl fiel auf ihre Schulter.
Was war denn das? Auf ihrem hellen Rücken hob sich dunkel das Tattoo einer stilisierten Taube ab.