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Nahe der Stromlinie
Es ist mitten in der Nacht, als ein Erdbeben der Stufe 4,5 die isländische Halbinsel Reykjanes erschüttert. Wir liegen in unserem Zelt und schlafen. Bis zum nächsten Morgen.
„Didn't you really notice that?“, fragt die Inhaberin des Campingplatzes, als wir in ihrem kleinen Café ein paar Waffeln und Kaffee bestellen.
Sie lacht. „I mean did you seriously oversleep that?“
„I think so“, sage ich, grinse. Hanna scheint es peinlich zu sein. Sie steht etwas abseits, tut, als gehörte sie nicht zum Gespräch. Eine klasse Strategie, denke ich.
„And the volcano?“, frage ich.
„So far, nothing. Do you want some jam on the waffles?“
„Yes, gladly.“
„Milk in the coffee?“
„Definitely not.“
Wir setzen uns an einen der Holztische vors Café. Wind treibt die Küstenseeschwalben weg von ihren Nestern, die sie im hohen Gras verstecken; nun hängen sie in der Luft, als wären sie dort befestigt; bis eine Böe sie doch aus dem Gleichgewicht bringt.
Die Waffeln, die wir bekommen, schmecken selbstgemacht, was keine Auszeichnung ist. Mit geschlossenen Augen versuche ich mir vorzustellen, dass die Marmelade ebenso aus eigener Produktion ist – doch Erdbeeren habe ich hier bislang nirgends gesehen. Wir zahlen kontaktlos, so tut der Preis weniger weh. Um dem Wind zu entkommen, setzen wir uns in den Duster. Auf Google Maps recherchieren wir ‚Sehenswürdigkeiten‘, filtern nach positiven Bewertungen. Dann sind wir wieder on the road. Das Bluetooth des Autos funktioniert nicht, also bitte ich Hanna den Song ‚Hyperballad‘ von Björk über das Handy abzuspielen. Schnell einigen wir uns darauf, es doch lieber sein zu lassen. Ich habe Björks Musik nie als kitschig empfunden, doch ausgerechnet hier kommt sie mir unerträglich vor. Wir schweigen, fahren, genießen die Ruhe, die leere Straße, das Panorama aus Vulkanen und erstarrter Lava. Dann fliederfarbene Wiesen, im Hintergrund verblauende Bergketten.
„Alaska-Lupine“, liest Hanna von ihrem Handy ab. Sie hat die Angewohnheit, jede Pflanze und Vogelart mit der zugehörigen App zu bestimmen. „Invasiv“, fügt sie hinzu.
„Mmh“, sage ich.
„Nicht interessant?“
„Doch, doch. Ziemlich.“
„Ich frag’ dich irgendwann ab. Also merk’s dir.“
„Alaska-Lupine“, sage ich. „Alaska-Lupine, Alaska-Lupine.“
Kurz vor Selfoss in der Gemeinde Hveragerði fahren wir von der Mainroad ab, wollen ein paar Dinge im ‚Bonus‘ besorgen. Den Supermarkt erkennt man an seinem Markenzeichen, einem lächelnden, pinken Schwein. Immer wenn ich es auf Einkaufstüten, Produkten oder Reklametafeln sehe, bringt es mich zum Schmunzeln. Das Bonus-Schwein hat sich in mein Herz gegraben, wie man so schön sagt. Auf der Einkaufsliste stehen folgende Dinge: Thunfisch, Tomatendose, Nudeln, Frühstück, Kondensmilch. Die Kondensmilch ist eine Angewohnheit von Hanna und mir. Wir trinken sie pur.
Zurück im Duster stellen wir Hypothesen auf über die ungesunde Gesichtsfarbe der Isländer und Isländerinnen, die uns bislang begegnet sind. Liegt es am dunklen Winter, den teuren Früchten, unserer Einbildung? Am Parkplatz am Rand von Hveragerði halten wir. Wir ziehen uns Wanderschuhe an, Jacken über, packen Proviant und Schwimmsachen ein – hier soll es einen heißen Fluss geben und den wollen wir sehen. Immerhin hat er 4,6 Sterne auf Google Maps. Eine Rezension lautet „It's simply beautiful. The scenery is magnificent, and the water has the perfect temperature. You definitely shouldn't miss this!“ Die Parkgebühr ignorieren wir, laufen die ersten Kilometer.
„Besser als die Eifel ist das nicht“, konstatiere ich und fühle mich schlecht, das Offensichtliche ausgesprochen zu haben.
Endlich sehen wir Löcher, aus denen Dampf aufsteigt. Wir laufen hin, schießen Fotos. Eine anthrazitfarbene Flüssigkeit blubbert. Wie kochende Farbe. Schwefelgeruch. Ich bitte Hanna, ein Foto von mir zu machen, schaue mir das Bild an, zeige ihr, aus welchem Winkel sie fotografieren soll. Das Blubbern muss zu sehen sein. Am besten der Moment, in dem die Blase platzt. Aus anderen Löchern klingt es wie aus unterirdischen Wasserkochern. Ich notiere mir den Vergleich für den Fall, dass ich später einen Bericht darüber schreibe. Eine Familie stößt zu uns. Wir bitten sie, ein Pärchenfoto zu machen, zeigen ihnen den richtigen Winkel. „Thanks, mate“, bedanke ich mich. Dann machen wir Fotos von ihnen. Zum Schluss verabschieden wir uns freundschaftlich.
Tatsächlich wird die Landschaft hier immer ansehnlicher. Gehörnte Schafe auf saftig grünen Ebenen zwischen Bergen, die ein schwefeliger, graublauer Fluss durchzieht. An seiner Quelle baden Besucher. Niemand hier lässt seinen Müll liegen. Die Kleidung wird ordentlich auf dafür bereitgestellten Holzplateaus abgelegt. Sich hier nicht biblisch zu entkleiden, fühlt sich falsch an. Trotzdem trage ich Badeshorts, Hanna Bikini. Das Wasser ist, wie in der Rezension beschrieben. Ebenso die Landschaft. Alles wirkt ziemlich magnificent. Eine Frau fragt auf Deutsch, ob sie Fotos von uns machen soll; selbstverständlich revanchieren wir uns. Später bietet sie uns sogar ihren Platz an. Dort ist es noch etwas wärmer. Den Kopf an einen Stein gelehnt schaue ich in den wolkenlosen Himmel.
„Besser als die Harz-Therme“, sagt Hanna.
„Oh Gott, der Harz“, sage ich.
„Ja, wirklich“, bestätigt Hanna.
Als wir aus dem Wasser kommen, dampfen unsere Körper nicht. Zu mild ist der Juli.
„Wenn uns jemand fragt, weshalb wir nach Island sind, sagen wir einfach, dass wir mal wieder neue Fotos brauchten“, meint Hanna.
Ich lache. „Ja, da ist was dran.“
Beseelt und rotwangig kehren wir nach einer Stunde zum Parkplatz zurück.
„Fünfzehn Euro für drei Stunden.“ Ich schüttele den Kopf. „Eine Unverschämtheit.“
Zum Glück lächelt mich in diesem Moment das Bonus-Schwein einer fremden Einkaufstüte an, lässt mich meinen Unmut vergessen. Wie niedlich es ist, so dick und glücklich.
Da wir noch Zeit vom Tag übrig haben, besuchen wir zwei Wasserfälle und einen Geysir. Schön ist die Landschaft schon. Allein heute habe ich über zweihundert Fotos geschossen. Manchmal frage ich mich, was eigentlich damit passieren soll, wer sie sich ansehen wird, was von alledem bleibt.
Hanna sucht einen Campingplatz bei Selfoss raus. Die Bewertungen sind okay, etwas Besseres scheint es in der Gegend nicht zu geben. Nachdem wir das Zelt aufgebaut haben, setzen wir uns in den Gemeinschaftsraum. Dort essen wir Nudeln mit Thunfisch-Tomatensoße, laden die Powerbank auf. Zum Nachtisch gibt es je eine Tassenportion Kondensmilch. Morgen wollen wir den Duster stehenlassen, mit einem Offroad-Bus nach Landmannalauga ins Landesinnere reisen. Die Tickets sind bezahlt. Heiße Quellen, bunte Berge, ein erloschenes Lavafeld. Das kostet zweihundert Euro. Nur die Bustickets. Während Hanna duscht, sichte ich die Bilder des Tages. Ich entscheide mich für ein Foto von Hanna, mir und dem Schwefelloch. Aus der Perspektive sieht es aus, als würde die Blase direkt über unseren Köpfen zerplatzen.
An sieben Leute sende ich das Foto, dazu eine Nachricht. ‚Tolle‘, nein, ‚Großartige Landschaft‘. Ich lösche alles, formuliere neu. ‚Bisher top‘, nein. ‚Es geht uns top …‘ Ja, das ist es, ‚Es geht uns top …‘. Erledigt. Um mich zu belohnen, öffne ich die Nachrichten-App. Zuerst die Wettervorhersage, dann die Schlagzeilen. Erdoğan steht Schwedens Nato-Beitritt nicht mehr im Weg. Etwas Gutes. Tarifverhandlungen. Als ich weiter durch die Schlagzeilen scrolle, entdecke ich es. Wie eine Nebensächlichkeit wird es hier verkauft. „Vulkan auf Island ausgebrochen“ – und das schon vor ein paar Stunden. Ein fünfhundert Meter langer Riss, der durch die Erde geht. Bilder von Lava und Asche. Mit versteinertem Gesich überfliege ich die Zeilen. Zweihundert Euro für Bustickets am Arsch.
„Er ist ausgebrochen“, murmle ich, als Hanna von den Duschen kommt. Sie bleibt stehen. Der Frotteeturban auf ihrem Kopf kippt, doch mit der Hand hält sie ihn auf.
„Aber nicht mehr heute.“
„Doch“, sage ich. „Er ist ja nicht erst morgen ausgebrochen.“
„Aber wir gehen da heute nicht mehr hin.“
„Wieso?“
Hanna zeigt auf ihre imaginäre Armbanduhr. „Morgen.“
„Morgen ist sicher alles gesperrt“, sage ich.
„Dann ist es besser so.“
Ich kenne diesen Moment, weiß, dass die Diskussion hier strandet.
„Außerdem: was ist mit Landmannalauga?“
„Wegen der zweihundert Euro?“, frage ich.
Hanna verdreht die Augen. „Ist doch übereilt.“
„Nein, Hanna, das ist eine Gelegenheit. Da muss man handeln.“
„Wir gehen da heute jedenfalls nicht mehr hin“, sagt sie. „Fertig.“
Beleidigt klaube ich das Geschirr zusammen, gehe abwaschen.
Später im Zelt vertragen wir uns wieder. Ich gebe ihr ein-, zweimal recht, Hanna gesteht ein, dass auch sie nichts verpassen will.
„Nach Landmannalauga fahren wir sofort hin“, verspricht sie.
„Und wenn alles dicht ist?“
„Na, dann soll es einfach nicht sein.“
„Dann soll es nicht sein“, wiederhole ich und wiederhole es noch ein paar Mal leiser und leiser, bis ich einschlafe.
„Ich habe nicht vom Vulkan geträumt, du?“, frage ich.
„Nein. Nur von Amanda.“
„Wer ist noch mal Amanda?“
„Die Oberärztin.“
„Ach so“, sage ich. „Ist doch ein gutes Zeichen. Vielleicht ist der Vulkan doch nicht so wichtig.“
„Vielleicht“, sagt Hanna.
„Ich habe auch nicht gelesen, dass er gesperrt wäre oder so.“
„Also haben wir alles richtig gemacht?“
„Richtig.“
Das Kaffeepulver in unseren Bechern gieße ich mit heißem Wasser auf. Schon die ersten Schlucke stabilisieren; lassen mich wieder empfinden, dass wir uns nicht auf einem Campingplatz, sondern auf einem Campingplatz in Island befinden. Jetzt habe ich wieder Lust. Wir essen ‚Havrefras‘ mit Milch.
„Ist das nicht lustig, dass dieses Zeug Haferfraß heißt?“, frage ich.
„Nicht wirklich lustig“, erwidert Hanna kauend.
Still löffeln wir den Havrefras. Hinterher gieße ich mir noch etwas Milch nach.
Als wir fertig sind, packen wir das Nötigste zusammen, laufen zur Bushaltestelle. Dort wartet bereits eine Touristin. Aufgrund ihrer Lowa-Schuhe vermute ich Deutschsprachigkeit. In Kürze erfahren wir, dass sie aus Schleswig-Holstein kommt, auf einer Farm mit Islandponys arbeiten will, Dänisch spricht, glaubt, dass es schön sein wird in Landmannalauga, dass Island teuer ist. Ich bekomme Angst, dass sie sich an uns kletten will. Da spreche ich aus Erfahrung. Ich weiß, wie es ist, allein zu reisen. Jede Gesellschaft ist einem recht. Nur habe ich persönlich keine Lust, ihr diese Gesellschaft zu sein.
„Na ja, wir werden uns sicher in Landmannalauga über den Weg laufen“, sage ich.
Zum Glück fährt in diesem Moment der Bus ein. Er ist kleiner als erwartet. Aber das ist okay. Wir zeigen unsere Tickets vor, verstauen die Rucksäcke, steigen ein. Die anderen Touristen, die wohl aus Reykjavik kommen, mustern uns; freie Sitzwahl gibt es nicht. Das passt mir; so kann ich Nachrichten schreiben, Bilder versenden. Hanna wird abwechselnd staunen, über das Panorama und über die Pflanzen, die sie im Vorbeifahren bestimmt, und sie wird gedanklich im Krankenhaus sein, in dem sie in zwei Wochen wieder steht, Blut abnimmt, zu den mitunter rassistischen Bemerkungen der Oberärztin schweigt, darum kämpfen muss, überhaupt etwas lernen zu dürfen – kurz vor der Anreise hat sie zum ersten Mal eine Pleurapunktion durchführen können; über ihren Urlaub war auf der Station selbstverständlich keiner begeistert. Sie wird versuchen, ihre Gedanken beiseitezuschieben, doch unbewusst werden sie bleiben, an der Oberfläche kratzen, sie schließlich doch wieder heimsuchen. Der Wagen rollt. Rollt die Straße von Selfoss entlang, hinaus in eine Landschaft aus erstarrtem Tuff, Wiesen mit Hahnenfuß, Wollgras und Alaska-Lupinen, verblauenden Vulkanen im Hintergrund, Küstenseeschwalben, Bekassinen und Trauerschnäppern. Noch einmal halten wir, dann verlassen wir die Mainroad.
Nach anderthalb Stunden wache ich auf; jemand tippt mir gegen die Schulter. Vor uns kommt ein Bus nicht weiter; wir müssen aussteigen. Seitlich der Straße filmen Touristen das Spektakel. Alle wirken zufrieden. Als der Busfahrer den Wagen endlich mit einem Manöver befreit, applaudieren sie. Auch ich klatsche zum Spaß. Inzwischen ist auf der Anhöhe ein Bergungsfahrzeug erschienen. Ein Toyota, dessen Reifen an die eines Traktors erinnern. Seine Hilfe wird nicht mehr benötigt. Doch ein Foto ist mir der Wagen wert. Ich schieße es aus der Froschperspektive, so wirkt er größer. Andere folgen meinem Beispiel. Dann geht die Fahrt weiter; durch Canyons, die wie schlecht designte Computerspiele anmuten. Keine Bäume, nur perfekte, mit einer dünnen Schicht silbernem Moos überzogene Berge, hin und wieder ein mäandernder Fluss. Als wir durch eine metertiefe Furt fahren, das Wasser an den Seiten hochspritzt, habe ich die zweihundert Euro vergessen. Vor uns im Schatten eines Lavafeldes liegt ein Basecamp: einfache Hütten, ein Parkplatz, Zelte. Wir sind da. In Landmannalauga.
„Wie war die Fahrt?“, fragt die namenlose Frau aus Schleswig-Holstein. Ohne zu antworten, ziehe ich meinen Rucksack und dann den von Hanna aus dem Kofferraum des Busses. Als ich etwas sagen will, hat Hanna schon die Initiative ergriffen. Also erkundige ich mich beim Busfahrer, wo es hier Kaffee zu kaufen gibt. Er zeigt auf einen liebevoll umgebauten Schulbus, in dem ein LED-Schild blinkt – ‚open‘. Ohne einen Fuß hineingesetzt zu haben, weiß ich, dass der Kaffee dort neun Euro kostet.
„Habt ihr mitbekommen, dass der Weg frei ist?“, fragt die Frau aus Schleswig-Holstein.
„Wie bitte?“
„Hier“, sie hält mir ihr Smartphone hin.
Ein Blog-Artikel, das Datum stimmt. Der Titel: ‚Fagradalsfjall: Zugang wieder offen‘. Ich erspare mir die Lektüre, nehme an, dass sie den Text gelesen hat.
„Das ist unglaublich“, sage ich.
„Wollt ihr da etwa auch hin?“, fragt sie.
Ich nicke. Meine Haltung ihr gegenüber hat sich schlagartig verändert. Ohne sie hätten wir die Neuigkeit nicht erfahren, wenngleich wohl früher oder später von anderer Stelle. Dennoch empfinde ich so etwas wie Dankbarkeit.
Hanna räuspert sich. „Unsere Rückfahrt ist morgen.“
„Heute würde aber noch ein Bus fahren“, sage ich.
„Nach dieser Tour?“, fragt die Schleswig-Holsteinerin.
„Ein Glück“, sagt Hanna. „Es gibt noch normale Menschen.“
„Letztes Jahr konnte man den Vulkan ein halbes Jahr lang sehen. Kein Grund zur Eile.“
„Wenn das so ist“, sage ich. Tatsächlich beruhigt mich das.
Diesmal verabschiedet sie sich von uns. Nicht mal eine vage Verabredung. Nur ein unverbindliches ‚Viel Spaß‘. Kurz frage ich mich, ob sie nicht doch eine gute Ergänzung unseres Zweiergespanns gewesen wäre.
„Die war ganz okay“, sage ich.
„Ja“, sagt Hanna.
Wieder allein machen wir uns auf die Suche nach der Rezeption. Wie überall, können wir auch hier kontaktlos zahlen. Eine Frau mit Landmannalauga-Pulli fragt uns, wie lange wir wandern wollen, zeigt uns die gängigen Routen auf einer Umgebungskarte.
„My personal favorite tour is this one.“ Mit einem Bleistift setzt sie ein Kreuz in die Karte. „It's usually a bit less crowded.“ Unweigerlich denke ich an die Schuhgeschäfte, in denen das Personal ausgerechnet immer die Schuhe, die man gerade anprobiert, selbst zu Hause hat. Zumeist sind es auch zufällig ihre Lieblingsschuhe. Bei mir zieht dieser Trick.
Ich greife nach der Karte, doch die Frau hält ihre Hand darauf. Noch einmal piept das Kartenlesegerät; dann gehen wir, sollen uns einen Zeltplatz aussuchen.
Der Wind ist hart, der Boden fest. Einen Hering bekommen wir nicht in die Erde. Wir legen Steine auf die Leinen. Es ist 16:43 Uhr als wir gehbereit sind. Aus der Vorratstüte, die das Bonus-Schwein zeigt, nehmen wir uns je einen Müsli-Riegel. Sie schmecken nach Himbeerjoghurt. Zweihundert Kilometer entfernt schießen Lavafontänen in die Höhe, schreiben Mutige Geschichte. Doch wir hängen rum. In Islands schönster Berglandschaft hängen wir rum.
„Na, dann los“, sage ich.
Hinter der Rezeption startet der Laugavegur, der Weg der heißen Quellen. Eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen ist vor uns, der Pfad schmal. Wir trotten hinter ihnen her, hören ihre enthusiastischen Gespräche in American English. In einer Biegung überholen wir sie. Ringsum erstarrte Lava, Auftürmungen, Splitter, eingebettet in einen Fluss aus schwarzem Gestein. Über einen Kilometer lang folgen wir seinem Ursprung. Aus dem Nichts muss er entstanden sein. Dahinter eine grüne Weite, Wollgras wie Wattetupfer verstreut. Ich notiere den Vergleich. Die Felsen hier haben grünes, oranges, rotes, sogar blaues Gestein. Manchmal alles zugleich. Hinterm Grün ein verzweigtes Adergeflecht, ein Fluss, dessen Furchen aus dem Boden zu brechen scheinen. Eine kalte Sonne blitzt darin. Ein ferner Wasserfall. Unecht, virtuell, aber schlampig designt. Kein Baum, kein Busch. Nur Wiese, Fels und Wasser. Wir wollen sie fotografieren. Bild für Bild. Doch die Farben stimmen nicht. Die Augen geben sie anders wieder. Ich drehe am Filter; nichts. Wir werden diese Bilder niemandem zeigen können.
„Das ist lächerlich schön“, sage ich.
„Wie heißt diese Pflanze?“, fragt Hanna und zeigt auf die Wattebäusche.
„Wollgras“, sage ich. „Das ist Wollgras.“
Im Laufen denke ich darüber nach. Ist das wirklich ‚Wollgras‘? Ich meine, ‚Wollgras‘ ist doch nur ein Begriff. Was also ist das? Der Gedanke macht mir Angst.
„Ist dir aufgefallen, dass wir völlig allein sind?“, fragt Hanna.
Ich schaue mich um; sie hat recht.
„Das ist nicht gut“, sage ich.
„Was?“
„Ach, nichts.“
Das Aderwerk aus schlängelnden Flüssen besteht aus meterbreiten Hindernissen, wenn man erst davor steht. Mit Steinen, die wir ins Wasser werfen, behelfen wir uns, schaffen Furten. Die Füße werden trotzdem nass.
„Nicht gut imprägniert“, sagt Hanna.
Ich merke, dass ihr etwas Sorgen bereitet. Vielleicht ist es, dass etwas am Plan nicht stimmt und wir nicht wissen, was. Ein kleiner Fehler, der sich eingeschlichen hat.
„Es geht mir nicht gut“, sagt sie.
„Sollen wir zurück?“
„Nein.“
„Aber wenn es dir nicht gut geht.“
Sie läuft schneller, hält sich eine Hand vor den Bauch; ich kann ihr Gesicht nicht sehen.
Der Weg führt am Wasserfall entlang. Je näher ich komme, desto lauter das Plätschern. Wasser, das auf Wasser schlägt. Es gluckst, ich meine eine Frequenz zu hören. Etwas Harmonisches. Ein leises Summen. Ich schaue ins aufgewühlte Wasser. Sollte hier tatsächlich jemand sitzen und singen? Doch es ist nur der Wasserfall, das Schäumen und dumpfe Trommeln. So müssen die Geschichten von Feen und Nixen entstanden sein. Ihr Gesang hat etwas Lockendes, zugleich Ängstigendes, Böses. Wie der Anblick eines Schwarzen Lochs. Ich notiere den Vergleich.
Stumm erklimmen wir den Trichter. Ein schmaler Pfad. An jeder Biegung ändert sich der Blick auf die Landschaft. Erst erinnert der Hang an eine Wüste, dann an einen roten Canyon, wieder sehen wir das grüne Tal, das Netz silbriger Furchen, die irgendwo dem Berg entspringen. Hanna bleibt stehen.
„Ist es besser?“, frage ich.
Sie nickt, holt ihr Handy raus, um ein Foto zu machen.
Auch ich bringe mich in Position.
„Ich hab’ noch eine Ibu“, sage ich.
„Schon okay. Nur eine Kolik.“
Wir fotografieren und entspannen. Von hier aus kann man sehen, wie die Lava einst als zäher Fluss über das Tal gerollt sein muss.
„Selbstauslöser?“, fragt Hanna.
„Klar“, sage ich.
Fünf Minuten lang nestelt Hanna am Rucksack herum, bis das Handy drapiert ist und den richtigen Ausschnitt zeigt. Wir nehmen zwei Anläufe.
„Jetzt mal richtig grinsen“, sage ich. „So übertrieben.“
Wir grinsen heftig. Machen noch ein Foto zur Sicherheit.
„Das mit dem Grinsen ist nicht schlecht“, sagt Hanna. „Sieht fast natürlich aus.“
„Aber die Berge kommen nicht rüber. Ich glaube, da bräuchte man ein Teleobjektiv.“
„Stimmt“, sagt Hanna. „Das wirkt alles so klein.“
„Ist verrückt, wie groß das ist, oder?“, frage ich.
„Ja, verrückt.“
Was die Fotos angeht, sind wir für ein paar hundert Meter gesättigt. Als wir eine der Bergzinnen erklettern, nehme ich ein Panoramabild auf. Hier geht es wieder talwärts. Noch eine Stunde, berechne ich grob. Eine Gratwanderung zwischen Betten aus Silbermoos führt uns in eine blutrote Schlucht. Ohne nachzudenken, werfe ich mich ins Moos. Es federt den Sturz wie eine Matratze.
„Invasiv“, sagt Hanna.
„Das Moos?“, frage ich.
Hanna nickt, macht ein Bild von mir.
Auf der anderen Seite der Schlucht liegt ein See mit grüner Insel.
„Bildschirmschoner“, bemerke ich.
Hanna nickt. „Wollen wir dann?“
„Klar, lass uns ins Camp gehen.“
Wir verlassen den Ort, ohne ein Foto gemacht zu haben. Vielleicht sind wir müde, vielleicht haben wir es einfach vergessen. Der letzte Kilometer zehrt. Endlich stoßen wir auf die Piste. Ein Jeep fährt vorbei, wirbelt Staub auf. Das Camp liegt vor uns. Dahinter das namengebende Bad. Landmannalauga, die heiße Quelle der Landmänner. Schnell holen wir die Badesachen aus dem Zelt, folgen dem Holzsteg. Etwa dreißig Menschen hocken dort zusammen. Wir gesellen uns zu ihnen; sie trinken Leichtbier aus goldenen Dosen. Das Wasser hat vielleicht 44°. Je nachdem, wo man liegt. Eine gute Gelegenheit verschafft uns einen Platz in Quellennähe. Wir genießen es. Die Abendsonne lässt den Fels Schatten zeichnen. Kleine Strukturen, die Kontrast geben. Der Blick entgleitet, die Lider schließen sich.
„Ist es okay, wenn ich das Handy hole?“, fragt Hanna.
„Klar“, antworte ich, ohne die Augen zu öffnen. Ich höre sie aus dem Wasser gleiten, fühle den kühlen Wind auf der Haut. Bis sie wiederkommt, lausche ich fremden Gesprächen.
Das Handy fest im Griff machen wir ein Selfie und noch eins zur Sicherheit.
Tief entspannt kommen wir aus dem Wasser. Nicht einmal aussprechen müssen wir das. Schweigsam bereiten wir unser Abendessen zu. Nudeln mit Thunfisch-Tomatensoße. Zum Nachtisch je eine Tassenportion Kondensmilch. In dieser Nacht schlafen wir fest, während draußen der Wind pfeift.
„Where can you get the best view of Brennisteinsalda?“, frage ich die Frau im Rezeptionshäuschen. „I mean, from where can you see it entirely?“
Sie überlegt, nimmt ihren Bleistift. Ich schiebe ihr unsere Karte unter.
„I think you get a good view from the main route. But you could also take this path.“ Sie setzt ein Kreuz.
„Thanks a bunch. You know, I'm quite fascinated by this rock“, sage ich und lächle.
„Ah, really?“
„Yeah, it's quite beautiful.“
Ich deute eine Verbeugung an, immerhin war diese Information gratis. Wir gehen. Bis 15:30 Uhr haben wir Zeit. Dann fährt der Bus. Wenn alles gut läuft, werden wir direkt weiterfahren. Vielleicht werden wir noch heute sehen, was immer es dort zu sehen gibt. Doch zunächst werden wir noch einmal mit diesem Lavafeld vorliebnehmen. Da ich es von oben gesehen habe, weiß ich, dass es wie ein Labyrinth aufgebaut ist. Das Bild zeichnet sich auf der Netzhaut ab. Schon jetzt ist mir die Landschaft vertrauter. Ich sehe sie anders. Fotos machen wir diesmal keine. Dort, wo die Lava aufs Tal trifft, laufen wir südwärts. Am Aufstieg zum Brennisteinsalda, dem bunten Berg, dringen Dämpfe aus den Felsritzen. Wie aus einem undichten Maschinenkessel, denke ich, notiere den Vergleich. Schwefelgeruch. Verfärbungen an den Austrittslöchern. Als wir den Fotospot erreichen, bricht der Himmel auf, bringt die Farben des Berges zum Leuchten.
„Perfekt“, sage ich und suche den Ausschnitt.
Ein Mann mit rundem Hut nimmt ein Pärchenbild von uns auf.
„Make sure Brennisteinsalda is fully captured in the picture. You can cut off our legs“, bitte ich den Mann.
Er zeigt uns das Foto, wir sind zufrieden.
„Could you also take a picture of me, please?“, fragt er. „You can also cut off my legs.“
„With pleasure!“
Während wir den Berg besteigen, ist er nicht vollständig sichtbar. Das ist logisch, kommt mir in diesem Moment aber paradox vor. Also überlege ich, wie es wäre, den Blick vom Körper zu lösen. Eine Drohne oben, vorne, hinten. Ich könnte die Perspektive wechseln wie in einem Computerspiel. Aber ob das mit der Steuerung gehen würde? Auf dem Gipfel sitzt eine alte Frau in bunten Sportleggings. Sie verschnauft. Als wir vorbeigehen, schaut sie uns zerknirscht an; wir nicken ihr zu. An einem Platz mit Talblick trinken wir jeweils eine Tassenportion Kondensmilch und nagen an ein paar Himbeerriegeln.
„Das ist es doch“, sage ich.
„Was?“, fragt Hanna.
„Na, das hier.“ Ich mache eine ausschweifende Bewegung. „Jetzt können wir quasi sterben.“
„Ist das dein Ernst?“
„Nein. Aber das sagt man so.“
„Hab’ ich noch nie gehört“, sagt Hanna.
„Na, dann hab ich’s nicht so gemeint.“
Die Plastikverpackungen stecken wir in die Hosentaschen. Vor uns liegt der Abstieg. 12:19 Uhr. Es kostet uns nichts; wir sind fit. Bereits gegen halb zwei sind wir wieder im Camp. Zeit, um noch einmal umsonst ins heiße Wasser zu gehen. Auf dem Steg kommt uns die Schleswig-Holsteinerin entgegen. Ich hatte sie bereits vergessen.
„Wie war’s bei dir?“, fragt Hanna.
Wir erfahren, dass sie einen anderen Weg genommen hat. Weder den Brennisteinsalda noch das saftige Tal scheint sie gesehen zu haben.
„Sagt mal, wolltet ihr nicht auch zum Vulkan?“
„Ja“, sage ich.
„Habt ihr zufällig ein Auto in Selfoss?“
„Klar“, sagt Hanna. Ich beiße die Zähne zusammen.
„Es ist sehr voll“, sage ich.
„Könntet ihr mich vielleicht mitnehmen? Ich meine, nur das Stück.“
„Selbstverständlich“, sagt Hanna.
„Toll. Dann sehen wir uns gleich am Bus?“
„So wird es sein“, sage ich.
Wir verabschieden uns.
„Warum hast du sie eingeladen?“, frage ich Hanna.
„Jetzt sei mal nicht so. Die ist doch nett.“
„Ja, nett“, sage ich.
Ich überhole Hanna, laufe voraus. Ist doch klar, wie das abläuft. Erst wird sie uns stundenlang irgendwelche Geschichten von Schleswig-Holstein erzählen und dann sollen wir sie zum Dank auch auf dem Rückweg mitnehmen. Hinterher bringen wir sie noch zur Ponyfarm und zum Schluss tauschen wir Nummern aus, die niemals angerufen werden. Ich kenne das. Aber meinetwegen. Das Wichtigste ist nur, dass wir heute noch den Vulkan sehen.
Das heiße Wasser beruhigt mich etwas.
„Du hast eigentlich recht“, sage ich.
„Na ja, aber ganz unrecht hast du auch nicht“, sagt Hanna.
Um den Bus nicht zu verpassen, gehen wir pünktlich aus dem Wasser. Zwanzig Minuten vor Abfahrt stehen wir bereit. Auch andere Deutsche sind da. Die Schleswig-Holsteinerin kommt zu uns. Da ich zufällig noch einige Nachrichten schreiben muss, unterhalten Hanna und sie sich. Ich stelle mich abseits. Nicht so weit, dass es unfreundlich wirkt, aber weit genug, damit ich ihrem Gespräch nicht folgen muss.
Diesmal haben Hanna und ich einen Platz nebeneinander. Die Schleswig-Holsteinerin sitzt weiter hinten.
Das ist nett von ihr, finde ich.
„Was habt ihr denn so beredet?“, frage ich.
„Dies und das“, sagt Hanna. „Sie ist schwanger.“
„Wie bitte?“
„Ja, sie überlegt, ob sie das tun soll mit dem Vulkan. Vielleicht fährt sie auch nach Reykjavik weiter.“
„Natürlich fährt sie mit uns“, sage ich. „Als ob sich jemand so etwas entgehen lässt.“
„Sie ist schwanger“, sagt Hanna.
„Ja, vielleicht hast du recht.“
„Aber vielleicht hast auch du recht“, sagt Hanna.
„Wer weiß.“
Während Hanna sich konzentriert, damit ihr nicht übel wird, macht mich die schunkelige, kurvenreiche Fahrt müde. Wie bei einem Säugling, der im Kinderwagen schaukelt. Ich schaffe es nicht, den Vergleich zu notieren; investiere meinen letzten Gedanken darauf, mich später noch einmal daran erinnern zu wollen.
„Aufwachen.“
„Sind wir da?“
Ich sehe eine Tankstelle, einen Kentucky Fried Chicken. Es ist Selfoss.
Erst als der Bus abgefahren ist, fällt mir auf, dass die Schleswig-Holsteinerin fehlt.
„Sie wollte nicht mit?“, frage ich.
„Wegen des Kindes.“
Ich nicke, finde es insgeheim schade. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht die Müdigkeit.
„Ich würde mich hinreißen lassen, noch beim KFC zu essen“, sagt Hanna.
Wir holen das Auto, berechnen den Fahrtweg. Vor neun werden wir nirgendwo sein und Hunger habe ich auch. Also fahre ich vor; sogar einen Drive-in gibt es hier. Als wir die Stadt verlassen, riecht das Auto nach Hühnerfleisch und Fritteuse. Wir haben so viel bestellt, dass noch etwas für die Wanderung übrig ist. Keine Kosten haben wir gescheut. Sogar einen extra Becher Mayonnaise und einen mit Barbecuesauce habe ich für umgerechnet etwa fünf Euro bekommen. Es ist der besondere Anlass. Man isst nur ein Mal am Vulkan. Jetzt fahren wir. Gelegentlich genehmige ich mir einen Schluck Pepsi. Doch immer schaue ich gewissenhaft auf die Fahrbahn. Neunzig Stundenkilometer sind erlaubt. Ich fahre im Schnitt dreiundneunzig.
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto mehr nimmt Hannas Abenteuerlust ab. Gelegentlich tunkt sie eine Pommes in die Mayo. Schweigsam ist sie geworden. Doch ich spreche es nicht an. Nicht, dass sie noch auf falsche Gedanken kommt, mich da reinzieht. Nein, ich lasse mir das nicht ausreden. Zur Not bringe ich sie eben zum Campingplatz. Soll sie dort den Gesang der Vögel bestimmen, während ich meine Pommes in den Vulkan tauche.
„Du willst kneifen“, sage ich, als ich es nicht mehr aushalte.
„Ich weiß einfach nicht, ob es sicher ist.“
„Was ist schon sicher, Hanna? Kein Abenteuer.“
„Ja, du hast recht.“
„Andererseits kann ich dich verstehen“, sage ich schnell.
„Aber du hast recht“, sagt Hanna.
„Aber ich kann dich auch verstehen.“
Seit einigen Kilometern folgen wir einem schwarzen Landcruiser.
„Da weißt du aber, wo der hin will“, sage ich.
„Meinst du?“
„Klar. Das wird mit etwas Glück unsere Wandergruppe. Ich wünschte, wir hätten doch die Schleswig-Holsteinerin dabei.“
„Glaubst du etwa, wir sind dort alleine?“, fragt Hanna. Ich meine, einen Bruch in ihrer Stimme zu hören.
„Ja, ich glaube leider, das ist so. Um die Uhrzeit ist da kein Schwein mehr.“
„Finde ich gruselig“, sagt Hanna.
„Wenn du willst, lasse ich dich beim Campingplatz raus. Du musst nur etwas sagen.“
Hanna schweigt. Die Digitalanzeige schaltet um, zeigt drei Nullen. 10:00 Uhr.
„Ist das Mut oder Unentschlossenheit?“, frage ich.
Der Landcruiser vor uns setzt seinen Blinker.
„Ich hab’s doch gewusst.“
„Dahinten sind Autos“, sagt Hanna. „Aber das ist nicht mal der Parkplatz.“
Im dritten Gang holpere ich durchs Gelände, schalte hoch, trete durch. Steine knirschen. Hinter der Biegung sehen wir es. Ein Parkplatz, der bis zum Horizont reicht. Hunderte Autos. Dicht an dicht gedrängt. Es wimmelt vor Menschen. Dazwischen Bergungsfahrzeuge, die abwechselnd blau und rot blinken. Ein Polizist winkt uns weiter, deutet auf den hinteren Bereich des Parkplatzes, den wir von hier aus nicht sehen können. Alte Frauen und Männer, Kinder mit ihren Eltern, Pärchen wie wir. Sie kommen uns entgegen.
„Bist du jetzt beruhigt?“, frage ich.
„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute hier sind. Ja, es beruhigt mich.“
Wo der Weg endet, erstreckt sich eine Wiese. Dort gibt es noch freie Plätze. Wir sehen einen Camper mit deutschem Kennzeichen. Ein Pärchen, das sich ihre Lowa-Schuhe schnürt. Ich meide ihre Blicke, lasse eine Parklücke zwischen uns und ihnen. Wir halten. In einem Zug trinke ich den Rest Pepsi aus, sauge am Strohhalm, bis er leer zieht.
„Jetzt freue ich mich“, sagt Hanna.
„Ich mich auch.“
In unsere Rucksäcke packen wir Burger, Hühnerfleisch und Pommes, Kondensmilch, Wasser und Blasenpflaster. Am Eingang des Treks spricht uns ein Mann in Warnweste an. Er fragt, ob wir genug zu trinken haben, die richtige Kleidung, etwas zu essen.
„Yes, we have some food with us“, sagt Hanna.
Er lässt uns passieren. Zum Glück gibt es hier keine wilden Tiere. Vermutlich riechen wir mehr nach Hühnchen, als wir uns vorstellen können.
„Ich kann es nicht fassen, dass wir das tun“, sage ich.
Hanna zieht mich am Handgelenk; gibt mir einen Kuss.
Es ist ein kontinuierlicher Strom aus Menschen, in dem wir uns in Richtung Vulkan bewegen. Dennoch kommen uns mehr Personen entgegen. Große Väter mit Basecaps und Muscleshirts, die ihre schlafenden Kinder auf den Schultern tragen, den kleinen Rucksack auf der Brust. Mütter in taillierter Sportswear, tätowiert, ein Kind an der Hand, auf den Schultern. Eine Gruppe Läuferinnen mit scharfen Gesichtszügen, kein Tropfen Schweiß auf ihrer Stirn. Mountainbiker mit Motocrosshelmen. Schwitzende Alte, nörgelnde Kinder. Hinter den Hügeln eine Rauchschwade, die vom Abendlicht in Gold und Rot getaucht ist. Gelegentlich machen wir ein Foto. Als würde der Rauch aus unseren Köpfen steigen. Hin und wieder sehen wir Leute mit Gas- und Atemschutzmasken. Die Luft riecht anders als erwartet. Nicht nach Schwefel, nach Lagerfeuer. Außer FFP2-Masken haben wir nichts, um uns zu schützen. Als der Nebel dichter wird, beginnen einige Leute zu husten. Ich spüre es vor allem in den Augen. Sie brennen und tränen. Doch dann lichtet es sich wieder. Ein Bergungsfahrzeug kommt uns entgegen. Ich schieße ein Foto, schicke es an etwa fünf Leute. Man sieht den Rauch im Hintergrund aufsteigen. Ein Gefühl sagt mir, dass es das erste gute Bild ist, dass ich seit unserer Anreise aufgenommen habe. Hanna hat sich abgesetzt. Gelegentlich drehe ich mich nach ihr um. Etwas trägt meine Füße, sie kommen mir leichter vor als sonst. Um 11:36 Uhr nehme ich ein Foto von meiner Armbanduhr auf, den bunten Rauch im Hintergrund. Die Sonne wird gleich verschwunden sein; doch hell wird es bleiben und in ein paar Stunden wird sie wieder da sein.
Um 11:59 Uhr erreichen wir eine Barriere. Hier stehen Bergungsfahrzeuge unterschiedlicher Größen mit eingeschalteten Warnleuchten. Einsatzkräfte unterhalten sich, trinken Kaffee. Sie lassen uns durch. Silbermoos zu unseren Seiten. Rauch am Horizont. Als wir den Punkt erreichen, sehen wir einen Krater in weiter Ferne. Er spuckt Lava. Genaueres erkennen wir nicht. Ein leuchtender Fluss entspringt ihm. Eine Linie aus Rauch trennt den schwarzen Westen vom silbernen Osten, auf dessen Pfaden wir gehen. Ein Kriechbrand, der das Moos verzehrt.
„Dass man das alles sieht, hätte ich nicht gedacht“, sage ich.
„Jetzt können wir wirklich sterben“, erwidert Hanna.
Ich hopse, um Energie loszuwerden. Die nächstbeste Person macht Fotos von uns. Wir sind nicht wählerisch, wir sind hier. Darum geht es. Nicht primär um das Foto. Ich renne vor, wieder zurück. Auf einem Hügel sitzen Leute. Wir sehen ihre Silhouetten. Sie fotografieren, essen, beobachten den Krater, der jetzt so groß ist wie der Daumen meiner ausgestreckten Hand.
„Lass uns auch was essen“, sagt Hanna.
„Ja“, sage ich. „Lass uns was essen.“
Neben uns baut eine Frau ihr Stativ auf. Ein Mann räumt seinen Platz und wir füllen die Lücke. Hier sitzen wir am höchsten Punkt, sehen den Krater ganz deutlich. Als ich mein Crispy Chicken in die Barbequesauce dippe, tue ich, als würde ich es im Vulkan versenken. Scharf und vollkommen schmeckt es; nur im Abgang erinnert es an Hühnchen.
„Dort verläuft der Lavastrom“, sagt Hanna und deutet mit einem Knochen vom Krater zum Ende des glimmenden Streifens. Der Qualm, der sich über dem Lavafluss erhebt, ist rosa gefärbt. Drohnen summen in der Luft.
„Wenn du hier so ein Teil hast, bist du glücklich“, sage ich.
„Meinst du, wir kommen noch näher ran?“, fragt Hanna.
„Vielleicht. Dort hinten sind jedenfalls Leute.“
„Aber an der Linie ist Schluss, oder?“
„Klar“, sage ich. „Da brennt es ja.“
Mit Steinen im Magen laufen wir zur rauchenden Linie. Menschen mit Profikameras knien und liegen im Moos. Ständig fragt jemand, ob wir ein Foto machen können. Immer näher kommen wir dem Krater. So groß wie meine Faust ist er jetzt. Ich sehe, wie er flüssiges Gestein nach oben schleudert.
„Da sind Leute“, sage ich und zeige auf den schwarzen Bereich hinterm Rauch.
„Die sind ja verrückt“, murmelt Hanna.
„Ich geh’ da jetzt auch hin“, sage ich. „Du kannst gerne hier bleiben.“
„Mach das nicht.“
„Doch.“ Ohne zu warten, gehe ich auf die Linie zu. Dort glimmt das Silbermoos. Es stinkt nach Feuer. Ich setze meine Maske auf, trete durch den Qualm wie durch einen Vorhang. Den Vergleich versuche ich mir einzuprägen. Schon zehn Meter dahinter ist die Luft halbwegs klar. Ich winke Hanna, sie soll kommen; doch sie kreuzt die Arme vor ihrem Gesicht. Also drehe ich mich um und laufe weiter, durch den nächsten Vorhang aus Qualm. Dahinter sehe ich Leute. Also bin ich nicht allein. Der Krater ist nun so groß wie mein Arm. Jetzt kann ich die Lava vom schwarzen Geröll perlen sehen, die glühenden Fetzen, die er über sich wirft. Ich höre sein Grollen, spüre die Erde unter mir beben. Angst habe ich nicht, es ist Ehrfurcht. Immer näher komme ich, fühle den Sog. Nicht mal besonders warm ist es. Etwa sechzig Meter bis zum Vulkan. Ein Mann mit Fotostativ ruft einer Frau Regieanweisungen zu. In einem weißen Kleid steht sie dort auf einer Erhebung aus Tuff. Sie räkelt sich, während der Vulkan glühendes Gestein in die Höhe und auf den Kraterrand spuckt.
„Alright. Now, try something else“, ruft er ihr zu.
Ich mache ein Foto von ihnen. Es fühlt sich an wie das zweite gute Bild, dass ich auf dieser Reise aufnehme. Als ich mich umdrehe, sehe ich Hanna auf mich zurennen. Sie schaut ernst.
„Du hast dich getraut“, sage ich.
„Ich weiß.“
Sie geht vorweg. Unerschrocken.
Wir nähern uns dem Vulkan nun auf dreißig Meter. Es ist 01:06 Uhr. Die Luft hat eine Temperatur von etwa 18°. Ich trage eine Mütze, eine Regenjacke. Hier bleibt Hanna stehen. Einige Leute sitzen in der Nähe.
„Geh’ nicht weiter“, sagt Hanna.
„Doch“, sage ich.
Der Tuff knirscht unter meinen Füßen. Vor dem Krater hat sich ein Wall aus schwarzen Gesteinsblöcken gebildet. Ich klettere hinauf. Springe von Vorsprung zu Vorsprung.
„Pass bitte auf!“, höre ich Hanna rufen.
Vor mir donnert der Vulkan. Die Fetzen haben die Form von Gestalten, die aus dem Krater springen, eine Pose machen und wieder hineinfallen. Als hätten sie Spaß dabei. Ich trete näher, rieche das Feuer. Näher und näher. Ein letztes Foto will ich machen.