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Nahe der Stromlinie

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10.09.2016
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Nahe der Stromlinie

Es ist mitten in der Nacht, als ein Erdbeben der Stufe 4,5 die isländische Halbinsel Reykjanes erschüttert. Wir liegen in unserem Zelt und schlafen. Bis zum nächsten Morgen.
„Didn't you really notice that?“, fragt die Inhaberin des Campingplatzes, als wir in ihrem kleinen Café ein paar Waffeln und Kaffee bestellen.
Sie lacht. „I mean did you seriously oversleep that?“
„I think so“, sage ich, grinse. Hanna scheint es peinlich zu sein. Sie steht etwas abseits, tut, als gehörte sie nicht zum Gespräch. Eine klasse Strategie, denke ich.
„And the volcano?“, frage ich.
„So far, nothing. Do you want some jam on the waffles?“
„Yes, gladly.“
„Milk in the coffee?“
„Definitely not.“
Wir setzen uns an einen der Holztische vors Café. Wind treibt die Küstenseeschwalben weg von ihren Nestern, die sie im hohen Gras verstecken; nun hängen sie in der Luft, als wären sie dort befestigt; bis eine Böe sie doch aus dem Gleichgewicht bringt.
Die Waffeln, die wir bekommen, schmecken selbstgemacht, was keine Auszeichnung ist. Mit geschlossenen Augen versuche ich mir vorzustellen, dass die Marmelade ebenso aus eigener Produktion ist – doch Erdbeeren habe ich hier bislang nirgends gesehen. Wir zahlen kontaktlos, so tut der Preis weniger weh. Um dem Wind zu entkommen, setzen wir uns in den Duster. Auf Google Maps recherchieren wir ‚Sehenswürdigkeiten‘, filtern nach positiven Bewertungen. Dann sind wir wieder on the road. Das Bluetooth des Autos funktioniert nicht, also bitte ich Hanna den Song ‚Hyperballad‘ von Björk über das Handy abzuspielen. Schnell einigen wir uns darauf, es doch lieber sein zu lassen. Ich habe Björks Musik nie als kitschig empfunden, doch ausgerechnet hier kommt sie mir unerträglich vor. Wir schweigen, fahren, genießen die Ruhe, die leere Straße, das Panorama aus Vulkanen und erstarrter Lava. Dann fliederfarbene Wiesen, im Hintergrund verblauende Bergketten.
„Alaska-Lupine“, liest Hanna von ihrem Handy ab. Sie hat die Angewohnheit, jede Pflanze und Vogelart mit der zugehörigen App zu bestimmen. „Invasiv“, fügt sie hinzu.
„Mmh“, sage ich.
„Nicht interessant?“
„Doch, doch. Ziemlich.“
„Ich frag’ dich irgendwann ab. Also merk’s dir.“
„Alaska-Lupine“, sage ich. „Alaska-Lupine, Alaska-Lupine.“
Kurz vor Selfoss in der Gemeinde Hveragerði fahren wir von der Mainroad ab, wollen ein paar Dinge im ‚Bonus‘ besorgen. Den Supermarkt erkennt man an seinem Markenzeichen, einem lächelnden, pinken Schwein. Immer wenn ich es auf Einkaufstüten, Produkten oder Reklametafeln sehe, bringt es mich zum Schmunzeln. Das Bonus-Schwein hat sich in mein Herz gegraben, wie man so schön sagt. Auf der Einkaufsliste stehen folgende Dinge: Thunfisch, Tomatendose, Nudeln, Frühstück, Kondensmilch. Die Kondensmilch ist eine Angewohnheit von Hanna und mir. Wir trinken sie pur.
Zurück im Duster stellen wir Hypothesen auf über die ungesunde Gesichtsfarbe der Isländer und Isländerinnen, die uns bislang begegnet sind. Liegt es am dunklen Winter, den teuren Früchten, unserer Einbildung? Am Parkplatz am Rand von Hveragerði halten wir. Wir ziehen uns Wanderschuhe an, Jacken über, packen Proviant und Schwimmsachen ein – hier soll es einen heißen Fluss geben und den wollen wir sehen. Immerhin hat er 4,6 Sterne auf Google Maps. Eine Rezension lautet „It's simply beautiful. The scenery is magnificent, and the water has the perfect temperature. You definitely shouldn't miss this!“ Die Parkgebühr ignorieren wir, laufen die ersten Kilometer.
„Besser als die Eifel ist das nicht“, konstatiere ich und fühle mich schlecht, das Offensichtliche ausgesprochen zu haben.
Endlich sehen wir Löcher, aus denen Dampf aufsteigt. Wir laufen hin, schießen Fotos. Eine anthrazitfarbene Flüssigkeit blubbert. Wie kochende Farbe. Schwefelgeruch. Ich bitte Hanna, ein Foto von mir zu machen, schaue mir das Bild an, zeige ihr, aus welchem Winkel sie fotografieren soll. Das Blubbern muss zu sehen sein. Am besten der Moment, in dem die Blase platzt. Aus anderen Löchern klingt es wie aus unterirdischen Wasserkochern. Ich notiere mir den Vergleich für den Fall, dass ich später einen Bericht darüber schreibe. Eine Familie stößt zu uns. Wir bitten sie, ein Pärchenfoto zu machen, zeigen ihnen den richtigen Winkel. „Thanks, mate“, bedanke ich mich. Dann machen wir Fotos von ihnen. Zum Schluss verabschieden wir uns freundschaftlich.
Tatsächlich wird die Landschaft hier immer ansehnlicher. Gehörnte Schafe auf saftig grünen Ebenen zwischen Bergen, die ein schwefeliger, graublauer Fluss durchzieht. An seiner Quelle baden Besucher. Niemand hier lässt seinen Müll liegen. Die Kleidung wird ordentlich auf dafür bereitgestellten Holzplateaus abgelegt. Sich hier nicht biblisch zu entkleiden, fühlt sich falsch an. Trotzdem trage ich Badeshorts, Hanna Bikini. Das Wasser ist, wie in der Rezension beschrieben. Ebenso die Landschaft. Alles wirkt ziemlich magnificent. Eine Frau fragt auf Deutsch, ob sie Fotos von uns machen soll; selbstverständlich revanchieren wir uns. Später bietet sie uns sogar ihren Platz an. Dort ist es noch etwas wärmer. Den Kopf an einen Stein gelehnt schaue ich in den wolkenlosen Himmel.
„Besser als die Harz-Therme“, sagt Hanna.
„Oh Gott, der Harz“, sage ich.
„Ja, wirklich“, bestätigt Hanna.
Als wir aus dem Wasser kommen, dampfen unsere Körper nicht. Zu mild ist der Juli.
„Wenn uns jemand fragt, weshalb wir nach Island sind, sagen wir einfach, dass wir mal wieder neue Fotos brauchten“, meint Hanna.
Ich lache. „Ja, da ist was dran.“
Beseelt und rotwangig kehren wir nach einer Stunde zum Parkplatz zurück.
„Fünfzehn Euro für drei Stunden.“ Ich schüttele den Kopf. „Eine Unverschämtheit.“
Zum Glück lächelt mich in diesem Moment das Bonus-Schwein einer fremden Einkaufstüte an, lässt mich meinen Unmut vergessen. Wie niedlich es ist, so dick und glücklich.
Da wir noch Zeit vom Tag übrig haben, besuchen wir zwei Wasserfälle und einen Geysir. Schön ist die Landschaft schon. Allein heute habe ich über zweihundert Fotos geschossen. Manchmal frage ich mich, was eigentlich damit passieren soll, wer sie sich ansehen wird, was von alledem bleibt.
Hanna sucht einen Campingplatz bei Selfoss raus. Die Bewertungen sind okay, etwas Besseres scheint es in der Gegend nicht zu geben. Nachdem wir das Zelt aufgebaut haben, setzen wir uns in den Gemeinschaftsraum. Dort essen wir Nudeln mit Thunfisch-Tomatensoße, laden die Powerbank auf. Zum Nachtisch gibt es je eine Tassenportion Kondensmilch. Morgen wollen wir den Duster stehenlassen, mit einem Offroad-Bus nach Landmannalauga ins Landesinnere reisen. Die Tickets sind bezahlt. Heiße Quellen, bunte Berge, ein erloschenes Lavafeld. Das kostet zweihundert Euro. Nur die Bustickets. Während Hanna duscht, sichte ich die Bilder des Tages. Ich entscheide mich für ein Foto von Hanna, mir und dem Schwefelloch. Aus der Perspektive sieht es aus, als würde die Blase direkt über unseren Köpfen zerplatzen.
An sieben Leute sende ich das Foto, dazu eine Nachricht. ‚Tolle‘, nein, ‚Großartige Landschaft‘. Ich lösche alles, formuliere neu. ‚Bisher top‘, nein. ‚Es geht uns top …‘ Ja, das ist es, ‚Es geht uns top …‘. Erledigt. Um mich zu belohnen, öffne ich die Nachrichten-App. Zuerst die Wettervorhersage, dann die Schlagzeilen. Erdoğan steht Schwedens Nato-Beitritt nicht mehr im Weg. Etwas Gutes. Tarifverhandlungen. Als ich weiter durch die Schlagzeilen scrolle, entdecke ich es. Wie eine Nebensächlichkeit wird es hier verkauft. „Vulkan auf Island ausgebrochen“ – und das schon vor ein paar Stunden. Ein fünfhundert Meter langer Riss, der durch die Erde geht. Bilder von Lava und Asche. Mit versteinertem Gesich überfliege ich die Zeilen. Zweihundert Euro für Bustickets am Arsch.
„Er ist ausgebrochen“, murmle ich, als Hanna von den Duschen kommt. Sie bleibt stehen. Der Frotteeturban auf ihrem Kopf kippt, doch mit der Hand hält sie ihn auf.
„Aber nicht mehr heute.“
„Doch“, sage ich. „Er ist ja nicht erst morgen ausgebrochen.“
„Aber wir gehen da heute nicht mehr hin.“
„Wieso?“
Hanna zeigt auf ihre imaginäre Armbanduhr. „Morgen.“
„Morgen ist sicher alles gesperrt“, sage ich.
„Dann ist es besser so.“
Ich kenne diesen Moment, weiß, dass die Diskussion hier strandet.
„Außerdem: was ist mit Landmannalauga?“
„Wegen der zweihundert Euro?“, frage ich.
Hanna verdreht die Augen. „Ist doch übereilt.“
„Nein, Hanna, das ist eine Gelegenheit. Da muss man handeln.“
„Wir gehen da heute jedenfalls nicht mehr hin“, sagt sie. „Fertig.“
Beleidigt klaube ich das Geschirr zusammen, gehe abwaschen.
Später im Zelt vertragen wir uns wieder. Ich gebe ihr ein-, zweimal recht, Hanna gesteht ein, dass auch sie nichts verpassen will.
„Nach Landmannalauga fahren wir sofort hin“, verspricht sie.
„Und wenn alles dicht ist?“
„Na, dann soll es einfach nicht sein.“
„Dann soll es nicht sein“, wiederhole ich und wiederhole es noch ein paar Mal leiser und leiser, bis ich einschlafe.

„Ich habe nicht vom Vulkan geträumt, du?“, frage ich.
„Nein. Nur von Amanda.“
„Wer ist noch mal Amanda?“
„Die Oberärztin.“
„Ach so“, sage ich. „Ist doch ein gutes Zeichen. Vielleicht ist der Vulkan doch nicht so wichtig.“
„Vielleicht“, sagt Hanna.
„Ich habe auch nicht gelesen, dass er gesperrt wäre oder so.“
„Also haben wir alles richtig gemacht?“
„Richtig.“
Das Kaffeepulver in unseren Bechern gieße ich mit heißem Wasser auf. Schon die ersten Schlucke stabilisieren; lassen mich wieder empfinden, dass wir uns nicht auf einem Campingplatz, sondern auf einem Campingplatz in Island befinden. Jetzt habe ich wieder Lust. Wir essen ‚Havrefras‘ mit Milch.
„Ist das nicht lustig, dass dieses Zeug Haferfraß heißt?“, frage ich.
„Nicht wirklich lustig“, erwidert Hanna kauend.
Still löffeln wir den Havrefras. Hinterher gieße ich mir noch etwas Milch nach.
Als wir fertig sind, packen wir das Nötigste zusammen, laufen zur Bushaltestelle. Dort wartet bereits eine Touristin. Aufgrund ihrer Lowa-Schuhe vermute ich Deutschsprachigkeit. In Kürze erfahren wir, dass sie aus Schleswig-Holstein kommt, auf einer Farm mit Islandponys arbeiten will, Dänisch spricht, glaubt, dass es schön sein wird in Landmannalauga, dass Island teuer ist. Ich bekomme Angst, dass sie sich an uns kletten will. Da spreche ich aus Erfahrung. Ich weiß, wie es ist, allein zu reisen. Jede Gesellschaft ist einem recht. Nur habe ich persönlich keine Lust, ihr diese Gesellschaft zu sein.
„Na ja, wir werden uns sicher in Landmannalauga über den Weg laufen“, sage ich.
Zum Glück fährt in diesem Moment der Bus ein. Er ist kleiner als erwartet. Aber das ist okay. Wir zeigen unsere Tickets vor, verstauen die Rucksäcke, steigen ein. Die anderen Touristen, die wohl aus Reykjavik kommen, mustern uns; freie Sitzwahl gibt es nicht. Das passt mir; so kann ich Nachrichten schreiben, Bilder versenden. Hanna wird abwechselnd staunen, über das Panorama und über die Pflanzen, die sie im Vorbeifahren bestimmt, und sie wird gedanklich im Krankenhaus sein, in dem sie in zwei Wochen wieder steht, Blut abnimmt, zu den mitunter rassistischen Bemerkungen der Oberärztin schweigt, darum kämpfen muss, überhaupt etwas lernen zu dürfen – kurz vor der Anreise hat sie zum ersten Mal eine Pleurapunktion durchführen können; über ihren Urlaub war auf der Station selbstverständlich keiner begeistert. Sie wird versuchen, ihre Gedanken beiseitezuschieben, doch unbewusst werden sie bleiben, an der Oberfläche kratzen, sie schließlich doch wieder heimsuchen. Der Wagen rollt. Rollt die Straße von Selfoss entlang, hinaus in eine Landschaft aus erstarrtem Tuff, Wiesen mit Hahnenfuß, Wollgras und Alaska-Lupinen, verblauenden Vulkanen im Hintergrund, Küstenseeschwalben, Bekassinen und Trauerschnäppern. Noch einmal halten wir, dann verlassen wir die Mainroad.
Nach anderthalb Stunden wache ich auf; jemand tippt mir gegen die Schulter. Vor uns kommt ein Bus nicht weiter; wir müssen aussteigen. Seitlich der Straße filmen Touristen das Spektakel. Alle wirken zufrieden. Als der Busfahrer den Wagen endlich mit einem Manöver befreit, applaudieren sie. Auch ich klatsche zum Spaß. Inzwischen ist auf der Anhöhe ein Bergungsfahrzeug erschienen. Ein Toyota, dessen Reifen an die eines Traktors erinnern. Seine Hilfe wird nicht mehr benötigt. Doch ein Foto ist mir der Wagen wert. Ich schieße es aus der Froschperspektive, so wirkt er größer. Andere folgen meinem Beispiel. Dann geht die Fahrt weiter; durch Canyons, die wie schlecht designte Computerspiele anmuten. Keine Bäume, nur perfekte, mit einer dünnen Schicht silbernem Moos überzogene Berge, hin und wieder ein mäandernder Fluss. Als wir durch eine metertiefe Furt fahren, das Wasser an den Seiten hochspritzt, habe ich die zweihundert Euro vergessen. Vor uns im Schatten eines Lavafeldes liegt ein Basecamp: einfache Hütten, ein Parkplatz, Zelte. Wir sind da. In Landmannalauga.
„Wie war die Fahrt?“, fragt die namenlose Frau aus Schleswig-Holstein. Ohne zu antworten, ziehe ich meinen Rucksack und dann den von Hanna aus dem Kofferraum des Busses. Als ich etwas sagen will, hat Hanna schon die Initiative ergriffen. Also erkundige ich mich beim Busfahrer, wo es hier Kaffee zu kaufen gibt. Er zeigt auf einen liebevoll umgebauten Schulbus, in dem ein LED-Schild blinkt – ‚open‘. Ohne einen Fuß hineingesetzt zu haben, weiß ich, dass der Kaffee dort neun Euro kostet.
„Habt ihr mitbekommen, dass der Weg frei ist?“, fragt die Frau aus Schleswig-Holstein.
„Wie bitte?“
„Hier“, sie hält mir ihr Smartphone hin.
Ein Blog-Artikel, das Datum stimmt. Der Titel: ‚Fagradalsfjall: Zugang wieder offen‘. Ich erspare mir die Lektüre, nehme an, dass sie den Text gelesen hat.
„Das ist unglaublich“, sage ich.
„Wollt ihr da etwa auch hin?“, fragt sie.
Ich nicke. Meine Haltung ihr gegenüber hat sich schlagartig verändert. Ohne sie hätten wir die Neuigkeit nicht erfahren, wenngleich wohl früher oder später von anderer Stelle. Dennoch empfinde ich so etwas wie Dankbarkeit.
Hanna räuspert sich. „Unsere Rückfahrt ist morgen.“
„Heute würde aber noch ein Bus fahren“, sage ich.
„Nach dieser Tour?“, fragt die Schleswig-Holsteinerin.
„Ein Glück“, sagt Hanna. „Es gibt noch normale Menschen.“
„Letztes Jahr konnte man den Vulkan ein halbes Jahr lang sehen. Kein Grund zur Eile.“
„Wenn das so ist“, sage ich. Tatsächlich beruhigt mich das.
Diesmal verabschiedet sie sich von uns. Nicht mal eine vage Verabredung. Nur ein unverbindliches ‚Viel Spaß‘. Kurz frage ich mich, ob sie nicht doch eine gute Ergänzung unseres Zweiergespanns gewesen wäre.
„Die war ganz okay“, sage ich.
„Ja“, sagt Hanna.
Wieder allein machen wir uns auf die Suche nach der Rezeption. Wie überall, können wir auch hier kontaktlos zahlen. Eine Frau mit Landmannalauga-Pulli fragt uns, wie lange wir wandern wollen, zeigt uns die gängigen Routen auf einer Umgebungskarte.
„My personal favorite tour is this one.“ Mit einem Bleistift setzt sie ein Kreuz in die Karte. „It's usually a bit less crowded.“ Unweigerlich denke ich an die Schuhgeschäfte, in denen das Personal ausgerechnet immer die Schuhe, die man gerade anprobiert, selbst zu Hause hat. Zumeist sind es auch zufällig ihre Lieblingsschuhe. Bei mir zieht dieser Trick.
Ich greife nach der Karte, doch die Frau hält ihre Hand darauf. Noch einmal piept das Kartenlesegerät; dann gehen wir, sollen uns einen Zeltplatz aussuchen.
Der Wind ist hart, der Boden fest. Einen Hering bekommen wir nicht in die Erde. Wir legen Steine auf die Leinen. Es ist 16:43 Uhr als wir gehbereit sind. Aus der Vorratstüte, die das Bonus-Schwein zeigt, nehmen wir uns je einen Müsli-Riegel. Sie schmecken nach Himbeerjoghurt. Zweihundert Kilometer entfernt schießen Lavafontänen in die Höhe, schreiben Mutige Geschichte. Doch wir hängen rum. In Islands schönster Berglandschaft hängen wir rum.
„Na, dann los“, sage ich.
Hinter der Rezeption startet der Laugavegur, der Weg der heißen Quellen. Eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen ist vor uns, der Pfad schmal. Wir trotten hinter ihnen her, hören ihre enthusiastischen Gespräche in American English. In einer Biegung überholen wir sie. Ringsum erstarrte Lava, Auftürmungen, Splitter, eingebettet in einen Fluss aus schwarzem Gestein. Über einen Kilometer lang folgen wir seinem Ursprung. Aus dem Nichts muss er entstanden sein. Dahinter eine grüne Weite, Wollgras wie Wattetupfer verstreut. Ich notiere den Vergleich. Die Felsen hier haben grünes, oranges, rotes, sogar blaues Gestein. Manchmal alles zugleich. Hinterm Grün ein verzweigtes Adergeflecht, ein Fluss, dessen Furchen aus dem Boden zu brechen scheinen. Eine kalte Sonne blitzt darin. Ein ferner Wasserfall. Unecht, virtuell, aber schlampig designt. Kein Baum, kein Busch. Nur Wiese, Fels und Wasser. Wir wollen sie fotografieren. Bild für Bild. Doch die Farben stimmen nicht. Die Augen geben sie anders wieder. Ich drehe am Filter; nichts. Wir werden diese Bilder niemandem zeigen können.
„Das ist lächerlich schön“, sage ich.
„Wie heißt diese Pflanze?“, fragt Hanna und zeigt auf die Wattebäusche.
„Wollgras“, sage ich. „Das ist Wollgras.“
Im Laufen denke ich darüber nach. Ist das wirklich ‚Wollgras‘? Ich meine, ‚Wollgras‘ ist doch nur ein Begriff. Was also ist das? Der Gedanke macht mir Angst.
„Ist dir aufgefallen, dass wir völlig allein sind?“, fragt Hanna.
Ich schaue mich um; sie hat recht.
„Das ist nicht gut“, sage ich.
„Was?“
„Ach, nichts.“
Das Aderwerk aus schlängelnden Flüssen besteht aus meterbreiten Hindernissen, wenn man erst davor steht. Mit Steinen, die wir ins Wasser werfen, behelfen wir uns, schaffen Furten. Die Füße werden trotzdem nass.
„Nicht gut imprägniert“, sagt Hanna.
Ich merke, dass ihr etwas Sorgen bereitet. Vielleicht ist es, dass etwas am Plan nicht stimmt und wir nicht wissen, was. Ein kleiner Fehler, der sich eingeschlichen hat.
„Es geht mir nicht gut“, sagt sie.
„Sollen wir zurück?“
„Nein.“
„Aber wenn es dir nicht gut geht.“
Sie läuft schneller, hält sich eine Hand vor den Bauch; ich kann ihr Gesicht nicht sehen.
Der Weg führt am Wasserfall entlang. Je näher ich komme, desto lauter das Plätschern. Wasser, das auf Wasser schlägt. Es gluckst, ich meine eine Frequenz zu hören. Etwas Harmonisches. Ein leises Summen. Ich schaue ins aufgewühlte Wasser. Sollte hier tatsächlich jemand sitzen und singen? Doch es ist nur der Wasserfall, das Schäumen und dumpfe Trommeln. So müssen die Geschichten von Feen und Nixen entstanden sein. Ihr Gesang hat etwas Lockendes, zugleich Ängstigendes, Böses. Wie der Anblick eines Schwarzen Lochs. Ich notiere den Vergleich.
Stumm erklimmen wir den Trichter. Ein schmaler Pfad. An jeder Biegung ändert sich der Blick auf die Landschaft. Erst erinnert der Hang an eine Wüste, dann an einen roten Canyon, wieder sehen wir das grüne Tal, das Netz silbriger Furchen, die irgendwo dem Berg entspringen. Hanna bleibt stehen.
„Ist es besser?“, frage ich.
Sie nickt, holt ihr Handy raus, um ein Foto zu machen.
Auch ich bringe mich in Position.
„Ich hab’ noch eine Ibu“, sage ich.
„Schon okay. Nur eine Kolik.“
Wir fotografieren und entspannen. Von hier aus kann man sehen, wie die Lava einst als zäher Fluss über das Tal gerollt sein muss.
„Selbstauslöser?“, fragt Hanna.
„Klar“, sage ich.
Fünf Minuten lang nestelt Hanna am Rucksack herum, bis das Handy drapiert ist und den richtigen Ausschnitt zeigt. Wir nehmen zwei Anläufe.
„Jetzt mal richtig grinsen“, sage ich. „So übertrieben.“
Wir grinsen heftig. Machen noch ein Foto zur Sicherheit.
„Das mit dem Grinsen ist nicht schlecht“, sagt Hanna. „Sieht fast natürlich aus.“
„Aber die Berge kommen nicht rüber. Ich glaube, da bräuchte man ein Teleobjektiv.“
„Stimmt“, sagt Hanna. „Das wirkt alles so klein.“
„Ist verrückt, wie groß das ist, oder?“, frage ich.
„Ja, verrückt.“
Was die Fotos angeht, sind wir für ein paar hundert Meter gesättigt. Als wir eine der Bergzinnen erklettern, nehme ich ein Panoramabild auf. Hier geht es wieder talwärts. Noch eine Stunde, berechne ich grob. Eine Gratwanderung zwischen Betten aus Silbermoos führt uns in eine blutrote Schlucht. Ohne nachzudenken, werfe ich mich ins Moos. Es federt den Sturz wie eine Matratze.
„Invasiv“, sagt Hanna.
„Das Moos?“, frage ich.
Hanna nickt, macht ein Bild von mir.
Auf der anderen Seite der Schlucht liegt ein See mit grüner Insel.
„Bildschirmschoner“, bemerke ich.
Hanna nickt. „Wollen wir dann?“
„Klar, lass uns ins Camp gehen.“
Wir verlassen den Ort, ohne ein Foto gemacht zu haben. Vielleicht sind wir müde, vielleicht haben wir es einfach vergessen. Der letzte Kilometer zehrt. Endlich stoßen wir auf die Piste. Ein Jeep fährt vorbei, wirbelt Staub auf. Das Camp liegt vor uns. Dahinter das namengebende Bad. Landmannalauga, die heiße Quelle der Landmänner. Schnell holen wir die Badesachen aus dem Zelt, folgen dem Holzsteg. Etwa dreißig Menschen hocken dort zusammen. Wir gesellen uns zu ihnen; sie trinken Leichtbier aus goldenen Dosen. Das Wasser hat vielleicht 44°. Je nachdem, wo man liegt. Eine gute Gelegenheit verschafft uns einen Platz in Quellennähe. Wir genießen es. Die Abendsonne lässt den Fels Schatten zeichnen. Kleine Strukturen, die Kontrast geben. Der Blick entgleitet, die Lider schließen sich.
„Ist es okay, wenn ich das Handy hole?“, fragt Hanna.
„Klar“, antworte ich, ohne die Augen zu öffnen. Ich höre sie aus dem Wasser gleiten, fühle den kühlen Wind auf der Haut. Bis sie wiederkommt, lausche ich fremden Gesprächen.
Das Handy fest im Griff machen wir ein Selfie und noch eins zur Sicherheit.
Tief entspannt kommen wir aus dem Wasser. Nicht einmal aussprechen müssen wir das. Schweigsam bereiten wir unser Abendessen zu. Nudeln mit Thunfisch-Tomatensoße. Zum Nachtisch je eine Tassenportion Kondensmilch. In dieser Nacht schlafen wir fest, während draußen der Wind pfeift.

„Where can you get the best view of Brennisteinsalda?“, frage ich die Frau im Rezeptionshäuschen. „I mean, from where can you see it entirely?“
Sie überlegt, nimmt ihren Bleistift. Ich schiebe ihr unsere Karte unter.
„I think you get a good view from the main route. But you could also take this path.“ Sie setzt ein Kreuz.
„Thanks a bunch. You know, I'm quite fascinated by this rock“, sage ich und lächle.
„Ah, really?“
„Yeah, it's quite beautiful.“
Ich deute eine Verbeugung an, immerhin war diese Information gratis. Wir gehen. Bis 15:30 Uhr haben wir Zeit. Dann fährt der Bus. Wenn alles gut läuft, werden wir direkt weiterfahren. Vielleicht werden wir noch heute sehen, was immer es dort zu sehen gibt. Doch zunächst werden wir noch einmal mit diesem Lavafeld vorliebnehmen. Da ich es von oben gesehen habe, weiß ich, dass es wie ein Labyrinth aufgebaut ist. Das Bild zeichnet sich auf der Netzhaut ab. Schon jetzt ist mir die Landschaft vertrauter. Ich sehe sie anders. Fotos machen wir diesmal keine. Dort, wo die Lava aufs Tal trifft, laufen wir südwärts. Am Aufstieg zum Brennisteinsalda, dem bunten Berg, dringen Dämpfe aus den Felsritzen. Wie aus einem undichten Maschinenkessel, denke ich, notiere den Vergleich. Schwefelgeruch. Verfärbungen an den Austrittslöchern. Als wir den Fotospot erreichen, bricht der Himmel auf, bringt die Farben des Berges zum Leuchten.
„Perfekt“, sage ich und suche den Ausschnitt.
Ein Mann mit rundem Hut nimmt ein Pärchenbild von uns auf.
„Make sure Brennisteinsalda is fully captured in the picture. You can cut off our legs“, bitte ich den Mann.
Er zeigt uns das Foto, wir sind zufrieden.
„Could you also take a picture of me, please?“, fragt er. „You can also cut off my legs.“
„With pleasure!“
Während wir den Berg besteigen, ist er nicht vollständig sichtbar. Das ist logisch, kommt mir in diesem Moment aber paradox vor. Also überlege ich, wie es wäre, den Blick vom Körper zu lösen. Eine Drohne oben, vorne, hinten. Ich könnte die Perspektive wechseln wie in einem Computerspiel. Aber ob das mit der Steuerung gehen würde? Auf dem Gipfel sitzt eine alte Frau in bunten Sportleggings. Sie verschnauft. Als wir vorbeigehen, schaut sie uns zerknirscht an; wir nicken ihr zu. An einem Platz mit Talblick trinken wir jeweils eine Tassenportion Kondensmilch und nagen an ein paar Himbeerriegeln.
„Das ist es doch“, sage ich.
„Was?“, fragt Hanna.
„Na, das hier.“ Ich mache eine ausschweifende Bewegung. „Jetzt können wir quasi sterben.“
„Ist das dein Ernst?“
„Nein. Aber das sagt man so.“
„Hab’ ich noch nie gehört“, sagt Hanna.
„Na, dann hab ich’s nicht so gemeint.“
Die Plastikverpackungen stecken wir in die Hosentaschen. Vor uns liegt der Abstieg. 12:19 Uhr. Es kostet uns nichts; wir sind fit. Bereits gegen halb zwei sind wir wieder im Camp. Zeit, um noch einmal umsonst ins heiße Wasser zu gehen. Auf dem Steg kommt uns die Schleswig-Holsteinerin entgegen. Ich hatte sie bereits vergessen.
„Wie war’s bei dir?“, fragt Hanna.
Wir erfahren, dass sie einen anderen Weg genommen hat. Weder den Brennisteinsalda noch das saftige Tal scheint sie gesehen zu haben.
„Sagt mal, wolltet ihr nicht auch zum Vulkan?“
„Ja“, sage ich.
„Habt ihr zufällig ein Auto in Selfoss?“
„Klar“, sagt Hanna. Ich beiße die Zähne zusammen.
„Es ist sehr voll“, sage ich.
„Könntet ihr mich vielleicht mitnehmen? Ich meine, nur das Stück.“
„Selbstverständlich“, sagt Hanna.
„Toll. Dann sehen wir uns gleich am Bus?“
„So wird es sein“, sage ich.
Wir verabschieden uns.
„Warum hast du sie eingeladen?“, frage ich Hanna.
„Jetzt sei mal nicht so. Die ist doch nett.“
„Ja, nett“, sage ich.
Ich überhole Hanna, laufe voraus. Ist doch klar, wie das abläuft. Erst wird sie uns stundenlang irgendwelche Geschichten von Schleswig-Holstein erzählen und dann sollen wir sie zum Dank auch auf dem Rückweg mitnehmen. Hinterher bringen wir sie noch zur Ponyfarm und zum Schluss tauschen wir Nummern aus, die niemals angerufen werden. Ich kenne das. Aber meinetwegen. Das Wichtigste ist nur, dass wir heute noch den Vulkan sehen.
Das heiße Wasser beruhigt mich etwas.
„Du hast eigentlich recht“, sage ich.
„Na ja, aber ganz unrecht hast du auch nicht“, sagt Hanna.
Um den Bus nicht zu verpassen, gehen wir pünktlich aus dem Wasser. Zwanzig Minuten vor Abfahrt stehen wir bereit. Auch andere Deutsche sind da. Die Schleswig-Holsteinerin kommt zu uns. Da ich zufällig noch einige Nachrichten schreiben muss, unterhalten Hanna und sie sich. Ich stelle mich abseits. Nicht so weit, dass es unfreundlich wirkt, aber weit genug, damit ich ihrem Gespräch nicht folgen muss.
Diesmal haben Hanna und ich einen Platz nebeneinander. Die Schleswig-Holsteinerin sitzt weiter hinten.
Das ist nett von ihr, finde ich.
„Was habt ihr denn so beredet?“, frage ich.
„Dies und das“, sagt Hanna. „Sie ist schwanger.“
„Wie bitte?“
„Ja, sie überlegt, ob sie das tun soll mit dem Vulkan. Vielleicht fährt sie auch nach Reykjavik weiter.“
„Natürlich fährt sie mit uns“, sage ich. „Als ob sich jemand so etwas entgehen lässt.“
„Sie ist schwanger“, sagt Hanna.
„Ja, vielleicht hast du recht.“
„Aber vielleicht hast auch du recht“, sagt Hanna.
„Wer weiß.“
Während Hanna sich konzentriert, damit ihr nicht übel wird, macht mich die schunkelige, kurvenreiche Fahrt müde. Wie bei einem Säugling, der im Kinderwagen schaukelt. Ich schaffe es nicht, den Vergleich zu notieren; investiere meinen letzten Gedanken darauf, mich später noch einmal daran erinnern zu wollen.
„Aufwachen.“
„Sind wir da?“
Ich sehe eine Tankstelle, einen Kentucky Fried Chicken. Es ist Selfoss.
Erst als der Bus abgefahren ist, fällt mir auf, dass die Schleswig-Holsteinerin fehlt.
„Sie wollte nicht mit?“, frage ich.
„Wegen des Kindes.“
Ich nicke, finde es insgeheim schade. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht die Müdigkeit.
„Ich würde mich hinreißen lassen, noch beim KFC zu essen“, sagt Hanna.
Wir holen das Auto, berechnen den Fahrtweg. Vor neun werden wir nirgendwo sein und Hunger habe ich auch. Also fahre ich vor; sogar einen Drive-in gibt es hier. Als wir die Stadt verlassen, riecht das Auto nach Hühnerfleisch und Fritteuse. Wir haben so viel bestellt, dass noch etwas für die Wanderung übrig ist. Keine Kosten haben wir gescheut. Sogar einen extra Becher Mayonnaise und einen mit Barbecuesauce habe ich für umgerechnet etwa fünf Euro bekommen. Es ist der besondere Anlass. Man isst nur ein Mal am Vulkan. Jetzt fahren wir. Gelegentlich genehmige ich mir einen Schluck Pepsi. Doch immer schaue ich gewissenhaft auf die Fahrbahn. Neunzig Stundenkilometer sind erlaubt. Ich fahre im Schnitt dreiundneunzig.
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto mehr nimmt Hannas Abenteuerlust ab. Gelegentlich tunkt sie eine Pommes in die Mayo. Schweigsam ist sie geworden. Doch ich spreche es nicht an. Nicht, dass sie noch auf falsche Gedanken kommt, mich da reinzieht. Nein, ich lasse mir das nicht ausreden. Zur Not bringe ich sie eben zum Campingplatz. Soll sie dort den Gesang der Vögel bestimmen, während ich meine Pommes in den Vulkan tauche.
„Du willst kneifen“, sage ich, als ich es nicht mehr aushalte.
„Ich weiß einfach nicht, ob es sicher ist.“
„Was ist schon sicher, Hanna? Kein Abenteuer.“
„Ja, du hast recht.“
„Andererseits kann ich dich verstehen“, sage ich schnell.
„Aber du hast recht“, sagt Hanna.
„Aber ich kann dich auch verstehen.“
Seit einigen Kilometern folgen wir einem schwarzen Landcruiser.
„Da weißt du aber, wo der hin will“, sage ich.
„Meinst du?“
„Klar. Das wird mit etwas Glück unsere Wandergruppe. Ich wünschte, wir hätten doch die Schleswig-Holsteinerin dabei.“
„Glaubst du etwa, wir sind dort alleine?“, fragt Hanna. Ich meine, einen Bruch in ihrer Stimme zu hören.
„Ja, ich glaube leider, das ist so. Um die Uhrzeit ist da kein Schwein mehr.“
„Finde ich gruselig“, sagt Hanna.
„Wenn du willst, lasse ich dich beim Campingplatz raus. Du musst nur etwas sagen.“
Hanna schweigt. Die Digitalanzeige schaltet um, zeigt drei Nullen. 10:00 Uhr.
„Ist das Mut oder Unentschlossenheit?“, frage ich.
Der Landcruiser vor uns setzt seinen Blinker.
„Ich hab’s doch gewusst.“
„Dahinten sind Autos“, sagt Hanna. „Aber das ist nicht mal der Parkplatz.“
Im dritten Gang holpere ich durchs Gelände, schalte hoch, trete durch. Steine knirschen. Hinter der Biegung sehen wir es. Ein Parkplatz, der bis zum Horizont reicht. Hunderte Autos. Dicht an dicht gedrängt. Es wimmelt vor Menschen. Dazwischen Bergungsfahrzeuge, die abwechselnd blau und rot blinken. Ein Polizist winkt uns weiter, deutet auf den hinteren Bereich des Parkplatzes, den wir von hier aus nicht sehen können. Alte Frauen und Männer, Kinder mit ihren Eltern, Pärchen wie wir. Sie kommen uns entgegen.
„Bist du jetzt beruhigt?“, frage ich.
„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute hier sind. Ja, es beruhigt mich.“
Wo der Weg endet, erstreckt sich eine Wiese. Dort gibt es noch freie Plätze. Wir sehen einen Camper mit deutschem Kennzeichen. Ein Pärchen, das sich ihre Lowa-Schuhe schnürt. Ich meide ihre Blicke, lasse eine Parklücke zwischen uns und ihnen. Wir halten. In einem Zug trinke ich den Rest Pepsi aus, sauge am Strohhalm, bis er leer zieht.
„Jetzt freue ich mich“, sagt Hanna.
„Ich mich auch.“
In unsere Rucksäcke packen wir Burger, Hühnerfleisch und Pommes, Kondensmilch, Wasser und Blasenpflaster. Am Eingang des Treks spricht uns ein Mann in Warnweste an. Er fragt, ob wir genug zu trinken haben, die richtige Kleidung, etwas zu essen.
„Yes, we have some food with us“, sagt Hanna.
Er lässt uns passieren. Zum Glück gibt es hier keine wilden Tiere. Vermutlich riechen wir mehr nach Hühnchen, als wir uns vorstellen können.
„Ich kann es nicht fassen, dass wir das tun“, sage ich.
Hanna zieht mich am Handgelenk; gibt mir einen Kuss.
Es ist ein kontinuierlicher Strom aus Menschen, in dem wir uns in Richtung Vulkan bewegen. Dennoch kommen uns mehr Personen entgegen. Große Väter mit Basecaps und Muscleshirts, die ihre schlafenden Kinder auf den Schultern tragen, den kleinen Rucksack auf der Brust. Mütter in taillierter Sportswear, tätowiert, ein Kind an der Hand, auf den Schultern. Eine Gruppe Läuferinnen mit scharfen Gesichtszügen, kein Tropfen Schweiß auf ihrer Stirn. Mountainbiker mit Motocrosshelmen. Schwitzende Alte, nörgelnde Kinder. Hinter den Hügeln eine Rauchschwade, die vom Abendlicht in Gold und Rot getaucht ist. Gelegentlich machen wir ein Foto. Als würde der Rauch aus unseren Köpfen steigen. Hin und wieder sehen wir Leute mit Gas- und Atemschutzmasken. Die Luft riecht anders als erwartet. Nicht nach Schwefel, nach Lagerfeuer. Außer FFP2-Masken haben wir nichts, um uns zu schützen. Als der Nebel dichter wird, beginnen einige Leute zu husten. Ich spüre es vor allem in den Augen. Sie brennen und tränen. Doch dann lichtet es sich wieder. Ein Bergungsfahrzeug kommt uns entgegen. Ich schieße ein Foto, schicke es an etwa fünf Leute. Man sieht den Rauch im Hintergrund aufsteigen. Ein Gefühl sagt mir, dass es das erste gute Bild ist, dass ich seit unserer Anreise aufgenommen habe. Hanna hat sich abgesetzt. Gelegentlich drehe ich mich nach ihr um. Etwas trägt meine Füße, sie kommen mir leichter vor als sonst. Um 11:36 Uhr nehme ich ein Foto von meiner Armbanduhr auf, den bunten Rauch im Hintergrund. Die Sonne wird gleich verschwunden sein; doch hell wird es bleiben und in ein paar Stunden wird sie wieder da sein.
Um 11:59 Uhr erreichen wir eine Barriere. Hier stehen Bergungsfahrzeuge unterschiedlicher Größen mit eingeschalteten Warnleuchten. Einsatzkräfte unterhalten sich, trinken Kaffee. Sie lassen uns durch. Silbermoos zu unseren Seiten. Rauch am Horizont. Als wir den Punkt erreichen, sehen wir einen Krater in weiter Ferne. Er spuckt Lava. Genaueres erkennen wir nicht. Ein leuchtender Fluss entspringt ihm. Eine Linie aus Rauch trennt den schwarzen Westen vom silbernen Osten, auf dessen Pfaden wir gehen. Ein Kriechbrand, der das Moos verzehrt.
„Dass man das alles sieht, hätte ich nicht gedacht“, sage ich.
„Jetzt können wir wirklich sterben“, erwidert Hanna.
Ich hopse, um Energie loszuwerden. Die nächstbeste Person macht Fotos von uns. Wir sind nicht wählerisch, wir sind hier. Darum geht es. Nicht primär um das Foto. Ich renne vor, wieder zurück. Auf einem Hügel sitzen Leute. Wir sehen ihre Silhouetten. Sie fotografieren, essen, beobachten den Krater, der jetzt so groß ist wie der Daumen meiner ausgestreckten Hand.
„Lass uns auch was essen“, sagt Hanna.
„Ja“, sage ich. „Lass uns was essen.“
Neben uns baut eine Frau ihr Stativ auf. Ein Mann räumt seinen Platz und wir füllen die Lücke. Hier sitzen wir am höchsten Punkt, sehen den Krater ganz deutlich. Als ich mein Crispy Chicken in die Barbequesauce dippe, tue ich, als würde ich es im Vulkan versenken. Scharf und vollkommen schmeckt es; nur im Abgang erinnert es an Hühnchen.
„Dort verläuft der Lavastrom“, sagt Hanna und deutet mit einem Knochen vom Krater zum Ende des glimmenden Streifens. Der Qualm, der sich über dem Lavafluss erhebt, ist rosa gefärbt. Drohnen summen in der Luft.
„Wenn du hier so ein Teil hast, bist du glücklich“, sage ich.
„Meinst du, wir kommen noch näher ran?“, fragt Hanna.
„Vielleicht. Dort hinten sind jedenfalls Leute.“
„Aber an der Linie ist Schluss, oder?“
„Klar“, sage ich. „Da brennt es ja.“
Mit Steinen im Magen laufen wir zur rauchenden Linie. Menschen mit Profikameras knien und liegen im Moos. Ständig fragt jemand, ob wir ein Foto machen können. Immer näher kommen wir dem Krater. So groß wie meine Faust ist er jetzt. Ich sehe, wie er flüssiges Gestein nach oben schleudert.
„Da sind Leute“, sage ich und zeige auf den schwarzen Bereich hinterm Rauch.
„Die sind ja verrückt“, murmelt Hanna.
„Ich geh’ da jetzt auch hin“, sage ich. „Du kannst gerne hier bleiben.“
„Mach das nicht.“
„Doch.“ Ohne zu warten, gehe ich auf die Linie zu. Dort glimmt das Silbermoos. Es stinkt nach Feuer. Ich setze meine Maske auf, trete durch den Qualm wie durch einen Vorhang. Den Vergleich versuche ich mir einzuprägen. Schon zehn Meter dahinter ist die Luft halbwegs klar. Ich winke Hanna, sie soll kommen; doch sie kreuzt die Arme vor ihrem Gesicht. Also drehe ich mich um und laufe weiter, durch den nächsten Vorhang aus Qualm. Dahinter sehe ich Leute. Also bin ich nicht allein. Der Krater ist nun so groß wie mein Arm. Jetzt kann ich die Lava vom schwarzen Geröll perlen sehen, die glühenden Fetzen, die er über sich wirft. Ich höre sein Grollen, spüre die Erde unter mir beben. Angst habe ich nicht, es ist Ehrfurcht. Immer näher komme ich, fühle den Sog. Nicht mal besonders warm ist es. Etwa sechzig Meter bis zum Vulkan. Ein Mann mit Fotostativ ruft einer Frau Regieanweisungen zu. In einem weißen Kleid steht sie dort auf einer Erhebung aus Tuff. Sie räkelt sich, während der Vulkan glühendes Gestein in die Höhe und auf den Kraterrand spuckt.
„Alright. Now, try something else“, ruft er ihr zu.
Ich mache ein Foto von ihnen. Es fühlt sich an wie das zweite gute Bild, dass ich auf dieser Reise aufnehme. Als ich mich umdrehe, sehe ich Hanna auf mich zurennen. Sie schaut ernst.
„Du hast dich getraut“, sage ich.
„Ich weiß.“
Sie geht vorweg. Unerschrocken.
Wir nähern uns dem Vulkan nun auf dreißig Meter. Es ist 01:06 Uhr. Die Luft hat eine Temperatur von etwa 18°. Ich trage eine Mütze, eine Regenjacke. Hier bleibt Hanna stehen. Einige Leute sitzen in der Nähe.
„Geh’ nicht weiter“, sagt Hanna.
„Doch“, sage ich.
Der Tuff knirscht unter meinen Füßen. Vor dem Krater hat sich ein Wall aus schwarzen Gesteinsblöcken gebildet. Ich klettere hinauf. Springe von Vorsprung zu Vorsprung.
„Pass bitte auf!“, höre ich Hanna rufen.
Vor mir donnert der Vulkan. Die Fetzen haben die Form von Gestalten, die aus dem Krater springen, eine Pose machen und wieder hineinfallen. Als hätten sie Spaß dabei. Ich trete näher, rieche das Feuer. Näher und näher. Ein letztes Foto will ich machen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Carlo Zwei,

ich bin nach dem ersten Abschnitt, also bei der ersten Leerzeile, ausgestiegen, und wollte dir kurz rückmelden, woran das lag: Ich weiß da immer noch nicht, worum es überhaupt geht, und ich finde die beiden Protagonisten weder sympathisch noch interessant. Das ist so etwas banaler Touri-Kram, der so vor sich hinplätschert. Die sind da halt unterwegs mit ihren Smartphones, machen dauernd Fotos, checken Rezensionen, er schwärmt da komisch naiv für irgendein Glückliches-Schwein-Markenzeichen, und ich hab so beim Lesen gemerkt: Eigentlich interessiert mich das alles nicht.
Viellleicht ist das ja so von dir intendiert und am Ende wird's (satirisches) Touri-Bashing oder so. Vielleicht steckt da eine gute Geschichte drin, aber ich würde überlegen, das massiv zu kürzen und auf das Wesentliche einzudampfen.
Ist aber bloß meine Meinung, und ich weiß halt nicht, wie's weitergeht..
Ansonsten finde ich's solide geschrieben (das Englische am Anfang kommt mir etwas komisch vor (Absicht?)).

Viele Grüße
Maeuser

 

Hallo @Maeuser ,

ja, was soll ich jetzt dazu schreiben. Sorry, dass es nicht dein Fall ist. Egal, danke, dass du dir die Zeit genommen hast.

Grüße
Carlo

- bei „vielleicht ist es ja so von dir intendiert“ denke ich mir auch irgendwie: dass sich da Botschaft und Empfänger irgendwie verfehlt haben. Oder dass der Empfänger eine Botschaft haben möchte, auf der draufsteht ‚Botschaft‘.

 

Hallo @Carlo Zwei

Ich finde das gut geschrieben, aber trotzdem hat es mich nicht abgeholt. Es liest sich für mich wie ein Reisebericht eines Pärchens, der leider etwas ereignislos vor sich hin plätschert. Der Text gibt sich Mühe, die isländische Landschaft zu beschreiben, der erweckt auch schöne Bilder dadurch, aber mir passiert zu wenig und auch die isländische Kultur kommt für mich zu kurz, ich hätte mir da mehr Insights erhofft. Details wie das Schweinchen-Logo vom Bónus sind gut gewählt, oder meinetwegen auch das mit dem Havrefras, davon hätte ich mir aber noch mehr gewünscht, um den Text stärker zu verorten. Das Verhalten der beiden Protas finde ich etwas klischeehaft, vor allem das die finden, das sei alles teuer und das da natürlich eine Menge Fotos geknipst werden. Also verstehe mich nicht falsch, das ist sicher authentisch, wenn da junge Reisende unterwegs sind, aber für mich ist das zu wenig, um meine Aufmerksamkeit über den ganzen Text zu halten. Das liest sich halt wie von typischen Touristen, die sich eher mit tollen Fotos beschäftigen, als wirklich mit dem besuchten Land. Leider gibt es ja auch kaum Schnittstellen zur Bevölkerung, ausser dort, wo sie sich z.B. mit der Inhaberin des Zeltplatzes unterhalten müssen.

Da hilft auch der Subplot mit der deutschen Touristin, die schwanger ist (wie die Freundin des Protas? Glaube, das habe ich irgendwie rausgelesen), nicht wirklich. Die beiden sind jetzt für mich auch nicht supergut greifbar, deren Charakterisierung findet zwar im Text statt, geht aber eher in den (gut gemachten) Landschaftsbeschreibungen unter. Also ich glaube, mir fehlt da vor allem eine stärkerer Handlung in dieser Geschichte, so wie es jetzt da steht, finde ich das nicht wirklich erzählenswert, sorry. Aber das bin ja nur ich. Das Ende finde ich ebenfalls eher unbefriedigend: Es könnte sein, dass er jetzt da nicht aufpasst und in den Vulkan stürzt, aber naja, irgendwie spürte ich die Gefahr nicht so richtig und war dem Charakter zu wenig nahe, also stand ich seinem etwaigen Schicksal dann eher etwas gleichgültig gegenüber. Tut mir leid, das ich nichts Positiveres beitragen kann, deine letzte Geschichte 'Wunden lecken' hat mir vieeel besser gefallen (aber klar, ist auch ein komplett anderer Text).

Vielmehr kann ich zu dem Text auch fast nicht sagen. Wie erwähnt, mir war das inhaltlich einfach zu mager, geschrieben finde ich es gut. Wegen Björk: Kannte ich jetzt gar nicht wirklich, hab aber mal bisschen reingehört. Für mich steht Island ganz klar für eher dunklere Klänge, aber klar, hängt sicher stark vom Musikgeschmack ab. Die Insel produziert echt starken (Black) Metal, der, so finde ich, direkt die mysthischen isländischen Landschaften vor dem inneren Auge zum Leben erweckt, sozusagen das Herz Islands in eine musikalische Form giesst. Meine Empfehlungen wären auf jeden Fall

Das soweit von mir. Nix für ungut.

Grüsse,
d-m

p.s.: Habe die Rückmeldung heute Nachmittag geschrieben, direkt nach dem Einstellen der Geschichte, die ist also unbeeinflusst von etwaigen VorkommentatorInnen.

 

Hey dm,

Danke für deinen Kommentar. Ja, wahrscheinlich bin ich zu nah am Text dran, als dass ich das (schon) so sehen könnte. Aber dann ist da vielleicht einfach was dran. Irgendwie habe ich ziemlich viel Power in die Story gesteckt und merke, dass es mich schon anfasst, dass die Story bislang so mager in der Leserbewertung abschneidet. Man denkt immer, man steht drüber. Krass, hätte ich irgendwie nicht gedacht. Es würde mich auch nicht wundern, wenn andere Leser das anders bewerten. Aber zwei Absagen zum Einstieg sind natürlich nicht gerade ein gutes Omen für eine Story. Ich glaube, dass das im Text alles ziemlich subtil abläuft und die Story extrem vom Subtext lebt. Aber vielleicht besteht der auch nur in meinem Kopf und ist überhaupt nicht rauslesbar.
However, danke fürs Lesen und für deinen Kommentar (auch nochmal an Maeuser).

Carlo

 

Hallo @Carlo Zwei,

ich möchte wahnsinnig gerne etwas zu deinem Text sagen, wie zu den meisten deiner Texte, ich habe jetzt auch die ersten Reaktionen und deine Antworten darauf gelesen und das macht es mir nicht einfacher. Meine Gedanken formen sich hoffentlich während des Schreibens zu etwas, das uns beide irgendwie voranbringt :)

Also vorab muss ich gestehen, dass der Einstieg mich nicht fesseln konnte. Ich bin dann vor allem dran geblieben, weil du das geschrieben hast und ich gespannt war, in welche Richtung es sich entwickelt, bei jemand anderem wären mir die - klar, den Umständen gerechten - flachen englischen Dialoge vielleicht noch ein wenig mehr aufgestoßen und allgemein der Drive, der sich da zu Anfang einstellt: Sehr ruhig, sprachlich und auch inhaltlich (trotz Erdbeben!) und vor allem alltäglich, aber so ein bisschen ... langweilig alltäglich, so, wie ich es in einem literarischen Text eigentlich nicht lesen möchte, um ehrlich zu sein.

Aber wie gesagt, ich bin gespannt, wie es weitergeht und spüre, dass der Fokus sich in zwei Richtungen ausrichten könnte: Zum einen ist da das Verhältnis von Hanna und Ich-Erzähler zueinander. Wenn sie miteinander sprechen, höre ich kleine Spitzen heraus, auch das ist alltäglich, denke ich, Pärchen auf Reisen, da ist schon manche Beziehung in die Brüche gegangen ... Zum anderen ist da dieses Thema ... hm, wie soll ich das nennen ... der mangelnden Achtsamkeit, ganz deutlich wird das am Anfang geschildert, wenn die beiden dieses Naturspektakel erleben, ohne es wirklich zu erleben, weil sie stattdessen mit Bilder machen beschäftigt sind, der Erzähler scheint länger über den richtigen Text, den er zu den BIldern sendet, nachzudenken, als darüber, wo er da ist, was er da gerade erlebt.

Diese mangelnde Achtsamkeit zieht sich auch durch den weiteren Text, finde ich, auch in Kombi mit der Beziehung der beiden, es gibt wieder kleine Spitzen, aber der Erzähler geht darüber hinweg, da kommt keine Passage, wo er darüber sinniert, wie die beiden eigentlich hier gelandet sind, also sowohl geographisch als auch beziehungstechnisch, wenn dann sind es kleine Einschübe wie der hier:

Kurz frage ich mich, ob sie nicht doch eine gute Ergänzung unseres Zweiergespanns gewesen wäre.
„Die war ganz okay“, sage ich.
„Ja“, sagt Hanna.

Eigentlich kann er die Schleswig-Holsteinerin ja auch nicht besonders leiden, trotzdem hat er das Gefühl, dass sie eine gute Ergänzung - eine Aufwertung? - für die Zweisamkeit der beiden darstellen könnte. "Die war ganz okay" - das reicht ihm vielleicht schon. Auf mich wirkt er allgemein ein wenig stumpf, ja, beide wirken stumpf auf mich.

Der Erzähler ist vielleicht sogar mehr als stumpf. Wenn er über andere spricht, höre ich eigentlich immer einen Hauch von ... Misstrauen heraus, manchmal scheint er sich (unbewusst?) über andere zu stellen, hier zum Beispiel:

Als der Busfahrer den Wagen endlich mit einem Manöver befreit, applaudieren sie. Auch ich klatsche zum Spaß.

Das Klatschen der anderen ist ein anderes als seines. Er klatscht nur "zum Spaß" - nicht, weil er Spaß hat, glaube ich. Aber er sagt das ja gar nicht eindeutig, deshalb könnte das auch einfach meine ganz persönliche Lesart sein, aber es gibt einige solcher Situationen, klein und fein, man könnte sie auch anders deuten, aber ich lese grundsätzlich einen gewissen Überdruss in seinem Charakter:

Eine kalte Sonne blitzt darin. Ein ferner Wasserfall. Unecht, virtuell, aber schlampig designt. Kein Baum, kein Busch. Nur Wiese, Fels und Wasser. Wir wollen sie fotografieren. Bild für Bild. Doch die Farben stimmen nicht. Die Augen geben sie anders wieder. Ich drehe am Filter; nichts. Wir werden diese Bilder niemandem zeigen können.

Und irgendwie macht ihn das ja auch nahbar und echt, dass er kein verklärter Träumer ist und nur, weil er in ein Flugzeug gestiegen ist, automatisch in den Begeisterungsmodus switcht. Die isländische Ladnschaft kann genauso kackenlangweilig sein wie der Aldiparkplatz in Deutschland.
Wir fotografieren und entspannen.

Mir geht es öfter so, dass ich eine Geschichte lese und mich in eine Ecke dränge, aus der ich dann nicht mehr rauskomme, dass ich Botschaften lese, wo vielleicht gar keine sind, zumindest fühlt es sich oft so an. Anders als beim Bücherlesen kann ich jetzt dich fragen, ob meine Lesart bewusst von dir heraufbeschworen wurde: Wir fotografieren und entspannen. An der Stelle ist es fast aus dem Ruder gelaufen, oder? An der Stelle gab es mehrere Hinweise auf eine scheiternde, nicht funktionierende Beziehung, sogar die Natur hat sich eingeschaltet:

Ihr Gesang hat etwas Lockendes, zugleich Ängstigendes, Böses. Wie der Anblick eines Schwarzen Lochs.

Und was tut er? Er notiert sich das. Schiebt den Gedanken beiseite, verwahrt ihn für später, jetzt, jetzt hätte er sehen können, dass etwas nicht stimmt, aber er schreibt den Gedanken auf und damit wird er auch weniger real, dadurch wird er von einer realen, bedrohlichen Sache zu Buchstaben auf einem Blatt Papier, die man liest, wie man eine fiktive Geschichte liest, Flucht gelungen. Erst mal ein Foto machen - eine weitere Flucht, rausreißen aus der Realität, wir machen das echte Leben zu einem Bild, ändern die Perspektive, jetzt ist es nicht mehr echt, jetzt ist es nur ein Bild in einem Whatsapp-Verlauf oder auf Instagram ...

Ja, ich glaube, dieses Unterschwellige, das nicht zur Sprache kommt, dass ich die Außenperspektive habe und das erahne und mir beim Erzähler so unsicher bin, ob er es sieht und verdrängt oder ob er wirklich so blind ist, das macht für mich den Text lesenswert und spannend.

Also überlege ich, wie es wäre, den Blick vom Körper zu lösen. Eine Drohne oben, vorne, hinten. Ich könnte die Perspektive wechseln wie in einem Computerspiel.

Bezieht er das nur aufs Fotografieren oder spürt er es auch?

Ich lese dann natürlich auch das, was kommt, aus meiner Ecke heraus: Wie sie dem Lavaschlund immer näher kommen wollen, wie sie immer mehr brauchen, mehr Euophorie, mehr Endorphine, mehr Dopamin, um sich lebendig zu fühlen, um "sterben zu können", das könnte man auch als Metapher auf unsere Generation und vor allem auf die, die noch jünger sind als wir, lesen, denke ich. Wenn man wollte.

Jetzt, so, wie ich den Text jetzt erfahren habe, also quasi Hand in Hand mit dem Kommentar, den ich dazu verfasst habe, finde ich ihn bemerkenswert, interessant, spannend. Was ich mir gestern nicht vorstellen konnte, als ich den Anfang gelesen habe, da ging es mir ein bisschen wie Maeuser, der dann ausgestiegen ist, aber hey, @Maeuser, versuchs's doch noch mal, der Text ist es definitiv wert.

Beachtlich, Carlo, wie ausgereift das über die Länge wirkt, fehlerfrei, soweit ich das beurteilen kann, und auch mit dem Wagnis, ruhige Töne anzuschlagen, nicht einfach Vulkanausbruch an Vulkanausbruch zu reihen. Und die ruhigen Untertöne sind es dann auch, die die Stärke ausmachen. Die kann man sehr einfach überlesen, denke ich, und wenn ich dir einen Ratschlag geben würde, wäre das wohl auch, hier und da zu kondensieren, zu verdichten, es dringlicher zu gestalten. Aber nicht zu sehr. Vielleicht vor allem noch mal über den Anfang zu schauen, vielleicht geling es dir da, einen Haken auszuwerfen, an dem man sich verbeißen muss, sodass man gar nicht auf die Idee kommt, dass man es hier mit einer dahinplätschernden Touri-Story zu tun haben könnte. Denn stellenweise plätschert es hier tatsächlich. Aber ich denke, das muss so sein, anders würde es nicht funktionieren, das ist ja auch Sinnbild für das Gefühl, das hier transportiert wird, Überdruss, Verfahrenheit, oder, um den Gedanken unter deiner letzten Geschichte aufzugreifen: Erwachsensein. Oder, küchenphilosophisch: Am Leben sein.

Vielen Dank fürs Teilen, hoffe auf weitere Rückmeldungen für deinen Text!

Bas

 

Das Bluetooth des Autos funktioniert nicht, also bitte ich Hanna den Song ‚Hyperballad‘ von Björk über das Handy abzuspielen.

Ja, diese guten alten Dusters. Ich fahre einen von 2015, da geht immer die Warnblinkanlage sporadisch an, da warte ich jetzt seit zwei Monaten auf ein Ersatzteil.
„Mmh“, sage ich.
„Nicht interessant?“
„Doch, doch. Ziemlich“, lüge ich.

Hier würde ich kürzen. Wird klar.

„Ich würde mich hinreißen lassen, noch beim KFC zu essen“, sagt Hanna.

„Du willst kneifen“, sage ich, als ich es nicht mehr aushalte.
„Ich weiß einfach nicht, ob es sicher ist.“
„Was ist schon sicher, Hanna? Kein Abenteuer.“
„Ja, du hast recht.“
„Andererseits kann ich dich verstehen“, sage ich schnell.
„Aber du hast recht“, sagt Hanna.
„Aber ich kann dich auch verstehen.“

So, hab alles gelesen, Carlo.

Diese beiden Textausschnitte stehen für mich für den Text an sich, also nicht den Text, was passiert, sondern für die Protagonisten. Dieser Text ist, wenn ich das mal annehmen darf, sehr ehrlich. Das ist etwas verfänglich, weil du hier zwei Archetypen erschaffen hast, also eher ein Archetyp; für mich (!) ist das der moderne, vollkommen entwurzelte, weit gereiste Endzwanziger, studiert, aus gutem Elternhaus, mit Werten und bestimmten Ideen, der viel weiß und noch mehr Wissen ansammeln will, für den aber alles irgendwie ironisch ist, der auch nie wirklich begeisterungsfähig, nie wirklich leidenschaftlich ist, der nie im Moment leben kann und sich selbst durch Fotos vergewissern muss, dass er sich in irgendeiner Wirklichkeit befindet. Ständig muss man jeglichem Konflikt aus dem Weg gehen, man muss auch Verständnis haben, alles wird abgehakt auf einer imaginären Liste ... ich mir schlecht vorstellen, dass diese Leute echte Träume haben, weil sie selbst nicht so genau zu wissen scheinen, wer sie sind.

Wenn du das so wolltest, dann ist das sehr, sehr gut gemacht. Schmerzhaft, würde ich sagen, weil es diese Seite so gnadenlos offenlegt. All diese kleinen Kommentare, diese Nebenbemerkungen und Bewertungen, die sind an sich zynisch, jovial, paternalistisch, nie habe ich das Gefühl, einer ist wirklich ehrlich, das wirkt alles inszeniert und gespielt. Das ist sehr nah dran. Das ist die eine Art des Erzählens: aus sich selbst heraus. Ich denke nicht, dass DU so bist, aber du kennst solche Menschen und kannst das gut in den Text transformieren. Das ist ja ein Lebensgefühl, eine ganze Generation. Das ist in so dieser Kompaktheit schon bemerkenswert, wie dir das gelingt. Sympathisch sind die natürlich alle irgendwie nicht, aber das sollen sie ja auch nicht sein, oder? Ist für mich auch kein Kriterium, in meinen Texten wimmelt es auch so von Arschlöchern, ich lese auch unfassbar gerne Texte, in denen man zusehen kann wie aus einem Arschloch ein Arschloch mit subtiler Tiefe wird; man versteht diesen Charakter dann, erfährt seine Geschichte.

Auf mich wirken die beiden hier ausgelaugt und gelangweilt. Nichts kann sie anfassen. Alles erscheint wie ein großer Witz, nicht wirklich essentiell, nicht wirklich wichtig, naja, hat man gesehen, done that, seen this. Was erzählt wird, ob sie auch schwanger ist oder nicht, das spielt eigentlich keine Rolle. Am Ende spürt er dann die Macht des Ereignisses, und das ist vielleicht der einzige Punkt, den ich kritisieren könnte: Nein, in sich schlüssiger wäre, wenn er eben nicht noch näher rangeht. Das ist schon wieder fast zu viel man vs nature, dass da so eine Art Karthasis entstehen könnte, Gefahr!, Risiko!, nein, das sehe ich bei den beiden nicht, da siegt die Vernunft, das Gefühl, nie wirklich in Gefahr geraten zu können, nicht aus Unvorsichtigkeit, sondern weil man einfach immer von Sicherheit umgeben war.

Ja, das ist ein sehr guter Text. Der geht auch dahin, wo es weh tut, finde ich. Der darf auch ruhig fließen, da muss nichts Großes passieren, das geht auch so schon tief genug, es ist ein charakter-getriebener Text, auf den man sich einlassen muss.


Gruss, Jimmy

 

Lieber @Bas ,

ich Dank dir sehr. Oh Mann, ich scheine mich verrechnet zu haben mit der Story …
Das bringt mich auf eine gute Weise auf den Boden. Ich hab echt gedacht: was für ein nicer, satirischer Text ist dir da gelungen, hahah. So subtil und niemals zu laut. Und hinterher alle so: der x-te Touritext. Du hast ja sogar ganz viel Positives da rausgeholt. So wertschätzend, danke, dass du dich so darauf eingelassen hast. Das ist viel wert. Vielleicht ist der Text in der von mir unterstellten ‚Subtilität‘ auch einfach im wahrsten Sinne des Wortes ‚zu platt‘ geraten. Für mich geht es hier um verschiedene Beziehungsdynamiken, irgendwie einfach auch um ein Porträt dieser unerträglichen Zweischneidigkeit. Einerseits ist da eine große Banalität, die ja auch noch mal im Kontrast zu dem ja 'eigentlich' spannenden Ort steht. Als wäre es unmöglich, irgendetwas anderes zu tun, als sich über die hohen Preise aufzuregen, alles mit dem bereits Bekannten zu vergleichen, eigentlich mit nichts und niemandem etwas zu tun haben wollen, und von allem aus einem nie ganz klaren Bedürfnis hunderte Fotos machen wollen. Das ist das Gewicht auf der einen Seite. Auf der anderen Seite verkauft der Text das halt irgendwo auch als conditio humana. Das meine ich mit der unerträglichen Zweischneidigkeit. Er behauptet, dass das normal und auch nicht per se 'falsch' ist. Denn es gibt keinen offensichtlichen Bruch, der Erzähler nimmt den auch nicht vor, legitimiert das sozusagen. Und es gibt dann ganz logisch auch einen leichten Trend zu weniger Fotos, mehr Naturwahrnehmung im Verlauf des Textes – ohne aber darauf zu zielen, dass der Prot jetzt irgendwie das Handy in den Vulkan schmeißt am Ende. Der Wert der Sache wird stets anerkannt und über den Text ausgelotet (Handy, Technik, auch die Unternehmung selbst). Wenn ich Subtext schreibe, meine ich, dass ich zwar mit großer Mühe versuche, die Figuren nicht zu verraten, wenngleich sie durch das geschilderte Handeln ja eigentlich nicht wirklich ganz ernstzunehmen sind. Ich habe echt versucht, in jedem einzelnen Satz diesen doppelten Boden einzuziehen. Als Gegenpol diese bewundernden Naturbeschreibungen. Die Funktion für mich ist hier einfach, zu zeigen, dass es etwas Wahrhaftiges gibt, dem sich nicht durch die Sättigung der Prots entzogen werden kann. Mal wahllos einen Absatz, um das mit dem Subtext zu verdeutlichen:

Hanna sucht einen Campingplatz bei Selfoss raus. Die Bewertungen sind okay, etwas Besseres scheint es in der Gegend nicht zu geben. Nachdem wir das Zelt aufgebaut haben, setzen wir uns in den Gemeinschaftsraum. Dort essen wir Nudeln mit Thunfisch-Tomatensoße, laden die Powerbank auf. Zum Nachtisch gibt es je eine Tassenportion Kondensmilch. Morgen wollen wir den Duster stehenlassen, mit einem Offroad-Bus nach Landmannalauga ins Landesinnere reisen. Die Tickets sind bezahlt. Heiße Quellen, bunte Berge, ein erloschenes Lavafeld. Das kostet zweihundert Euro. Nur die Fahrt. Während Hanna duscht, sichte ich die Bilder des Tages. Ich entscheide mich für ein Foto von Hanna, mir und dem Schwefelloch. Aus der Perspektive sieht es aus, als würde die Blase direkt über unseren Köpfen zerplatzen.

Allein der Umstand, dass sie es unbedingt vergleichen müssen. Und die Tatsache, dass das die Art ist, wie aktuell gefühlt die allermeisten Menschen sich durch die Welt bewegen. Mit Google-Maps nach dem 'Besten' suchen. Das ist einfach so unfassbar profan aber funktional, dass mich das mega interessiert. Dass sie in Island sind, Natur für sich erleben wollen, aber Thunfisch essen. Es ist einfach ein einziges Ego-Konzert. Aber das will der Text auch nicht anprangern, sondern ja, eben als conditio humana verkaufen, an der man ganz sicher auch initiativ etwas machen kann, die beiden Figuren wie viele andere aber eben einfach nicht. Und trotzdem macht sie das ja nicht zu schlechten Menschen, der Text sagt, es macht sie einfach zu Menschen. Dann ist das ein Gemeinschaftsraum, in dem keine Gemeinschaft stattfindet. Dann trinken sie Kondensmilch. Dann wird die Landschaft auf einen Geldpreis reduziert. Dann ist das Foto eigentlich peinlich banal, wenn man darüber nachdenkt: wir und das Schwefelloch. Die Blase zerplatzt über ihren Köpfen. Natürlich ist das sinnbildlich.

Genau das meine ich mit Subtext. So habe ich alles an diesem Text gebaut. Und deswegen war ich am Ende recht stolz darauf. Aber wie gesagt, ich habe das dringende Gefühl, mich hier völlig in der Rezeptionsästhetik der Sache verrechnet zu haben. Und das muss ich auf meine Kappe nehmen (sorry auch noch mal an @Maeuser für den harschen Ton, war zu frisch). Ist mir natürlich auch unangenehm, weil es einen blinden Fleck bei mir offenbart. Und wo einer ist, sind bestimmt noch mehr, wenn das möglich ist.

Eigentlich kann er die Schleswig-Holsteinerin ja auch nicht besonders leiden, trotzdem hat er das Gefühl, dass sie eine gute Ergänzung - eine Aufwertung? - für die Zweisamkeit der beiden darstellen könnte. "Die war ganz okay" - das reicht ihm vielleicht schon. Auf mich wirkt er allgemein ein wenig stumpf, ja, beide wirken stumpf auf mich.

Das ist genau so eine Ambivalenz. Er kann sie eigentlich nicht leiden. Aber um nicht allein zu sein, ist sie ihm Gesellschaft genug. Wenn sie plötzlich zurückhaltend wirkt, sich scheinbar doch nicht an sie kletten möchte, dann ist er auf einmal interessiert an ihr. Ich finde das eigentlich gar nicht so stumpf (vielleicht höchstens weil er das selbst nicht blickt), sondern eher vertrackt. Auch viele Beziehungen laufen so.

Wir fotografieren und entspannen.
Mir geht es öfter so, dass ich eine Geschichte lese und mich in eine Ecke dränge, aus der ich dann nicht mehr rauskomme, dass ich Botschaften lese, wo vielleicht gar keine sind, zumindest fühlt es sich oft so an. Anders als beim Bücherlesen kann ich jetzt dich fragen, ob meine Lesart bewusst von dir heraufbeschworen wurde: Wir fotografieren und entspannen. An der Stelle ist es fast aus dem Ruder gelaufen, oder?

ja, das war die Idee. Beim Überqueren der Furten und dem Wasserfall passiert etwas. die Natur ist auf einmal doch größer als auf den Fotos und da mischt sich etwas Irrationales ein. Eine tiefsitzende Angst, die nicht erklärt werden kann. Klar geht es um den Kontrast aus virtuellem Leben und der echten auch fühlbaren Gewalt der Natur. Das ist auch eigentlich das Hauptmotiv des Textes. Am Ende wird diese Furcht und Anziehung am Vulkankrater auch wieder aufgegriffen.

Also überlege ich, wie es wäre, den Blick vom Körper zu lösen. Eine Drohne oben, vorne, hinten. Ich könnte die Perspektive wechseln wie in einem Computerspiel.
Bezieht er das nur aufs Fotografieren oder spürt er es auch?

Für mich war das aus seiner Perspektive der Wunsch nach einem erweiterten Körpergefühl, in dem das möglich ist. Wie auch immer.

Du @Bas , ich will dir wirklich danken dafür, dass du dich so intensiv und in dubio pro reo mit dem Text auseinandergesetzt hast. Und es hilft mir so auch noch mal mehr zu akzeptieren, dass der Text scheinbar nicht das tut, was ich von ihm wollte oder was ich meinte, wozu er in der Lage ist (zumindest würde es mich jetzt erstaunen, wenn sich die Wahrnehmung doch noch mal stark ändert). Es ist ja auch schon hoch symptomatisch, wenn der Autor meint, den Text in dieser Weise erklären zu müssen. So sollte es nicht sein. Dein Kommentar hat mir gezeigt, dass man da schon mit Wohlwollen auch einsteigen 'kann', aber das der Text das einfach wirklich nicht anbietet und nur mit viel Anschubsen überhaupt ins Fahren kommt. Ich glaube wir kennen das als Schreibende alle. Wenn man kurz über das eigene Schaffen aus einem Höhenflug nicht ganz unsanft wieder landet, aber zumindest landet. Zumindest kann man das Flugobjekt dann zu Anschauungszwecken in ein Museum stellen :D
Cheesy

Beste Grüße, guter Bas und bis dann!
Carlo

 
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@Carlo Zwei

Ich schließe mich jimmysalaryman an, ein guter Text; hier werden zwei Menschen begleitet und gezeigt, die auf einem Konzert auch nicht der Musik zuhören, weil die unwichtig ist, solange man keine Videoaufnahmen davon hat, die es aber empörend finden, wenn das Ganze bei dem Preis schon nach 70 Minuten zuende ist.
Ein Typus turnt da vor uns rum.

Zunächst war ich (auch) über die Länge des Texts besorgt, als ich bemerkte, dass es hier ohne groß durchgeplottete Story recht ereignislos verlaufen würde; merkte dann, dass dies kein Problem ist, weil es richtig gut gezeigt wird: Das im Kopf sein, Bewerten, Benutzen, die Oberfläche -- die fehlende Tiefe, das Unvermögen, zu erleben; wir haben hier sozusagen zwei Antibuddhisten vor uns:

Die Luft riecht anders als erwartet. Nicht nach Schwefel, nach Lagerfeuer. Außer FFP2-Masken haben wir nichts, um uns zu schützen. Als der Nebel dichter wird, beginnen einige Leute zu husten. Ich spüre es vor allem in den Augen. Sie brennen und tränen. Doch dann lichtet es sich wieder. Ein Bergungsfahrzeug kommt uns entgegen. Ich schieße ein Foto, schicke es an etwa fünf Leute. Man sieht den Rauch im Hintergrund aufsteigen. Ein Gefühl sagt mir, dass es das erste gute Bild ist, dass ich seit unserer Anreise aufgenommen habe.
Er schickt es ungefähr an fünf Leute; weniger wäre ein Versagen, es hätten vielleicht auch mehr sein dürfen. In den Beobachtungen der Protagonisten sind die Marken der Sachen erwähnenswerter als die eigenen Gefühle -- an anderen Stellen wird auch klar, dass niemand so genau sagen könnte, was Gefühle eigentlich sind -- wie sie sich anfühlen. Sie werden verwechselt mit irgendwas anderem.
Die Beziehung der beiden Turteltauben ist dominiert von Plattitüden, die Dialoge sind Stangenware:

„Dass man das alles sieht, hätte ich nicht gedacht“, sage ich.
„Jetzt können wir wirklich sterben“, erwidert Hanna.
Ich hopse, um Energie loszuwerden. Die nächstbeste Person macht Fotos von uns. Wir sind nicht wählerisch, wir sind hier. Darum geht es. Nicht primär um das Foto. Ich renne vor, wieder zurück. Auf einem Hügel sitzen Leute. Wir sehen ihre Silhouetten. Sie fotografieren, essen, beobachten den Krater, der jetzt so groß ist wie der Daumen meiner ausgestreckten Hand.
„Lass uns auch was essen“, sagt Hanna.
„Ja“, sage ich. „Lass uns was essen.“
Phantastisch! Klar gehört er nicht zu jenen, denen es primär um's Foto geht. Nur, was zeigt sich in diesem Ausdruck: 'primär um's Foto'? Dann kommt der daumengroße Krater, dann kommt die Idee zu essen.
Jetzt können wir wirklich sterben.

An sieben Leute sende ich das Foto, dazu eine Nachricht. ‚Tolle‘, nein, ‚Großartige Landschaft‘. Ich lösche alles, formuliere neu. ‚Bisher top‘, nein. ‚Es geht uns top …‘ Ja, das ist es, ‚Es geht uns top …‘. Erledigt. Um mich zu belohnen, öffne ich die Nachrichten-App. Zuerst die Wettervorhersage, dann die Schlagzeilen. Erdoğan steht Schwedens Nato-Beitritt nicht mehr im Weg. Etwas Gutes.
Hier ist es an der Grenze zur Übertreibung -- und doch nicht drüber, denn so kann man sich das immer noch vorstellen. Und am Ende die politische Nachricht, die wohl eine gute ist, weil er das vermutlich irgendwo gehört hat, dass das gut ist. Was fehlt, ist jeder eigene Gedanke dazu.

Klar hättest du den Text zur Satire machen können, indem du diese Sachen übertreibst, verzerrst oder auch in der Handlung selbst zum Opfer machst. Das wäre dann eine andere Geschichte, womöglich auch eine gute. Hier ist es einfach was, was ich die Loriot-Lupe nennen möchte. Herr von Bülow hat diese Grenze selten überschritten, seine Darstellungen sind fokussiert und auf dem Punkt, doch niemals so, dass sie nicht in echt stattfinden könnten.

Während Hanna sich konzentriert, damit ihr nicht übel wird, macht mich die schunkelige, kurvenreiche Fahrt müde. Wie bei einem Säugling, der im Kinderwagen schaukelt. Ich schaffe es nicht, den Vergleich zu notieren; investiere meinen letzten Gedanken darauf, mich später noch einmal daran erinnern zu wollen.
„Aufwachen.“
„Sind wir da?“
Ich sehe eine Tankstelle, einen Kentucky Fried Chicken. Es ist Selfoss.
Erst als der Bus abgefahren ist, fällt mir auf, dass die Schleswig-Holsteinerin fehlt.
„Sie wollte nicht mit?“, frage ich.
„Wegen des Kindes.“
Ich nicke, finde es insgeheim schade. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht die Müdigkeit.
Wunderbar! Er investiert seinen letzten Gedanken darauf, sich erinnern zu wollen. Das nenne ich Zuckerstückformulierungen. Zumal das Wort 'investieren' hier keinerlei Sinn hat. Über seine eigenen Gefühle kann er nur Vermutungen anstellen. Die Schleswig-Holsteinerin war allerdings auch nicht als Person relevant, sondern als Bereicherung der Reise.

Ab und zu winkt den beiden die Leere zu, die Sorge, allein oder allein mit sich sein zu müssen, doch solche wird schnell übertüncht, sobald eine/r droht, sich selbst zu begegnen.
Viele schöne Stellen gibt es -- zum Beispiel auch, wo er es interessanter fände, den Berg wie eine Drohne in einem Computerspiel von oben sehen zu können, während er ihn besteigt.
Oder die Landschaft ihm wie eine missglückte Computeranimation vorkommt.
--
Vielleicht kann man das Ganze kürzen, vielleicht auch einige der Stellen straffen, ich hab jetzt nicht die Zeit, da was zu zitieren und Vorschläge zu machen, vielleicht später.

Ich kann nur sagen, trotz der Skepsis zwischendrin, hab ich das gern gelesen, es war ein Genuss. Nicht aufgesetzt, aber deutlich -- und vieles schön subtil.
Daher gibt's von mir einen :thumbsup:

Denen, die früh aufgegeben haben zu lesen (weil die Prots nicht sympathisch) oder die enttäuscht waren, weil sie einen interessanten Plot erwartet haben, kann ich empfehlen, es ohne Brille noch mal zu versuchen ;)

Gruß von Flac

ps: Ich bin ein bissl verwundert darüber, dass dich die eher negativen Kommentare zu Anfang dazu bringen, deinen Text grundsätzlich in Frage zu stellen ... warum das denn? Nein!

 

Hallo @Carlo Zwei

Mir geht es ähnlich wie vielen Vorrednern, der Einstieg war zäh, doch mit zunehmendem Lesen tauchten da die Spitzen auf, die mich aufhorchen liessen, das ständige Pendeln zwischen realem Empfinden und dem in die virtuelle Followerwelt projizieren, das ist schon gut gemacht und ich unterstütze den Vorschlag, mit feiner Klinge etwas zu kürzen, um dieses Gefühl der Langatmigkeit einzudampfen.

Viele tolle verschiedene Lesarten/Interpretationen zum Text, denen ich voll zustmmen kann, wurden bereits genannt. Ich möchte deshalb nur das Ende beleuchten, wo ich entgegen @jimmysalaryman genau das (weiter, noch näher) von deinem Prota erwartet hatte, weil

Ich sehe, wie er flüssiges Gestein nach oben schleudert.
Da sind Leute“, sage ich und zeige auf den schwarzen Bereich hinterm Rauch.
„Die sind ja verrückt“, murmelt Hanna.
„Ich geh’ da jetzt auch hin“, sage ich. „Du kannst gerne hier bleiben.“
Denn da wo Leute sind, kanns ja (noch) nicht gefährlich sein(!)
Genau das haben wir bei unserer Islandreise auch gesehen. Leute, die auf Grasnarben oberhalb tief fallender Wasserfälle herumturnen, das Handy Richtung Sonne strecken und sich vor dem Abgrund für die 7 wichtigsten Lieblingsmenschen daheim ablichten.

Mit einem anderen Abschnitt hast du bei mir Gänsehaut verursacht,

Ich hopse, um Energie loszuwerden. Die nächstbeste Person macht Fotos von uns. Wir sind nicht wählerisch, wir sind hier. Darum geht es. Nicht primär um das Foto. Ich renne vor, wieder zurück.

weil ich genau das gleiche Gefühl damals hatte, in diesem ersten flach kaskadierenden Wasserfall, der auf einer sicheren Steinplatte stehend um mich herum über die Steine gluckste, rauschte und mich mit einem Schlag die Erkenntnis überrollte, verdammt, du bist wirklich hier und jetzt.

Fazit: Nach anfänglichem Durchhaltemodus, stieg das Lesevergnügen exponenziell an.

Danke dafür und Gruss,
dotslash

 

Hey @Carlo Zwei,

na guck, ich hatte deinen Selbstgesprächs-Wunden-lecken-Text gelesen, aber keine Zeit zum Kommentieren gefunden, aber dieser hier schließt ja recht nahtlos an den an, oder? Könnte zumindest dasselbe Ich sein, dass da erzählt (zumindest so wie ich mich erinnere). Durch den anderen bin ich besser durchgerutscht, als durch diesen hier. Hier hab ich es erst beim dritten Anlauf geschafft, heute morgen, aber als ich dann drin war, da hab ich dann so langsam kapiert, wo du damit hinwillst bzw. evtl. hinwollen könntest. Dann gabs noch mal zwei Stellen, da hab ich geschaut, wie lang ist der denn noch, da wurds mir dann wieder etwas zäh, aber an den meisten Stellen hab ich das gut lesen können.

Ich finde beide Texte gut, einfach vom Thema her gut, modern vielleicht?, also auf jeden Fall in unsere Zeit gehörend, die fangen etwas ein, auch ein Millieu vielleicht. Während der andere irgendwie direkter ist oder narrativer, ist dieser hier mMn szenischer. Aber im Grunde drehen sich beide um sehr ähnliche Zustände. Ich weiß nicht genau, wie ich die benennen soll, also auf jeden Fall geht es um einen Mangel, einen Mangel an Verbundenheit und Tiefe und Sinn und Begeisterung. Ja, irgendwie gehts um Übersättigung und Langeweile. In beiden Texten wird das über Banalitäten vermittelt, über Oberflächlichkeiten, hier noch viel mehr als in dem anderen Text. Und in diesem Text hier (ich bleib jetzt mal bei dem hier) wird so eine Oberflächlichkeit an die andere gereiht, dass das Ich nicht gerade sehr sympathisch ist in seiner Art sich durch diesen Urlaub zu bewegen. Dass ist im Grunde etwas, was mir ein bisschen gefehlt hat, also dass der auch mal irgendwann sympathisch wird, aber das wird er irgendwie nicht, dadurch hab ich auch ein wenig das Gefühl du führst hier einen Typus Mensch vor. Und da besteht dann immer die Gefahr, dass wir alle vor dem Text hocken und ungläubig mit dem Kopf schütteln und sagen: Also nee, so oberflächlich und abgewichst. Und dann fühlen wir uns gleich besser, weil wir nicht so abgewichst sind. Ich wünschte, du würdest es mir etwas schwerer machen, entweder ihn unsymapthisch zu finden oder in den Spiegel zu gucken. Denn Übersättigung und Langeweile sind mMn schon ein Problem unserer Welt. Ich frage mich manchmal, ob mich Dinge weniger begeistern als früher, weil es einfach überall und zu jeder Zeit alles gibt oder ob das auch ein Sache des Alters ist und man irgendwann einfach schon viel gelesen, gesehen und gehört hat und wirklich Neues (sowohl strukturell als auch inhaltlich) schwer zu finden ist.

Und eine zweite Sache, die ich mich gefragt habe beim Lesen ist, ob man wohl dieses Thema auch anders aufbereiten könnte, leserfreundlicher irgendwie, nicht ganz so banal, obwohl ich den Text an sich gar nicht banal finde (ich hoffe, das ist schon deutlich geworden). Vielleicht auch nicht oder anders: vielleicht ist der Text genauso, wie du ihn haben wolltest. Da gehts ja vielleicht auch darum sich nicht nur Banalitäten und Oberflächlichkeiten vorzustellen, sondern mit und durch den Text erlebbar zu machen. Ich persönlich bin einfach kein Fan davon, zB Langeweile durch einen langweiligen Text erlebbar zu machen, wenn du verstehst, was ich meine. Das meine ich mit leserfreundlicher. Aber klar, wie alles andere auch, nur mein Empfinden, meine Wünsche an Texte und meine individuelle Perspektive als Leserin.

Ich finde jedenfalls, da steckt thematisch viel drin in diesem Text und auch in dem anderen. Das gefällt mir sehr und ich bin gespannt, wohin sich das bei dir noch entwickelt.

Viele Grüße
Katta

 
Zuletzt bearbeitet:

Ok, habe die Geschichte jetzt nochmal ganz gelesen - danke für den Ansporn, @Bas und @FlicFlac. (Der harsche Ton ist ok, @Carlo Zwei, ist verständlich und ginge mir ähnlich.)
Ich stimme zu, dass man für den Text in der richtigen Stimmung sein muss - beim ersten Lesen war ich eher so drauf: "Gut, jetzt fix noch ne hoffentlich gute Story lesen, zack, zack", und mit dieser Haltung kam ich hier halt nicht weit. Sorry. ;)

Ist ja inzwischen schon viel gesagt worden, und mir ist beim Lesen auch klargeworden, was du hier machst, diese subtile Darstellung des Verhaltens. Ich finde das ebenfalls gut gemacht, und denke auch, dass das einen gewissen Raum braucht, um sich zu entwickeln. Trotzdem ist es mir etwas lang (übrigens fand ich das Tempo gegen Ende besser als am Anfang, da gab es gefühlt mehr eher unwichtige Details und dadurch war es langsamer).
Ich hab mich beim Lesen auch etwas fremdgeschämt: Da sind die an einem so schönen Ort und verhalten sich so kapitalismusbullshittig fremdgesteuert und sind dabei so.. leer.
Mich hat das etwas an Bret Easton Ellis erinnert, American Psycho: Man liest und denkt: Boah, diese krass oberflächlichen Yuppies, das gibt's doch gar nicht! Dann kommt relativ schnell dazu, was @Katta schon geschrieben hat: Man denkt: Zum Glück bin ich nicht so drauf. Und das merkt man dann auch und fühlt sich dann deswegen auch nicht so gut.. American Psycho habe ich übrigens, wenn ich es richtig erinnere, irgendwann abgebrochen, weil ich halt irgendwann dachte: Ja, ok, die oberflächlichen Yuppies, ich hab's verstanden. Aber das geht halt so weiter und weiter und weiter.
So in etwa dieses Gefühl hatte ich auch etwas bei dieser Geschichte, und für mich bleibt auch so ein bisschen übrig: Ja, und jetzt?
Also das ist jetzt eine gute Beschreibung, die einem schön Sachen vor Augen führt, sodass man sich auch selbst reflektieren kann, das ist schon eine Leistung, aber man könnte da dann natürlich noch weitergehen. Du sagst, die Natur ist so der Gegenpol. Für mich ist die eher Kulisse. Ein Gegenpol könnte für mich eher ein oder mehrere andere Menschen sein, die sich eben nicht so verhalten, und auf die könnten sie mehrmals treffen, und so könnte man dann Gegensätze/Alternativen darstellen und daraus was kondensieren. Ist jetzt natürlich nicht mehr deine Geschichte, aber ich mein nur..
Doch, sind wirklich gute Sachen drin, auch wenn ich's wie gesagt gekürzt besser fände, so vom Gefühl her vielleicht um ca. 1/4. Vielleicht nochmal genau gucken, mit welchen Kleinigkeiten du was transportierst, und dann eher jeweils die besten dieser Kleinigkeiten behalten und ein paar andere desselben Themas kicken?..

Viele Grüße

PS:

„Where can you get the best view of Brennisteinsalda?“, frage ich die Frau im Rezeptionshäusschen.
häuschen

 

Salü @Carlo Zwei,

na? Auf dem Weg zum Roman? Ein sehr guter Text. Zweifelsfrei. Menschen, die sich nicht mehr spüren. Vielleicht noch nicht mal mehr auf der Suche sind. Gesättigt, aber nicht zufrieden. Gut versorgt, aber ohne Wurzeln. Am Ende lodert plötzlich ein Feuer, von dem man ahnt, dass es nicht nur aus dem tiefen Inneren kommt, auch aus einer anderen Zeit. Das muss das Eldorado sein.

Die ganzen Szenen sind für mich ein einziger Alptraum. Wenn es das ist, was von uns übrig bleibt, dann melde ich mich schon mal ab. Aber ...

im Hintergrund verblauende Bergketten.
Was sind denn 'verblauende Bergketten'? Meinst du die sich dem Blau des Horizonts anpassenden Gipfel?

Wir trinken sie pur.
Kondensmilch? :sick: Also da hat es mich geschüttelt.

Beleidigt raufe ich das Geschirr zusammen
Dieses etwas ruppige Zusammenpacken von etwas, weil man emotional kompromittiert ist, nennt man ehr 'klauben'. Beleidigt klaube ich das Geschirr zusammen.

verblauenden Vulkanen im Hintergrund
Da sind sie wieder. Das Blau der Vulkangipfel geht nahtlos über ins Blau des Horizonts.

„Wenn das so ist“, sage ich, tatsächlich beruhigt mich das.
Ein Punkt vor 'tatsächlich' hebt es noch hervor.

auch hier kontaktlos zahlen
Du meinst bargeldlos, gell? So Handy-App und so ...

Ringsum erstarrte Lava. Auftürmungen, Splitter, darum ein Fluss aus schwarzem Gestein
Ringsum erstarrte Lava, Auftürmungen, Splitter, eingebettet in einen Fluss aus ...
Fände ich runder.

Diesmal sitzen Hanna und ich zusammen. Die Schleswig-Holsteinerin sitzt weiter hinten.
2 x sitzen, vielleicht 'Die Schleswig-Holsteinerin hat weiter hinten einen Platz gefunden.' Oder so.

Ist nicht zu lang, nein. Muss so sein, weil der Text mich als Leser in mein Inneres leitet, das braucht Zeit. Das muss ich langsam entdecken. Als Spiegel funktioniert er gut, finde ich. Gefällt mir wirklich.

Griasle
Morphin

 
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Moin Carlo,

ein sauguter Text. „Die Welt als Supermarkt“, den Titel einer Essaysammlung von Houellebecq hatte ich die ganze Zeit im Kopf. Der Text ist tatsächlich sehr houellebecqeske. Ein beliebtes Thema von ihm ist ja der Urlaub an sich. Zeig mir, wie du deinen Urlaub verbringst, und ich sage dir, wer du bist. In dem Sinne „entlarvt“ H. unsere westliche Zivilisation anhand ihrer Urlaubsreisen. Klingt fürchterlich technisch und trocken, wie ich das jetzt zusammenfasse, tatsächlich geht es viel um Analsex und Dreier auf Lanzarote :D
Zurück zu deinem Text. Dein Text geht einen ähnlichen Weg, sogar mit dem gleichen Stilmittel des Humors. Ich finde, du zeichnest sehr authentisch ein gewisses deutsches Klientel des Jahres 2023. Der Urlaub ist nur eine weitere Fortführung der Leistungskraft, dort muss geleistet werden, die besten Fotos, die besten Reisen. Natürlich möchte man sich vom Assi abheben und fliegt nicht nach Mallorca, auch nicht nach Südostasien, das ist ja sowas von 2013, sondern nach Island. Aber dort ist es, dank Globalisierung, eigentlich fast genauso wie Zuhause, stellt dein Prot fest. Einzig die Landschaft, die Natur, ist anders. Sie rollen durch Island wie auf einer Rolltreppe, es zählen nur die besten Fotos, das Andere oder: der Außenblick. Deine Prots sind sehr vom Außen gesteuert, oder wie Heidegger sagen würde: vom „Man“. Das ist wahnsinnig gut, treffend und urkomisch, aber nie zu ulkig oder slapstickmäßig von dir ungesetzt. Props an dieser Stelle dafür. Ich glaube, so einen witzigen und bitterbösen Text noch nicht von dir gelesen zu haben, aber das hast du echt drauf und gefällt mir außerordentlich gut.
Ich musste lachen, als für ihn das Einzige, was auf dieser Reise eine Freude in ihm anregt, das Schwein auf der Einkaufstüte auslöst. Das ist sehr treffend und authentisch. Einerseits wollen sich die beiden ja der Masse abheben, andererseits findet man aber, wenn man ehrlich und alleine für sich ist, richtig stumpfe Trivialitäten am unterhaltsamsten - nicht die Landschaft, die Mystik, Geschichte oder sonst etwas Geistiges oder Intellektuelles Islands, sondern ein Schwein auf einer Einkaufstüte. Herrlich. Auch sieht man daran, wo die Aufmerksamkeitsspanne deines Prots liegt: auf Konsumgütern jeder Art, nicht auf das, was sie vorgeben, auf Island zu suchen.
Also wirklich sehr gut. Auch das Erzählerische, das Show und wie du es umsetzt ist hier super. Ich war dabei in Island.
Nur mit dem Ende bin ich etwas unzufrieden. Frage dich noch mal, was du hier eigentlich erzählen möchtest, was deine Prämisse ist. Ich finde, du erzählst hier von absolut konsumistischen Menschen (nicht böse gemeint), die etwas echt Wildes erleben möchten, aber doch nur wieder im nächste Freilichtsupermarkt landen. Gewissermaßen sind diese Leute verflucht, denn sie kommen nicht aus ihrem selbstgebauten Plastikkäfig heraus, äußerlich wie auch innerlich: Überall geht man nur für die Fotos hin, tut etwas im Prinzip für andere. Also, ich bin ja zu gewissen Anteilen auch so, ich will mich da gar nicht drüber erheben, das ist eine Crux unserer Zeit und Generation, der Fluch des Internets, der Smartphones und des Kapitalismusses (grob gesagt).
So baust du deine Prämisse auf über lange Strecke deiner Erzählung, und ich finde das top, da würde ich nichts ändern. Dann kommt der Vulkan. Das ist geil aufgebaut, es ist auch spannend, weil man nicht weiß, was jetzt kommt. Der Gang und das Sichten des Vulkans: Jetzt muss alles aufgehen, die Prämisse muss aussagen, was du aussagen möchtest, weißt du, wie ich meine? Was du aussagen möchtest mit de letzten Szenen, im Subtext, ist mir nicht eindeutig klar, nicht intellektuell beim Lesen, aber auch nicht vom Bauchgefühl her. Was macht der Anblick der rohen, gewaltigen Natur mit deinen Prots? Hier muss eine Veränderung oder eine Entlarvung der beiden Prots passieren, entweder die beiden für sich oder wir über sie. So sehe ich das zumindest! Bekommt dein Prot Angst? Merkt er plötzlich, wtf, ich bin wirklich HIER, ich spüre das Leben? Du zeigst eher widersprüchliches, einerseits will er keine Fotos mehr machen bzw es beginnt, ihm unwichtig zu werden, andererseits will er dann das PERFEKTE Foto ganz nah am Vulkan machen. Wie gesagt, das Ende ist im Subtext zu unklar, diese Passage, da müsstest du dir klarer werden bzw klarer rüberbringen in der Story, was der Anblick des Vulkans mit ihm macht.
Eine Idee: Hanna will, nachdem sie eig nicht mit zum Vulkan wollte, ganz nach vorne. Obwohl er die ganze Zeit DACHTE, dass er wollte, bekommt er plötzlich die pure Panik beim Anblick dieser Höllenpforte. Er sträubt sich, aber sie geht durch den Dunst nach vorne. Er merkt, dass er eig das Abenteuer bzw die Natur, die er sehen wollte, gar nicht sehen bzw begegnen will, und lieber wieder in der Zivilisation sicher und irgendwie in einer Matrix leben möchte. Also alles im Subtext der Prämisse kommuniziert. Shit aber du kannst es bestimmt besser und weisst etwas. Besseres, haha. Nur meine Idee gerade, du siehst, du hast mich mit der Story inspiriert.

Ja, steiles Teil, sehr spannend, authentisch und bitterböse-komisch. Musste an dieses Foto vom Mount Everest denken, wo man sieht, dass beim Gipfel eine ewig lang Schlange zum Anstehen existiert mittlerweile, um für ein Foto zu posieren. Das alles und die von dir beschriebenen Phänomene sind wirklich eigenartige, aber deswegen extrem spannende kulturelle Phänomene unserer Zeit, in der wir uns bewegen. In 2000 Jahren wird man erstaunt darüber sein und das zu verstehen versuchen. Ach ja, falls diverse autobiografische Überschneidungen mit deinen Prots existiert, wollte ich noch anmerken, dass ich sie sehr sympathisch fand und ich wollte jetzt nicht böse über sie urteilen, aber du stellst die schon ein wenig bitterböse und konsumkritisch dar! :D

Beste Grüße!
zigga

 
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Hey @jimmysalaryman ,

danke für deinen Kommentar, der mir den Text ein Stück weit wiederhergestellt hat. Ich merke hier schon, wie stark ich auf die Rückmeldung zu meinen Texten reagiere, geht wahrscheinlich den meisten Schreibenden so. Letztlich hab ich ja ein sehr gutes Gefühl mit dem Text gehabt, jetzt hab ich den Eindruck, das besser ausloten zu können. Danke auch für die vielen guten Anmerkungen und Analysen.

Ja, diese guten alten Dusters. Ich fahre einen von 2015, da geht immer die Warnblinkanlage sporadisch an, da warte ich jetzt seit zwei Monaten auf ein Ersatzteil.

Witzig. Ja, ich kenne den schon als so einen rubusten Allrounder, der sich ja auch immer noch großer Beliebtheit erfreut. Das mit der Warnblinkanlage ist aber natürlich Mist

„Mmh“, sage ich.
„Nicht interessant?“
„Doch, doch. Ziemlich“, lüge ich.
Hier würde ich kürzen. Wird klar.

ja, ist rausgenommen. Ich habe immer etwas Angst beim Redebegleitsatz. Finde es selbst nicht gut, wenn ich nicht weiß, wer gerade spricht. Aber hier müsste es wirklich auch ohne klar sein.

Dieser Text ist, wenn ich das mal annehmen darf, sehr ehrlich
du kennst solche Menschen

ja, auf jeden Fall. Da ist viel Autofiktion dabei. Ich kann vor allem auch sagen, dass ich nicht selten ebenso bin oder zumindest sein kann. Ich sehe das aber nur als eine 'Schicht' unter vielen. Das könnte man sicher von einigen Menschen behaupten. Nur dass diese Schicht/Ebene dann unterschiedlich stark ausgeprägt ist bzw. zu Tage tritt. In dieser Story liegt da aber der Zeigefinger drauf – und ein Trick ist natürlich auch, dass die übrigen Schichten eher ausgeblendet sind. Ich denke, wenn man gewisse 'Schichten' bei Menschen extrahiert, werden schneller Arschlöcher aus ihnen, als man denkt :D

für mich (!) ist das der moderne, vollkommen entwurzelte, weit gereiste Endzwanziger, studiert, aus gutem Elternhaus, mit Werten und bestimmten Ideen, der viel weiß und noch mehr Wissen ansammeln will, für den aber alles irgendwie ironisch ist, der auch nie wirklich begeisterungsfähig, nie wirklich leidenschaftlich ist, der nie im Moment leben kann und sich selbst durch Fotos vergewissern muss, dass er sich in irgendeiner Wirklichkeit befindet. Ständig muss man jeglichem Konflikt aus dem Weg gehen, man muss auch Verständnis haben, alles wird abgehakt auf einer imaginären Liste ... ich mir schlecht vorstellen, dass diese Leute echte Träume haben, weil sie selbst nicht so genau zu wissen scheinen, wer sie sind.
Auf mich wirken die beiden hier ausgelaugt und gelangweilt. Nichts kann sie anfassen. Alles erscheint wie ein großer Witz, nicht wirklich essentiell, nicht wirklich wichtig, naja, hat man gesehen, done that, seen this. Was erzählt wird, ob sie auch schwanger ist oder nicht, das spielt eigentlich keine Rolle.

finde das eine ziemlich gute Analyse, die ich mir schon einige Male durchgelesen habe und noch öfter durchlesen werde. Jeder hat da ja auch so seine eigenen Worte dafür. Dieses 'Leere', 'Nicht begeisterungsfähige' ist für mich sehr interessant. Aber auch diese Ambivalenz. Dass dieses Verhalten eben gerade m. M. n. nicht bedeutet, dass man zunehmend lebensunfähig oder tatsächlich ein Arschloch oder dergleichen ist. Auch, dass man einerseits so wohlwollend, liebend, verehrend und andererseits so verachtend und fremdschämend auf denselben Menschen blicken kann. Und nichts von beidem ist für sich genommen tatsächlich wahr oder falsch. Sondern einfach wirklich die Perspektive und das Vorhandensein von beidem.

in meinen Texten wimmelt es auch so von Arschlöchern, ich lese auch unfassbar gerne Texte, in denen man zusehen kann wie aus einem Arschloch ein Arschloch mit subtiler Tiefe wird

hahah, ja, da ist was dran. Sehr schön. Das nehme ich mir mit.

nein, in sich schlüssiger wäre, wenn er eben nicht noch näher rangeht. Das ist schon wieder fast zu viel man vs nature, dass da so eine Art Karthasis entstehen könnte, Gefahr!, Risiko!, nein, das sehe ich bei den beiden nicht, da siegt die Vernunft, das Gefühl, nie wirklich in Gefahr geraten zu können, nicht aus Unvorsichtigkeit, sondern weil man einfach immer von Sicherheit umgeben war.

Mein Gefühl sagt, wahrscheinlich hast du recht. Auch @zigga hat ja die Auflösung der Prämisse am Ende moniert. Ich werde da noch mal drüber nachdenken. Bei dir steckt ja schon ein konkretes Angebot drin. Mir fiel gleich dieser noch etwas unausgegorene Schluss ein.

Ich bleibe stehen. Hanna hat recht. Weiter sollte man nicht.

Aber wahrscheinlich muss man da eher noch mal gröber an die letzten Absätze ran(?)

Viele Grüße und noch einmal Danke!
Carlo

 
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Hallo Carlo Zwei!

Zuerst gratuliere ich dir zur Empfehlung.
Ich habe den Text in einem Rutsch gelesen und finde ihn thematisch interessant, zumal ich zwei verrückte Esoteriker kenne, die instantan Tickets nach Island gebucht haben, nachdem der aktuelle Ausbruch des Vulkans in die Nachrichten kam. Aber sie rennen auch sonst jeder Sensation hinterher, das Handy fest und sicher umklammert, stets schussbereit. Manche finden heutzutage ohne Smartphone nicht mal mehr aufs Klo.
Ich lese deinen Text als Satire auf den in Mode gekommenen Vulkan- und Katastrophentourismus ganz allgemein, der nur mit fotografischem Selfie-Nachweis als gelungen angesehen wird, ja, der oftmals wichtiger ist, als das eigentliche Geschehen.
Mir ist dein Text bloß etwas zu lang geraten, ich denke, du könntest ihn etwas eindampfen, besonders das erste Drittel, und somit dein literarisches Anliegen knapper und damit präziser auf den Punkt bringen. Auch wirkt er auf mich etwas (zu) dialoglastig. Aber das ist wohl eher Geschmacksache.
Sonst nörgle ich nicht lange herum. Das ist allemal eine gute Geschichte. Keine Frage.

LG, Manuela :)

 

Hallo nochmal @Carlo Zwei

Ich habe jetzt die Antworten der anderen und auch die eine von Dir gelesen und mir ist klarer geworden, wie der Text vielleicht intendiert war bzw. was Du damit sagen wolltest.

Ich finde, du zeichnest sehr authentisch ein gewisses deutsches Klientel des Jahres 2023.
Das ist wahrscheinlich mein (ganz persönliches) Problem, das ich mit dem Text habe. Leider handelt er von genau solch einer Type, die ich versuche zu meiden, wenn ich selbst on the road bin. Ich suche auf Reisen eher kulturelle Erfahrungen, mit den Locals flowen, nicht das Abklappern von Sehenswürdigkeiten. Deshalb hatte ich wohl von Anfang an eine Ablehnung gegenüber den Protas entwickelt. Wahrscheinlich habe ich deswegen auch überlesen, dass das mit einer ironischen Note gezeichnet ist, davon habe ich beim Lesen einfach nichts gespürt, weil ich schnell auf Durchzug geschaltet habe. Aber vielleicht sind ja auch meine Antennen verstimmt :D Es freut mich jedenfalls, dass andere den Text besser rezipiert haben und etwas, sogar sehr viel, damit anfangen konnten. Gratulation zur Empfehlung!

Viele Grüsse,
d-m

 

Hallo @FlicFlac ,

danke für deine Rückmeldung zum Text, deine Zeit und die vielen Anmerkungen und Feedbacks. Vor allem auch, was du am Ende geschrieben hast, hat so ein bisschen (positiv) an mir gerüttelt. Ja, ich lasse mich da manchmal etwas hinreißen. Hat mich auf jeden Fall gefreut, dass du drangeblieben bist, und dann sogar richtig eingestiegen. Finde es auch spannend, dass du 'Antibuddhisten' schreibst. Nun habe ich ein begrenztes Verständnis vom Buddhismus, aber ich weiß, dass sich alles um das Chakra dreht (im wahrsten Sinne). Und dieses 'Rad' will man nicht weiter in Bewegung halten, sondern durch Verzicht und Genügsamkeit zu einem Zustand des Nichtwollens, der Erleuchtung finden. Insofern kann ich die Charakterisierung sehr nachvollziehen und würde da auch mitgehen. Wenngleich ich nicht glaube, dass so ein buddhistischer Zustand, wie ich ihn verstehe, in letzter Instanz erstrebenswert ist.
Auch für mich interessant war deine Lesart auf die eingeschränkte Gefühlswelt der beiden. Weil das auch noch mal eine Möglichkeit ist, das Pferd aufzuzäumen. Für mich war es diese Übersättigung und Langweile und auch diese Selbstauflösung in der Oberflächlichkeit. Aber das bringt, diese Fühllosigkeit, die du beschreibst, ja irgendwie auch mit sich. Danke im Übrigen für die vielen Stellen, die du rausgeschrieben und analytisch kommentiert hast. Das habe ich einfach gerne nachvollzogen.

Zum Thema Kürzungen: gerade was den Anfang anbetrifft, habe ich mich da schon reingearbeitet und sehe auch ein paar Stellen am Anfang. Vor allem wirklich den Dialog um Waffeln und Kaffee. Letztlich ist es vom Umfang dann insgesamt aber auch nicht besonders viel. Es ist ja schon auch ein ausgeschmücktes Porträt – da will ich dann eine Stelle, wo zum x-ten Mal das Motiv fotografiert wird, eigentlich gar nicht rausnehmen, weil das ja gerade erst in der Menge dieses sinnbildhafte der Charakterisierung trägt.

Ich danke dir auf jeden Fall sehr für den tollen Kommentar und deinen Ansporn!
Viele Grüße
Carlo

–––––

Lieber @dotslash ,

auch an dich vielen Dank für die schöne Wortmeldung. Lange nichts mehr von dir gelesen, deswegen umso mehr. Kürzungen will ich auf jeden Fall noch vornehmen, sehe da vor allem auf den ersten ein, zwei Seiten Potenzial. Danke dir auf jeden Fall für den Hinweis.
Bei dem Ende, das du angesprochen hast, bin ich mir noch unsicher. Ich denke, ich muss es auf jeden Fall noch eindeutiger in eine der beiden Richtungen gestalten. Für eine Erzählung wäre es wahrscheinlich sinnvoller, ihn das Risiko nicht eingehen zu lassen. Für eine Fortsetzung würde ich es wahrscheinlich so machen, wie du vorschlägst. Danke an der Stelle auf jeden Fall für die Rückkopplung.

Beste Grüße
Carlo

 
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Hey @Carlo Zwei

Allein heute habe ich über zweihundert Fotos geschossen. Manchmal frage ich mich, was eigentlich damit passieren soll, wer sie sich ansehen wird, was von alledem bleibt. Eine Antwort habe ich nicht.
Einer der wenigen expliziten Blicke unter die Oberfläche. Ich fand das spannend, weil meine erste Reaktion war, den zweiten Satz für überflüssig und zu explizit zu halten (den dritten würde ich aber tatsächlich steichen wollen). Der Gedanke dahinter ist ja Gemeinplatz und im Kopf der Leser bereits vorhanden. Wichtig ist aber, ob der Gedanke auch im Kopf des Prota Platz findet. Und da ist es so, als würde er ganz kurz mal in den Spiegel schauen und den Blick gleich wieder abwenden. Daher halte ich den Satz für wichtig und nachdem ich darüber nachgedacht habe, würde ich mir sogar mehr davon wünschen. So ein leichtes Ruckeln, ein Flirren, das Bild wird für einen Augenblick unscharf (also eigentlich scharf), und danach verliert sich der Prota wieder in Ausschweifungen darüber, was wie schmeckt und wie viel es kostet.

Ich finde den Text gut, er stellt mich aber nicht so recht zufrieden. Du hast Straffungen und Kürzungen ins Auge gefasst. Ich schlage einen anderen Weg vor.
Das Lebensgefühl der beiden Protas, wenn man es mal so nennen will, hast du mittels einiger wiederkehrenden Elemente erfasst, spontan fallen mir ein: Die exakten Zeitangaben, die Preise, die Fotos, die Apps, die Vergleiche mit der virtuellen Realität (Computerspiele), die Aufzählung aller Essenszutaten und wie sie schmecken (das scheint dem Prota genau so erzählenswert zu sein wie alles andere). Der Versuch, eigene Einfälle im Notizheft festzuhalten. Das Bonus-Schwein als Verheissung von Glück und kindlichem Wohlbefinden. Bestimmt habe ich noch einiges vergessen und insgesamt verknüpfen sich diese Elemente zu einem gelungenen und vielschichtigen Porträt des Protas, ja einer ganzen Generation, was meines Erachtens erklärt, weshalb der Text so gut - Friedel hält den Atem an - funktioniert. Diese Elemente wiederholen sich, zuweilen werden sie beinahe exzessiv eingesetzt. Ich verstehe, wenn man da ein wenig kürzen möchte, das müsste man im Detail anschauen. Ich denke aber auch, dass die Wiederholungen wichtig sind, den Überdruss erlebbar machen. Wenn man das wegkürzt, verliert man vielleicht auch den Effekt.

Insgesamt hat mich der Text dann aber nicht so richtig erreicht. Ich glaube zu verstehen, was du da zeichnest und du zeichnest es gut, aber für mich stellt das - bitte entschuldige, das klingt viel negativer als es gemeint ist - eher eine Grundierung dar. Diese Grundierung ist zwar an sich durchaus vielschichtig, wie oben angemerkt, aber insgesamt erscheint sie mir doch zu einförmig, sich wiederholend, auf einer Ebene bleibend. Ich hätte mir mehr Blubbern im Text gewünscht, mehr dieser Spiegel-Momente, vielleicht mehr Uneindeutigkeit und Ambivalenz, die beiden Figuren werden in meinen Augen fast zu klar festgenagelt. Gerne hätte ich mehr als ein gelegentliches Mikroknirschen in der Beziehung zwischen den beiden wahrgenommen. Also vielleicht doch mal ein echter Konflikt, vielleicht auch mal, dass der Prota - so wie den Sinn und Zweck seiner Fotos - seine Beziehung in Frage stellt - um dann von mir aus wieder zurückzuweichen, wenn der Abgrund sichtbar wird oder die Leere. Ich denke vor allem, dass man über den Text durchaus noch eine Schicht Handlung legen könnte. Momentan besteht die Handlung aus einer Abfolge von Sie-tun-das-und-essen-dies-und-steigen-in-den Bus-und-tun-jenes-und-dieses. Ich fand das auf die Dauer doch ermüdend und ich habe es nicht geschafft, den Text in einem Stück zu lesen. Statt zu kürzen würde ich die Geschichte aber wie gesagt eher anreichern. Das hier fand ich zum Beispiel spannend:

Erst als der Bus abgefahren ist, fällt mir auf, dass die Schleswig-Holsteinerin fehlt.
„Sie wollte nicht mit?“, frage ich.
„Wegen des Kindes.“
Ich nicke, finde es insgeheim schade. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht die Müdigkeit.
Das sagt er auf einmal, nachdem er weiss, dass die Frau schwanger ist, ich fand das gut gemacht. Aber das könnte ja auch der Ausgangspunkt für eine Handlung seitens des Prota sein: Er sucht nun die Nähe dieser Frau, stellt auf einmal Dinge in Frage. Ich will das Entweder-Oder von figurenbetontem und plotbetontem Erzählen nicht einseitig auflösen, sondern fordere den Spagat! Also wieder einmal die eierlegende Wollmilchsau, von der ich fast immer fantasiere, wenn ich deine Texte kommentiere, sorry. Nebst Eiern also auch Wolle. Fehlt noch die Milch und das wäre für mich so etwas wie sprachliche Brillianz. Der Text ist sehr gut geschrieben. Aber es gibt da in meinen Augen keinen Satz, den man mehrfach liest und bei dem man sich ärgert, weil er einem selbst nicht eingefallen ist. Ist natürlich ein heikler Punkt, weil die Sprache ja zum Prota passen muss.

So viel mal fürs Erste, ich weiss nicht, ob ich mich verständlich gemacht habe. Dass das alles Kritik auf hohem Niveau ist, versteht sich von selbst.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Katta ,

danke fürs vorbeischauen, lesen und kommentieren :-) habe mich über deinen Besuch gefreut. Gute Anregungen für mich dabei.

aber dieser hier schließt ja recht nahtlos an den an, oder?

ja, das habe ich nicht direkt so geplant. Bis auf das mit der Übersättigung. Das habe ich tatsächlich im Anschluss an die Besprechung des (Wunden-)Textes aufgegriffen und mich da scheinbar mit auseinandergesetzt. Interessant, dass du es so siehst. Ist auf jeden Fall was dran, finde ich.

Dann gabs noch mal zwei Stellen, da hab ich geschaut, wie lang ist der denn noch, da wurds mir dann wieder etwas zäh, aber an den meisten Stellen hab ich das gut lesen können.

Ja, ich glaube, das ist bei dem Text einfach wirklich so. @Peeperkorn hat das ja gerade auch noch mal aufgegriffen. Ich habe ein paar so im weitesten Sinne satirische Texte (z. B. auch dieser "Der Weitermacher"), die solche Längen und flautigen Entwicklungen haben, aber von diesen Seitenhieben und übrigen Spitzen leben wollen. Vielleicht ist da auch einfach etwas in meiner Planung kaputt, dass ich das dahingehend eher kontrastarm halte. Vielleicht aber auch, um es zu verteidigen, so eine Art weirde Ästhetik. Ich will mich dem dennoch annehmen; spiele gerade mit dem Gedanken, das als Romananfang zu nutzen, bei dem die Figuren nach diesem Vulkanausbruch dann mit echter Gefahr durch einen weiter unkontrollierten Ausbruch konfrontiert sind und diesen Modus oberflächlichen Herumdümpelns hinterfragen müssen. Also, ich bleib dran.

einfach vom Thema her gut, modern vielleicht?, also auf jeden Fall in unsere Zeit gehörend, die fangen etwas ein, auch ein Millieu vielleicht.

freut mich, wenn das so ankommt.

Dass ist im Grunde etwas, was mir ein bisschen gefehlt hat, also dass der auch mal irgendwann sympathisch wird
Ich persönlich bin einfach kein Fan davon, zB Langeweile durch einen langweiligen Text erlebbar zu machen, wenn du verstehst, was ich meine.

Ja, ich weiß, was du meinst. Sympathie macht es auf jeden Fall einfacher am Text zu bleiben. Andererseits denke ich auch, dass dieses in gewisser Weise Statische an den Figuren und der Erzählung zur 'Satire' bzw. dem Sinnbild gehört. Ohne dass ich es jetzt gerne plakativ haben will. Ist auch nur so ein Eindruck.

Danke dir fürs Vorbeischauen. War mir auch auch eine Freude, heute Vormittag zu sehen, was bei dir so vor sich geht. Bis ganz bald und gutes Schreiben dir!

Carlo

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Noch mal @Maeuser ,

danke, dass du noch mal vorbeigeschaut hast. Vielleicht kommt hier auch meine Verwunderung über deine letzte Bemerkung unter deiner Geschichte her :D denn ich konnte mir einiges aus deinem Kommentar für mich ziehen. Danke dafür.

Ich hab mich beim Lesen auch etwas fremdgeschämt

Ist es doof, wenn ich sage, dass mich das freut? Allerdings weiß ich natürlich nicht, ob es wirklich Verdienst des Textes ist oder einfach du als spezieller Leser. Freue mich deshalb darüber, weil es für mich ja kein Vorführen im Sinne von bloßstellen, sondern im Sinne von zeigen sein soll. Wenn das dann die Reaktion ist, passt das ja irgendwie auch.

Bret Easton Ellis
Ja, ok, die oberflächlichen Yuppies, ich hab's verstanden. Aber das geht halt so weiter und weiter und weiter.

spannend. Ich habe vor ein paar Jahren seinen frühen Text "unter Null" geschenkt bekommen. Eigentlich weiß ich total was du meinst. Es gibt ja auch einige bekannte Autoren, die diese Monotonie als Stilmittel verwenden. Ich mache das auch wirklich nicht immer und in jedem Text, aber manchmal auf jeden Fall. Und jetzt habe ich schon Lust, dem Buch noch mal eine Chance zu geben. Ich hatte es nämlich nach kurzem Reinlesen weggelegt :D Danke auf jeden Fall für den Querverweis.

Du sagst, die Natur ist so der Gegenpol. Für mich ist die eher Kulisse. Ein Gegenpol könnte für mich eher ein oder mehrere andere Menschen sein, die sich eben nicht so verhalten, und auf die könnten sie mehrmals treffen

Das finde ich auch sehr spannend. Das geht, denke ich, auch in die Richtung, was Peeperkorn zuletzt geschrieben hat. Ich habe gerade ein Exposé geschrieben, in dem ich die Erzählung in einen größeren Erzählzusammenhang einbette. Da sind es tatsächlich andere Menschen, die zum Gegenpol werden. Vielleicht hast du ja Zeit/Interesse das zu lesen, schreib mir gerne per PN, würde mich sehr über deine Meinung freuen. Falls nicht, gar kein Ding. Ich gebe dir aber recht. Es ist Kulisse. Und zugleich ist zum Beispiel der Vulkan ja auch ein Katalysator. Also beides irgendwie. Aber es stimmt, so allein Gegenpol ist das nicht.

Danke dir für die Anregungen.
Viele Grüße
Carlo

 

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