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Namenlos
„Guten Morgen Berlin, es ist 6:00 Uhr und draußen herrschen grausame – 2° Grad, also warm anziehen auf dem Weg zur Arbeit. Wir spielen für euch jetzt einen Sommerhit aus dem Jahr 1987….“ Ich öffne die Augen und schaue zu meinem Wecker, die roten, leuchtenden Ziffern verkünden, so wie der Moderator eben, dass es früh am Morgen ist. Seufzend erhebe ich mich aus dem gemütlich warmen Bett. Mein Blick wandert zum Fenster, es ist dunkel draußen und im Schein der Straßenlaterne kann ich den Nieselregen sehen, der seit Wochen nicht mehr aufhören will. Mit läuft ein Schauer über den Rücken, ich bilde mir ein nur vom Anblick des Wetters die Kälte spüren zu können. Nun spielt sich eine Reihenfolge ab, die sich seit einem Jahr kein einziges Mal geändert hat. Seit ich in meine kleine Wohnung gezogen bin, habe ich gewisse Rituale entwickelt. Mein erster Weg führt aus dem Schlafzimmer in die Küche, dort schalte ich die Kaffeemaschine ein. Danach gehe ich ins Bad, drücke den Schalter am Boiler und hoffe, dass er funktioniert. Jetzt wieder zurück in die Küche, denn mittlerweile ist die Tasse gefüllt mit heißem, furchtbar schmeckendem Kaffee. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal am Kaffee sparen müsste, aber nun gut, weiter geht die morgendliche Tour durch die Wohnung. Mit der Tasse gehe ich ins Wohnzimmer, schalte einen beliebigen Musiksender ein, trinke das schwarze Gebräu und rauche eine Zigarette. Hier vergeude ich die meiste Zeit und so muss der Rest sehr schnell gehen: Duschen, anziehen, Make-up auflegen, Jacke, Handtasche und Schlüssel schnappen, raus aus der Wohnung, rein ins Auto und hoffen, nicht im Stau zu stehen.
Pünktlich um 8:00 Uhr schlittere ich dann durch die Eingangstür der Firma in der ich arbeite. Ich grüße ein paar bekannte Gesichter und bin froh, niemals einen Namen wissen zu müssen, wahrscheinlich kennen sie meinen auch nicht. Ich bin in meinem Büro. Geschafft. Der Tag kann beginnen. Nun folgen Termine mit wirklich seltsamen Kunden, Mitarbeitergespräche, einen Berg von Akten, Kollegen die aussehen als erleiden sie gleich einen Herzinfarkt vor lauter Arbeit, Kollegen die aussehen als würden sie hier Urlaub machen und dafür auch noch Geld kriegen und… Ja, da wäre noch ich. Nicht das ich sagen möchte das ich etwas besonderes bin, im Gegenteil, aber ich erkenne jeden Tag mehr das ich einfach nicht hier her gehöre. Ein Außenstehender würde wahrscheinlich denken das ich mich verlaufen hätte, das ich nur zufällig in der Gegend war und eine Toilette aufsuchen muss und weiß Gott, was andere alles vermuten könnten, aber sicher nicht das ich hier arbeite. Ich verbringe den ganzen Tag in meinem Büro. Ich renne nicht durch den Flur, schreie nicht durch die Gänge wenn irgendeine Sekretärin „dringend“ gebraucht wird, aber ebenso wenig stehe ich mit Kollegen zusammen, trinke Kaffee und plaudere. Letztere Mitarbeiter sehen aus wie Models, manchmal frage ich mich, ob die Firma sie nur dafür bezahlt hier herum zu stehen. Vielleicht damit der Betrieb attraktiver wirkt? Wie auch immer, ich bin eher ein graues Mäuschen, das einzige das mir an mir selbst gefällt sind meine langen blonden Haare. Ich bin froh wenn ich nicht gesehen werde, sollte ich denn mal mein Büro verlassen. Ich habe keine einzige private Telefonnummer von einem der Angestellten, ich esse in der Mittagspause alleine und werde nur besucht wenn jemand Arbeit los werden möchte, dann wissen sie wo mein Büro ist. Ob überhaupt jemand mal das Namensschild an der Tür bemerkt hat? Schließlich heißt es immer nur: „Machen Sie mal!“ „Wenn es keine Umstände macht könnten Sie vielleicht…“ Noch nie kam jemand mit einem Kaffee herein und hat gefragt: „Na wie war dein Abend gestern?“ Aber wieso beschwere ich mich? Ich will es ja gar nicht anders. Zum Glück vergeht die Zeit wie im Flug, schon ist es 17 Uhr, ich packe meine sieben Sachen zusammen und verlasse das Büro auf dem schnellsten Weg. Ich bin gnadenlos unterbezahlt und so verrichte ich auch immer nur das Nötigste. Engagement wird hier sowieso nicht registriert. Ein paar Kollegen stehen in der Tiefgarage und planen was sie heute Abend noch zusammen unternehmen, andere werde noch viele Stunden am arbeiten sein und wieder gehöre ich zu keiner der beiden Gruppen. Ungesehen gehe ich an allen vorbei, steige in mein Auto und fahre nach Hause. Es ist besser so, sage ich mir immer wieder.
Zuhause angekommen verläuft der Abend wie immer. Ich esse, schalte den Fernseher ein und trinke ein Glas Rotwein. Doch schon bald schweifen meine Gedanken ab.
Ich sehe Christian vor mir, es war mein verlobter. Er war ein großer Mann, dunkle Haare und ebenso dunkle Augen. Er war intelligent, witzig, romantisch, verständnisvoll er war meine Große Liebe. Er starb zwei Wochen vor unserer Hochzeit bei einem Autounfall. Ohne dass ich es will, fließen Tränen über meine Wangen, mein ganzer Körper scheint zu beben. Meine Seele schmerzt, es tut einfach so weh, ich will wieder bei ihm sein, die Sehnsucht zerreißt mich innerlich und ich kann nichts dagegen tun. Ich habe alle Kontakte zu unseren Freunden abgebrochen, nur mit meiner Familie telefoniere ich noch täglich. Aber selbst die können mich nicht von meiner Trauer ablenken. Manchmal denke ich, dass ich mit ihm gestorben bin. Ich bin nur noch eine Hülle, die darauf wartet endlich von dieser Welt gehen zu dürfen. Niemand in dieser Stadt kennt mich, sie wissen nicht wie ich heiße, wer ich bin. Meine Freunde wussten es. Ich trinke noch mehr Wein, wie jeden Abend. Damit versuche ich den Schmerz zu betäuben…mich zu betäuben. Ich schließe für einen Moment die Augen, es muss weiter gehen, dass ist mir bewusst. Ich blicke auf und sehe das die Serie vorbei ist, doch zum Glück lässt einen der Fernseher nie allein, auf jedem Programm findet man immer etwas sinnloses das man sich ansehen kann.
Ich schaue zur Wand, hinter der die andere Wohnung auf meiner Etage liegt. Es ist Freitag, meine Nachbarn haben besuch. Dem Lärm nach zu urteilen sind es mindestens zehn Leute die dort drüben lachen und sich unterhalten. Natürlich war ich nicht eingeladen worden. Warum auch? Ich bezweifle das sie wissen wie ich aussehe oder meinen Namen kennen. Wenn ich genau darüber nachdenke habe ich eigentlich auch keine Ahnung wie das Paar aussieht das dort wohnt. Ich stelle mir die beiden nett vor, vielleicht ist sie blond und zierlich und er ist dunkelhaarig und groß. Sie haben wundervolle Freunde und demnächst werden sie bestimmt heiraten. Ich freue mich für sie.